Bevor Louis die Herren der Veranstaltung wieder zum Schwitzen brachte, indem er ihre Gemahlinnen und Töchter seinem montaignischen Charme aussetzte, nahm er zum Abschied noch etwas aus dem Augenwinkel wahr: Hatte der Hauptmann ihm da gerade zugezwinkert? Es schien Louis eine ungewöhnliche Geste zu sein, insbesondere in Hinblick auf ihren Standesunterschied, doch womöglich sah man die Dinge hier in den Eisenlanden etwas anders. Dennoch musste der Montaigner grübeln, ob eine amouröse Intention oder sonst etwas hinter dieser Sache stand.
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Jelena schien nun tatsächlich die Fassade ihrer Gesprächspartnerin geknackt zu haben, denn nun zog diese das Halbblut ein Stück abseits, um ungestört reden zu können.
"Ich kann nur dafür beten, dass es eurer Bekannten gut geht. Wenn sie seine Frau ist, sollte sie hoffentlich nichts zu befürchten haben. Ich sage Euch jetzt, was man über Fahrenbach erzählt, aber von mir habt Ihr es nicht gehört. Ein guter Teil seines Einflusses rührt daher, dass er ein gewisses Gewerbe in Freiburg kontrolliert - ihr wisst, wovon ich spreche. An sich ist das nichts Ehrenrühriges, versteht mich nicht falsch: Männer haben nun einmal andere Bedürfnisse als wir Frauen. Doch nach allem, was man hört, treibt Fahrenbach es etwas zu weit. Viele seiner Mädchen sollen unfreiwillig für ihn arbeiten, er holt sie aus aller Herren Länder, und lockt sie mit Versprechungen nach Freiburg oder lässt sie einfach mit Gewalt verschleppen. Hier zwingt er sie zu Dingen, die für einen echten Ehrenmann unaussprechlich wären; doch leider gibt es viele, die ihre perversen Fantasien ausleben möchten, auch in der angesehenen Gesellschaft. Fahrenbach lässt sie gut dafür bezahlen, aber noch schwerer wiegt, dass er so ein beträchtliches Erpressungspotenzial gegenüber eines nicht gerade kleinen Teils der Freiburgischen Gesellschaft ansammelt.
Auch wenn Niklas Träge zu wenig interessiert an allem ist, um etwas zu unternehmen - und wer weiß, womöglich gehört er selbst zu den Kunden? - Wilma Probst ist er schon lange ein Dorn im Auge, das weiß ich aus sicherer Quelle. Bisher hat sie sich allerdings noch nicht gewagt, irgendwelche Schritte zu unternehmen. Sie weiß, dass das das fragile Gefüge in Freiburg im schlimmsten Fall zum Einsturz bringen könnte."~~~
Mehr wollte die Frau nicht sagen, und so nahm der Abend langsam seinen Gang. Viele der Anwesenden versuchten, die Aufmerksamkeit der Ehrengäste zu erlangen, und so wurde es nicht langweilig für diese; je nach Vorliebe gaben sie sich den Gesprächen hin oder blieben lieber für sich und beobachteten das Treiben.
Auch am Tisch des Barons sah man ein ähnliches Spiel, denn zahlreiche Gäste versuchten, ein privates Gespräch mit dem jungen Mann zu führen, wobei die Wachen und verschiedene Diener hier dafür sorgten, dass nur ausgewählte zu ihm gelangen konnten - auch Friedrich war einer von ihnen, denn seinen Ehrengast wollte der junge Baron unbedingt sprechen.
Während Isolde nach einiger Zeit den Platz an der Tafel ihres Bruders verließ und sich unter die Menge mischte, wichen der Hauptmann und auch Abt Pius fast den gesamten Abend nicht von dessen Seite. Erst als die Feier schon sehr fortgeschritten war, sah Erich, wie der Kirchenmann aus der Halle eilte, und vermutete, dass das Bier schließlich seinen Weg gesucht haben mochte. Ein kurzer Blick zur Tafel auf der Empore offenbarte, dass gerade nur Handgrat an der Seite des Barons weilte - doch in diesem Moment geschah das Unfassbare!
Erich, der zufällig in die Richtung gesehen hatte, war einer der ersten, die Notiz davon nahmen, doch nach und nach bemerkten auch die anderen Gäste, wie Tristan von Naumburg sich an die Kehle griff und offenbar Schwierigkeiten hatte zu atmen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Peter Vesalius, der Arzt, der auch Louis' und Erichs Wunden verarztet hatte, beim rot anlaufenden Baron war, so dass Erich diesen zumindest in guten Händen wusste. Doch was immer den Baron befallen hatte, es schien keine Lappalie zu sein. Isolde war inzwischen ebenfalls zu ihm geeilt, während die Livrierten sich mühten, die übrigen Gäste, die es vor Neugierde und Sorge ebenfalls nach vorne drängte, von ihm fernzuhalten. Inzwischen war es schwierig, noch etwas zu erkennen, denn der Arzt hatte den Baron auf den Boden gelegt, und die Blicke Erichs und der anderen wurden durch eine dichte Menschenmenge abgehalten. Das Murmeln der Gäste war inzwischen ein besorgtes und fasziniertes Tosen, doch plötzlich erstarben sämtliche Gespräche, als Isolde verzweifelt aufschrie:
"TRISTAN!"Für kurze Zeit schaffte es Erich, einen Blick zu erhaschen auf Vesalius, der den Kopf schüttelte - offenbar hatte er den Baron nicht retten können. Immer noch lag eine entsetzte Stille über der Halle, und die Werwolfbezwinger fragten sich, wer wohl ein Interesse haben konnte, den jungen Mann zu töten. Doch mitten in diese Stille drang nun die Stimme von Isolde von Naumburg:
"Verehrte Gäste, mit großem Schmerz muss ich euch die schlimme Kunde mitteilen, dass euer geliebter Baron eben einem heimtückischen Giftattentat zum Opfer gefallen ist. Aber lasst mich euch noch im gleichen Atemzug versichern, dass diese Tat nicht ungesühnt bleiben wird. Mit seinen letzten Atemzügen hat Tristan mir mitgeteilt, wer ihn vergiftet hat - Hauptmann Handgrat ist mein Zeuge. Es sind Personen, die unter höchsten Ehren hier empfangen wurden, die sich unter falschem Vorwand hier eingeschlichen haben, um meinen Bruder zu töten und die Stabilität dieses schönen Landes zu sabotieren. Ausländische Spione, unterstützt von zwei Verrätern aus diesen unseren Eisenlanden.
WACHEN! Ergreift die Täter und werft sie in den Kerker, damit sie ihrer gerechten Strafe zugeführt werden können!"Noch während sie diese Worte sagte, wurden sich die Gefährten bewusst, dass jeder von ihnen plötzlich umringt war von Wachen, fast so, als ob diese schon vorher geahnt hätten, was Isolde sagen würde. Plötzlich fanden sie sich in einer schlimmen Situation wieder, jeder für sich sah sich mehreren bewaffneten Soldaten gegenüber, während die übrigen Gäste nun neugierig und aufgebracht beobachteten, was passieren würde. Würden sie sich zur Wehr setzen gegen eine Übermacht von Soldaten und mitten auf diesem Ball einen Kampf beginnen, oder würden sie sich ergeben und versuchen, ihre Unschuld zu beweisen?