Sonntag, 30. Gozran 4717 - 12:58 Uhr - The Ash House
Razelagos Pose blieb zurücklehnt und es schien einen Moment so, als würde sich seine Aufmerksamkeit anderen, fernen Problemen zuwenden und nicht mehr den Personen in seiner Umgebung. Deswegen erschien es fast überraschend, als die Stimme wieder ertönte, ohne dass die Silhouette sich einige Zeit bewegt hatte.
"Ich glaube, dass sie es ist: ein Mitglied dieser Reklamation, von der wir noch zu wenig wissen. Aber ich habe mitnichten mehr als mein Bauchgefühl bisher. Einer der Gründe, warum ihr genau zuhören möget. Es würde zumindest zu dem passen, was ich persönlich über Tileavia Allamar weiß. Sie ist das fünfte Schwert und entsprechend gehört sie nicht irgendeinem obskuren Zirkel zu. Sie gleichwohl nicht mehr als ein Bauer in diesem großen Spiel, auch wenn sie sich eine Priesterin schimpft. Die Sache ist jedoch auch die: sie ist wie viele eine Veteranin des Krieges und als solche hier anerkannt. Sie hat erwachsene Zwillinge, die ihr überallhin folgen und auch der angeblichen Erbin[1] folgen. Auch sie sind wohl Pfaffen. Ansonsten ist Tileavia eher unauffällig gewesen, inzwischen verwurzelt mit dieser Gemeinde. Vielleicht ist diese Veranstaltung eine Chance für sie, sich noch einmal von Bedeutung zu wähnen. Aber wie fast alle Krieger dieser Stadt, ist sie nicht grundlos zu unterschätzen."Razelagos zweite Stimme summte derweil, während seine physische Stimme sprach und beschied schließlich.
"Aber euer Blick vor Ort wird euch besser vorbereiten als mein Geschwafel. Also fort mit euch."Wieder war es Gaurig, die mit schnellen, kräftigen Schritten und verhaltenem, wenn auch deutlichem Fauchen den Weg vorgab und alle zur Eile antrieb.
Sonntag, 30. Gozran 4717 - 14:54 Uhr - The Market Square
Der gusseiserne und polierte, mannshohe Zaun, der die mit weißem Stein gebaute und mit blaugrauem Schiefer bedeckte Kirche umgab, schenkte der Kirche ein ungewöhnliches Äußeres. Während ansonsten kaum Zäune in Longacre zu bestaunen waren, war dieser Zaun so hoch, als würde er die stählerne Hand Cheliax draußen halten wollen und die Kirche selbst vor dem bösen Äußeren abschirmen wollen. Auf dem ausgetretenen, leicht matschigen Untergrund vor dem Zaunportal hatten sich einige Bewohner und Bürger Longacres versammelt. In den Gesichtern waren Narben zu sehen, manche körperlich, andere seelisch. Der dunkel behangene Himmel spiegelte ihren Gram wieder. So ruhig Longacre wirkte, so belastet und niedergedrückt wirkten seine Bewohner. Bis auf die jungen Bewohner zeigte jeder Spuren vergangenen Ungemachs, ob er wollte oder nicht. Und vielen dieser Besucher war anzumerken, dass sie in Iomedaes Kirche im Allgemeinen einen Ort der Hoffnung sahen. Hier in Longacre waren sie vergessen. Selbst vom Baron fühlten sie sich ignoriert, wenn es nicht gerade um Steuern ging. Sie würden jedes Wort wie ein Schwamm aufsaugen, und sei es nur, um für einen Moment die Tristesse zu vertreiben.
Dennoch war die Strahlkraft Iomedaes nicht so groß, dass sich ein Großteil der fast 1600 Einwohner dieses Ortes versammelt hätten. Mehrere Grüppchen von Alten und Arbeitern hatten sich versammelt, vielleicht waren es 50 bis 70 Zuhörer, gleichwohl genug, ein Pulverfass zu entzünden. Auffällig war, dass es allesamt Menschen waren.
Vor dem Portal stand ein einsamer Tisch, um den sich mehrere Neugierige sammelten. Er war leer, doch allein seine Anwesenheit erregte Aufmerksamkeit. Einzig eine strahlend weiße Tischdecke säumte ihn.
Cimri schaute sich nervös um und zeigte auf die den Platz umgebenden Häuser. Überall waren kleinere und größere Läden. Sie waren nicht geschlossen, doch aus den über den Läden befindlichen Stockwerken schauten hinter Vorhängen und Gardinen neugierige Augen hervor. Im Schatten der Läden standen ebenfalls die Neugierigen. Und dann erkannte Cimri, dass sie auch abseits der Neugierigen nicht alleine waren.
"Ich sehe ihre Hilfsschulzen, sie wird nicht fern sein.", verwies Cimri auf ihre Tante. Sie zeigte auf zwei in Lederrüstung gekleidete Männer, welche das Zeichen von Cheliax am Revers trugen; einer postierte sich an einem steinernen Brunnen auf dem Platz, der andere im Osten an den Hauswänden.
"Ich sehe sie selbst nur noch nicht..."Langsam legte sich eine schwüle Spannung über die Menge, die dort wartete. Gebannt blickten sie auf die geschlossene Tür der Kirche. Hinter den hohen Bleiglasfenstern des stadtbild-prägenden, wuchtigen Gebäudes waren flackernde Lichter zu sehen. Irgendeine Vorbereitung fand dort statt...
...wie sie vielleicht auch die letzten zwei Stunden unter den neuen Dienern Thrunes stattgefunden hatte. Nachdem sie Razelagos ungewöhnlich ausgestatteten Lieblingsplatz für Treffen verlassen hatten, hatten sie sich die Situation vor Ort bereits angeschaut.
Besonders auffällig schienen die drei folgende Lokalitäten, als sie sich in und um den Marktplatz umschauten:
Gegenüber der Kirche befand sich ein verschlossener Laden, deren Tür verrammelt worden war. Die Fenster waren notdürftig mit Holzplanken zugenagelt worden. Three Bands Copper war auf einem verblichenen und rostigen Schild, welches einst den Laden zierte. Eines der vielen Opfer, die von der Steuerlast des Erzbarons erdrückt worden war. Doch Pikser fand schnell heraus, dass an der Seite eine Treppe in das zweite, ebenfalls verwaiste Geschoss führte und mit seiner Schlossknacker-Expertise könnte er den Weg freimachen zu einer guten Schützenposition.
Acillo Mhartis fiel der verwaiste Karren in der sogenannten Seward Street auf. Eine ältliche und abgemühte, geradezu hutzelige Dame hatte den Karren und den ihn ziehenden Esel dort geparkt. Die Straße war nur wenig besucht und die Dame war als eine der ersten direkt zum Platz der kommenden Predigt gegangen, ein heiliges Symbol der Iomedae küssend und dann umklammernd.
Acillo sah bald, dass auf dem Karren vier Holzfässer voller brennbaren Teers. Und obwohl die Holzfässer zu groß waren, um sie zu werfen, waren sie letztlich immer noch rund und brennbar.
Die kleine Gasse, welche die Seward Street vom Market Square trennte, lag dagegen zu dieser Tageszeit in tiefen Schatten und bot eine hervorragende Möglichkeit, wenn man sich vor der Menge verbergen wollte und gleichzeitig einen guten Zugriffspunkt haben, sollte man improvisieren wollen.
Zuletzt gab es noch einen öffentlichen Brunnen auf dem Platz, in dessen Nähe auch das Anschlagbrett stand, welches jedoch seit geraumer Zeit verwaist war und an dem nur fleckige, zerfledderte Zettel hingen, die der Regen dahingerafft hatte.
Das war die Situation, als die neuen Diener Razelagos oder Thrunes begannen, sich auf die Predigt der Kirche vorzubereiten
[2].