Archiv > Kagematsu: Was zurück bleibt

[Szene 8] Eine Fledermaus in einem Dorf ohne Vögel.

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Josei Kimiko:
All die neuen ungewohnten Erlebnisse und unerwarteten Erkenntnisse schwirrten in Chúseis Kopf, solange bis ihre Gedanken sich wieder ohne Ausweg im Kreis drehten. Der junge Krieger hatte ihr eröffnet, dass er allein und ohne Fürst ist, er hatte ihre Schwerter ohne Versprechen des Schutzes irgendwo hin mitgenommen und sie hatte sich seinem Stand und der Gefahr, die von ihm ausging, gegenüber völlig unangemessen verhalten. Das sie noch lebte war das einzige, was sie Positives sehen konnte. Weiterhin von ihren Ängsten und Sorgen getrieben verließ sie ihr Haus und wanderte ziellos umher. Es reichte aber nicht, sie abzulenken .

Dann entdeckte sie einige Kinder beim Samurai-Spielen und erinnerte sich zurück an die Zeit, als ihr Mann noch da war - Wie er und die anderen Männer trainiert hatten. Plötzlich wurde ihr klar, was sie zu tun hatte - sie würde diejenigen, die damals dabei und nicht mitgezogen waren zusammentrommeln und mit allen, die den Willen dafür haben, trainieren.

Einige Zeit später konnte man die Kraftrufe einiger Frauen, Alten und Jungen hören, die sich auf einer Weide neben dem Dorf versammelt hatten. Mit langen, geraden und beschwerten Stäben wiederholen sie gemeinsam im Gleichtakt die Bewegungen, die Chúsei und einige andere Geübtere vormachen. Es waren unverkennbar  Übungen, die Ashigaru für die Verwendung von Yari oder Naginata lernten. Ein paar wirklich alte Bauern beobachteten das Schauspiel und gaben mehr oder weniger hilfreiche Kommentare, Bei den Jungen war schwer zu unterscheiden, wer mit Ernst trainierte und wer nur nachmachte beziehungsweise -spielte.

Tsuyoshi:
Eine ganze Weile nach dem Gespräch mit Chúsei marschiert der Ronin erneut durchs Dorf. An seiner Seite prangt nun neben dem Wakizashi eine der meisterlichen Klingen, die er von der Schmiedewitwe erhalten hat. Seinem grimmigen Gesichtsausdruck ist anzusehen, dass er gereizt ist. Den Grund für diese Gereiztheit erkennt man allerdings nicht so leicht: Es ist der Ärger über sich selbst. Er hat aus seinem Ehrgefühl heraus sofort für sich beschlossen, dass die herrlichen Waffen einem guten Zweck zugeführt werden müssen, einem ehrenhaften, und nicht in die Hände von Banditen fallen dürfen. Doch er hat nicht im Entferntesten die Mittel, gleich mehrere solcher Klingen zu bezahlen – während seine Ehre ihn wiederum daran hindert, sie einfach so mitzunehmen. Zurückgeben kann er sie nach seinen Worten auch nicht mehr ohne einen Gesichtsverlust. Alles in allem eine Lage, in der er keinen rechten Ausweg mehr weiß.

In diesen düsteren Gedanken gefangen tritt er zwischen den letzten Hütten hervor und blickt dann auf das schmale Stück Weideland zwischen den Felsen des kargen Gebirgsbodens, das wohl allenfalls einigen sehr genügsamen Kleintieren ausreichen mag. Der Anblick der dort übenden Frauen, Greise und halben Kinder lässt ihn zurückprallen und ganz perplex schauen. Dann packt ihn mit einem Mal die Wut, und es flammt in seinen Augen auf. Raschen Schrittes marschiert er zu den Dörflern, reißt dem ersten besten die hölzerne Stange aus den Hände und herrscht den erschrockenen alten Mann an: "Was ist das?! Was soll das werden?!" Die stammelnde Entschuldigung des gebeugten Bauern wischt er mit einer Handbewegung beiseite, ohne sich um die betroffen schauenden "Krieger", hauptsächlich Dorffrauen, zu kümmern.

"So würde nur ein krummbeiniger Gebirgsaffe seine Lanze halten. Hier und hier fasst man zu" brüllt er, indem er den Stab packt und so blitzartig in Kampfstellung geht, dass der Stoff seiner Ärmel knallt. "So! Grundstellung! Zustoßen! Abwehr, Zurückweichen! Zustoßen!" Vor den Augen der versammelten Mannschaft exerziert der Samurai die grundlegenden Bewegungen durch, die ein Ashigaru braucht, um in einer Formation zu kämpfen. Dann drückt er dem völlig verdutzten Bauern das Holz wieder in die dürren Hände. "Nachmachen! Los!" kommandiert er laut. "Nicht so, du Tölpel! Du stößt ja deinem Nachbarn ein Auge aus! So – hier, und hier, und so! Noch mal!" Wie bei einem Rekruten packt Tsuyoshi die Unterarme des Alten und führt ihm die Waffe, bis der Bauer es begriffen hat. Dann wendet er sich an die anderen: "Wenn ihr schon kämpfen wollt, dann müsst ihr es richtig tun, sonst könnt ihr den Banditen auch gleich in die Klingen laufen!" Sein Blick wandert über die Reihen, als er sich ereifert.

Josei Kimiko:
Bevor Chúsei auf Tsuyoshi aufmerksam wird, redet sie gerade auf eine Gruppe jüngerer Frauen ein: "Ihr habt doch die Miko bereits mehrfach zur Jagd begleitet, geht zu ihr und überzeugt sie davon, euch weiter zu unterweisen - verstecken, schleichen, Herstellung von und Umgang mit den Jagdwafffen - ihr wisst schon, Fallen, Schleuder, geworfene Waffen, Bogen. Einiges habt ihr doch schon gelernt!" Erst ist sie etwas irritiert, als sie merkt, dass die Frauen ihr nicht mehr richtig zuhören, dannbeginnt der Tumult hinter ihr und eine vertraute junge, barsche Stimme kommandiert herum.
Sie scheucht die Frauen zu ihrer Aufgabe und wendet sich um, um das Geschehen zu beobachten. Zunächst kann sie den Anblick der Trainingsbewegungen genießen, dann faltet der junge Kriger seine Schüler weiter zusammen. "Bei der Nervosität werden wir nichts mehr hinbekommen, geschweige denn unser bißchen Mut behalten.", denkt sie, traut sich aber nicht, etwas zu sagen.
Als er endlich verstummt und durch die Reihen starrt, ergreift sie - den Stab untergehakt - das Wort: "Lasst uns dem ehrenwerten Herren für seine Hilfe und Einsatz danken! Denkt daran, was passieren würde, wenn wir nicht bereit sind! Dann verliert jedes Training seinen Schrecken!" Geschickt kommt sie sich nicht vor, aber sie ist nun mal eher eine Frau der Taten als der Worte. Entsprechend tritt sie demonstrativ vor die Gruppe und führt die Bewegungen energisch und kraftvoll durch.

Tsuyoshi:
Breitbeinig steht der Ronin vor den versammelten Bäuerinnen, jungen Burschen und Greisen und lässt seinen Blick über die Reihen schweifen – reichlich krumme Reihen, denen man in vielerlei Hinsicht ansieht, dass hier keine trainierten Kämpfer stehen. Seine Mundwinkel sind unwillig nach unten gezogen, doch er wird von dem Bild, das sich ihm bietet, offenbar nicht dazu bewegt, sich resignierend abzuwenden. Vielmehr lässt er Chúsei ihre kurze Ansprache halten, ehe er mit ausgestrecktem Finger auf sie zeigt und fordert: "So wie sie – nachmachen, alle!" Darauf beginnt für die Ungeübten eine harte Lektion, die ihnen schon bald den Schweiß auf die Stirnen treibt. Natürlich will niemand vor allen anderen zurückstehen, doch der Samurai lässt sie unerbittlich üben, nochmals üben und wieder üben, bis immer mehr Lungen sich durch lautes Keuchen und Pfeifen bemerkbar machen.

Ein alter Mann lässt sich mit einem Klagelaut zur Seite sinken. Sofort steht Tsuyoshi neben ihm und sieht auf ihn hinunter. "Erbarmen, Herr... ich bin ein alter Mann, ich kann nicht mehr..!" röchelt der Alte. "Glaubst du, die Banditen werden danach fragen, wenn sie vor euren Hütten stehen und deine Enkelin holen wollen?" Der stumme Blick des Greises sagt alles. Er lässt den Kopf hängen. Da greift der Ronin zu, zieht ihn wieder auf die Füße und drückt ihm den fallengelassenen Übungsspeer in die zittrigen Hände. "Du willst dein Dorf verteidigen?" fragt er. Der Alte blinzelt ihn an. Dann strafft er sich, so gut er kann, packt das Holz fester und bemüht sich um Haltung: "Das will ich, Herr!" Ein knappes Nicken Tsuyoshis, und er beginnt wieder die Reihen auf und ab zu marschieren, seinen Holzspeer wie einen Marschallstab unter die Achsel geklemmt. Bei jedem und jeder einzelnen korrigiert er Haltung und Bewegungen, bei Chúsei ebenso wie bei allen anderen.

Tsuyoshis Gesichtsausdruck ist undurchdringlich. Er konzentriert sich offenbar voll auf den Drill. Und für den Moment scheint es fast, als reiche die bloße Anwesenheit des Samurai aus, um alle anzuspornen: Sie leisten, was sie können.

Josei Kimiko:
Während die meisten mit verzweifelndem Ernst bei der Sache sind, wird es einigen fast noch kindlichen Jungen und Mädchen zu viel. Vereinzelt versuchen sie sich davon zu stehlen, doch mögliche Beschämung und Aufmerksamkeit der anderen bremst die meisten. Lieber klappen sie vorzeitig vor Erschöpfung um. Chúsei, die die Korrekturen und damit verbundene Nähe des jungen Ronin kaum registriert, ist aus ganz anderem Holz geschnitzt. Wie einer der älteren, mit Respekt behandelten Männer, kommt sie zwar ins Schwitzen, wiederholt die Bewegungen aber konzentriert und kraftvoll. Ihre Ausdauer scheint kaum zu erschöpfen, ihr Fokus schwer zu brechen. Das Letzteres eigentlich mehr mit ihrem Unwillen, sich von Angst beherrschen zu lassen, zusammenhängt, weiß außer ihr keiner.

Als es endliche iene Pause gibt und die meisten einfach an Ort und Stelle niedersinken, flüchten erst die Jüngsten und beginnt Chúsei mit anderen, Wasser zu holen und zu verteilen. Schließlich kommt sie bei Tsuyoshi an und bietet ihm ebenfalls die Kelle an, von der schon die anderen getrunken haben. Eigentlich ist er wesentlich weniger von Durst und Erschößfung betroffen, aber mit vorsichtiger Zurüclkhaltung (sprich: stumm) bietet sie ihm das Wasser trotzdem an. Unabhängig von seiner Entscheidung scöpft sie sich selbst den letzten Tropfen aus dem Eimer und bleibt zunächst neben dem jungen Krieger stehen, um ihre Atmung wieder in ruhige Bahnen zu lenken.

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