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[Szene 9] Narben, die das Leben schlägt

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Tsuyoshi:
Heiß brennt die Sonne auf das kleine Dorf in den Bergen nieder. Still und brütend lastet die Luft unten in den Tälern auf dem Land, während hier oben zwar gelegentlich ein Windhauch weht, die glühende Sonne aber Mensch und Tier in jedweden verfügbaren Schatten treibt. Auch Tsuyoshi eilt mit weiten Schritten voran, den Kopf unter einem breitkrempigen Hut aus Reisstroh, um den sengenden Strahlen des gleißenden Auges am Himmel zu entgehen. Sein Daisho an der Seite, marschiert der Ronin zielstrebig auf den bewaldeten Hang zu, in Richtung des Schreins. Weniger als einen Tag ist es nun her, dass der Späher der Banditen aufgetaucht ist, und doch konnte er die Nervosität, das Wispern und Tuscheln von Frauen und Alten im Dorf nicht mehr aushalten! Die Anspannung der Bauern liegt in der Luft.

Um die Ruhe des Geistes und das Gleichgewicht seiner Seele wiederzuerlangen, hat er beschlossen, den Ort aufzusuchen, an dem die Geister der Ahnen mit ihrer abgeklärten Weisheit regieren. Still nähert er sich dem Schrein, bleibt in einiger Entfernung stehen, um sich respektvoll zu verbeugen, und tritt erst dann direkt vor die Andachtsstätte. In ein stilles Gebet versenkt sammelt der Samurai Kraft. Schließlich klatscht er dreimal laut in die Hände, um erneut seinen Respekt zu bekunden. Dann lehnt er seine Klingen gegen einen großen Findling, streift nach kurzem Zögern das Obergewand ab und schlüpft mit den Armen aus dem Kimono. Den einfachen Stoff schiebt er bis zu seinem schmalen Gürtel nach unten.

So tritt er mit freiem Oberkörper aus dem Schatten zurück in die Sonne, lockert seine Muskeln und schiebt einen Fuß schräg vor den anderen. Die Ferse angehoben, steht er locker auf dem Fußballen und geht in den neko-ashi-dachi, die Katzenstellung. Winzige Schweißperlen glitzern bereits auf seiner nackten Haut, kaum dass er die ersten Bewegungen seiner Kata begonnen hat.

Miko Yumi:
Gerade als der junge Krieger das Dorf verließ, konnte er noch eine größere Gruppe besonders junger und alter Dorfbewohner sehen, die sich gerade verstreute. Sie waren wohl gerade vom Schrein heruntergekommen. Die Hitze verhinderte zu seinem Glück, dass ihm die Gruppe allzuviel Aufmerksamkeit schenkte.

Beim Schrein hat Tsuyoshi eine ganze Weile seine Ruhe. Außer seinen eigenen Bewegungen sind nur Insekten zu hören. Zunächst leise, noch unter der Schwelle der Aufmerksamkeit, dann immer lauter mischt sich Lärm in die meditative Szene: Knacken, Rascheln und Scharren. Schließlich bewegt sich das Gestrüpp aus der Richtung des Sees, an dem der Krieger und die Miko das Bogenschießen geübt hatten.

Zuerst schiebt sich ein großer Korb ins Sichtfeld, einer, wie er zum Transport auf dem Rücken geeignet ist. Allerdings ist er nicht mit Holz, sondern mit Pfeilen, Steinen, ein paar Speerschäften und Schlingen gefüllt. Am Korb vorbei werden die weiß-rote Kleidung und das schwarze Haar der jungen Miko Yumi sichtbar. Schließlich stolpert sie, immer noch rückwärst gehend, auf die Lichtung. Sie zieht mehrere Strohsäcke mit sich, die wohl als Ziele für Übungen mit den Fernwaffen herhalten mussten. Möglicherweise handelt es sich dabei eigentlich um ihre Schlafstätte.

Nach wenigen Schritten auf die Lichtung rutscht ihr Griff ab und sie setzt sich unfreiwillig ins Gras. Gerade so kann sie sich halten, nicht weiter zu fallen. Sie hebt ihren Arm und wischt sich etwas aus dem Gesicht, dann seufzt sie und macht Anstalten, aufzustehen. Als sie sich dabei ein wenig wendet, entdeckt sie ihren Besucher und screckt hoch. Schnell streift sie den Korb ab und steht auf, ihre Kleidung und Haare ordnend. Mit gerötetem Gesicht und unruhiger Atmung nimmt sie Haltung an und beobachtet ihren Besuch.

Tsuyoshi:
Der Auftritt der Miko lässt Tsuyoshi in seinen Übungen innehalten. Er macht sich im Gegensatz zu ihr erst gar nicht die Mühe, seinen Schweiß abzuwischen, der ihm in Strömen über die Haut läuft. "Das ist wohl etwas zu schwer für dich, Mädchen" meint er mit einem kurzen Lächeln, nickt anstelle eines Grußes, tritt zu ihr und greift nach dem Korb, um ihn weiter zu schleifen. Dabei wendet er ihr den Rücken zu, und ihr fällt eine lange Narbe auf, die sich schräg über das Schulterblatt bis zur Seite hinzieht. Eine ziemlich ungewöhnliche Stelle für einen Samurai, der einem Gegner dem Bushido gemäß niemals den Rücken zuwenden sollte... Jedenfalls ist die Wunde sichtlich älteren Datums, schon längere Zeit vernarbt. Der Ronin scheint sie auch gar nicht mehr zu spüren. Er bewegt sich so, dass ihr klar wird: Er denkt im Moment nicht im Geringsten daran. Vor dem Schrein angelangt, richtet er sich auf, lässt den Griff des Korbes los und mustert das Mädchen fragend.

Miko Yumi:
Als sich der junge Krieger der jüngeren Miko zuwendet, kann sie seinem Blick nicht standhalten. Sie beeilt sich, eine leichte Verbeugung zur Erwiderung des Nickens zu vollziehen. Dabei betobt sie: "V-Verzeiht, ich-ich wollte euch nicht stören! Hätte ich von eurem Kommen gewusst..." Dann hat Tsuyoshi auch schon den Korb gegriffen und beginnt, ihn weiterzutragen. Yumi hebt abwehrend die Hände: "Danke, aber das wäre doch garnicht notwendig. Ihr seid doch Gast!", spricht sie halblaut. Dabei schaut sie ihn direkt an, was die Röte in ihrem Gesicht nur verstärkt, sodass sie den Blick wieder abwendet.

Was sie auf seinem Rücken gesehen hat, lässt sie zögern. Erst nachdem er schon etwas Abstand gewonnen hat, hastet sie zu den Strohsäcken und schleift diese hinterher. Lautes und keuchendes Atmen kann sie dabei nicht vermeiden. Nachdem der junge Mann den Korb abgestellt hat und die junge Frau beim Aufholen beobachten kann, fällt ihm auf, dass sie noch immer unregelmäßig auftritt - die Verstauchung von der Jagd scheint noch immer ihren Tribut zu fordern. Dank der Anstrengung klebt die Kleidung an der Miko und verrät sowohl ihre zarte Statur als auch ihre Muskeln.

Im Gegensatz zu einer anderen Gelegenheit achtet Yumi darauf, nicht in Tsuyoshi hineinzustolpern. Sie stoppt, wendet sich herum und lächelt schüchtern. Seinen fragenden Blick beantwortet sie mit einem: "Danke, hinten...ist der Platz. Aber..." Und schon trägt der junge Krieger den Korb weiter um die Ecke herum. Auf der Rückseite des Schreins kann man tatsächlich eine niedrige Tür ausmachen, neben dem Raum mit der Rüstung konnte hier aber nur eine kleine Abstellkammer Platz haben. Vermutlich war weiterer Stauraum und ihre Schlafstätte direkt unter dem Dach. Gerade angekommen hört er ihre naive besorgte Stimme nicht weit hinter sich: "Ishida-san, schmerzt diese...Narbe nicht ganz fürchterlich?"

Tsuyoshi:
Stolz winkt der Ronin ab. "Es ist keine Belastung" schneidet er Yumis Einwände ab. Kurz wandert sein Blick über ihren Körper, ehe er sich wohl selbst zur Ordnung ruft und ihr zunickt. Mit einem unterdrückten Gähnen streckt er sich und lässt die Schultern kreisen. Mitten in der Bewegung hält er jedoch bei ihrer Frage inne und wendet sich ihr zu. Unwillkürlich zuckt die Hand über die Schulter zum Rücken, wobei er langsam den Kopf schüttelt. Dann, verwirrend genug, knurrt er: "Sie schmerzt. Aber nicht so, wie du meinst, Mädchen." Sein Blick wird düster und gleitet von ihr ab, zu den Bäumen hin. Seine Fingerspitzen tasten über die Haut, bis er die Narbe berührt. In Zeitlupe zieht er die Hand wieder zurück, ballt sie zur Faust. Die Miko kann sehen, wie er die Zähne zusammenbeißt, bis er mit einem tiefen Durchatmen den Blick senkt. Wortlos streift er den Kimono wieder über die Schultern und verbirgt damit die Narbe vor ihren Blicken. Dabei sieht er sie nicht direkt an. Er wirkt – finster? Bedrückt? Es ist schwer zu sagen...

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