Einar muss nicht besonders weit werfen, denn der Schwarm ist nur wenige Meter hinter ihm. Das Gefäß zerspringt auf dem harten Boden, begleitet von einem scharfen Zischen und sofort aufquellendem Dampf. Dennoch erkennt der Nordmann, dass die erste Welle an Egeln der Säure nichts entgegensetzen kann - sie schmelzen dahin wie die letzten Reste von Winterschnee unter den Strahlen einer starken Frühlingssonne. Weniger malerisch ist die teerartige Schlacke, die von ihren wurmartigen Leibern zurückbleibt, aber Einar kümmert derlei ekelhaftes Schauspiel nicht, sondern wirft den nächsten Topf, und den nächsten. Die Tonscherben halten der Säure zunächst stand - vermutlich sind die Gefäße entsprechend präpariert - doch als zuletzt alles komplett besudelt ist, beginnen auch sie langsam zu vergehen. Dampf und Gestank werden unerträglich. Der Steinboden kocht, doch obgleich auch er angegriffen wird, bietet er der frischen Säure hartnäckig die Stirn. In Fugen und Vertiefungen sammelt sich die todbringende Flüssigkeit zu breiten Pfützen und immer, wenn neue Egel über den blubbernden Brei ihrer zersetzten Artgenossen strömen wollen, trifft sie ein neues Geschoss. Zuletzt ist ein beachtliches Stück des Ganges komplett mit Säure blockiert. Einar hustet stark und kann kaum noch atmen, als er aus den Tiefen der östlichen Gänge menschliche Rufe in Djaka vernimmt. Seine beiden Kameraden haben inzwischen schadlos die Vorkammer passiert und die gleichen Stufen wie bei ihrem Eintritt zurück zu den Booten genommen. Yalena hat die verbliebenen Egal an ihren Beinen mit ihrer Klinge abgeschnitten und sie und Kiran sind nahezu abfahrbereit, als der Nordmann endlich folgt, mit humpelnden Schritten über den matschigen Morast des Ufers eilt und dabei hilft, die beiden erbeuteten Kanus ins Wasser zu schieben.
Alle drei besetzen das vordere Kanu und rudern was die Arme hergeben, während sie das vertäute zweite Kanu hinter sich herziehen, um menschlichen Verfolgern kein Gefährt zur Verfügung zu stellen. Mehrfach werfen sie einen panischen Blick über die Schulter, um die Situation abzuschätzen - und tatsächlich schwappt irgendwann eine sich windende schwarze Welle über die Felskante der Höhle, kommt aber nicht viel weiter als bis zum Rand des Ufers. Im Zwielicht der Sonne, das durch das dichte Blattwerk über ihren Köpfen dringt, scheinen die Kreaturen an Drang und Geschwindigkeit zu verlieren. Bald regen sie sich kaum mehr und wirken wie verendet - doch die Gruppe bekommt in ihrer Eile und der sich ausbreitenden Entfernung nicht viel davon mit, sondern stellt irgendwann nur erleichtert fest, dass sie fürs erste scheinbar davongekommen sind. Sie rudern bis zur völligen Erschöpfung - und darüber hinaus. Weiter bis ihre Muskeln und Sehnen brennen wie Feuer und sich die Sonne in rotem Gewand aufmacht, den geliebten Horizont zu küssen. Statt zur ursprünglichen Anlegestelle zurückzukehren, wo sie das erste Kanu gestohlen haben, steuern sie weiter westlich, in Richtung der großen Bucht, die sie vorgefunden hatten, als sie den Dschungel endlich hinter sich ließen. In all den Stunden ihrer Rückfahrt haben sie abseits von anfänglichen Anfeuerungen kaum gesprochen und sich keine Pausen gegönnt, aber den einen oder anderen mag das heute Erlebte gedanklich tief beschäftigt haben - später, als das Adrenalin endlich abflaute und die monotone Anstrengung spürbar an den Kräften zu zehren begann.
Als sie endlich Land erreichen, sind sie völlig am Ende. Sie wissen nicht, wo sie genau gelandet sind und haben auch nicht die Kraft, dies irgendwie herauszufinden. Sie vermögen es kaum, ihr Boot aus dem Wasser zu schaffen und stürzen nur wenige Schritte danach wie nasse Säcke in den Sand, um ganz ohne Feuer oder ein Lager in einen traumlosen Schlaf zu versinken. Für jeden, der sie so vorfinden würde, wären sie wehrlose Beute - doch die Nacht vergeht, ebenso wie der Morgen, ohne dass etwas passiert. Es ist bereits lange Mittag und die Sonne steht hoch, als sie endlich die Augen öffnen. Ein jeder fühlt sich so schlimm wie selten zuvor in seinem Leben. Kiran hat das lange Rudern besonders viel Kraft gekostet und seine noch immer zitternden Arme können seinen Bogen kaum bis zur Hälfte spannen. Yalena hat nun nicht nur einen Schuh, sondern ihre gesamte Oberbekleidung eingebüßt. Das was an losen Fetzen verblieb ist inzwischen komplett verschwunden und selbst ihre Hose ist mehrfach durchlöchert von den vielen Egeln, die sich an ihrem Blut gelabt haben. Ihr Rücken brennt wie von einem grandiosen Sonnenbrand. Die krustige Haut dort schält sich ab wie Pergament, aber auf ihr Bitten hin kann Kiran ihr immerhin bestätigen, dass keine tieferen Verätzungen zu sehen sind. Mit etwas Glück wird die Zeit ihre Wunden heilen, ohne dass Narben oder andere Spuren der durchlebten Pein zurückbleiben.
Einars verletzter Fuß vermisst über den verlorenen Stiefel hinaus noch einiges an Haut und Fleisch und ist - wie beinahe jede Pore seines und seiner Gefährten Körper - komplett verdreckt, wund und taub. Schlimmer jedoch ist die mysteriöse 'Krankheit', die ihn seit dem Kampf in X'uras Grabkammer plagt. Nach einem letzten Adrenalinschub bei ihrer Flucht kommt es ihm nun so vor, als würde es immer schlimmer werden, je weiter er sich von der verdammten Schneckeninsel entfernt. Er vermag es inzwischen kaum aufzustehen und ist bereits nach wenigen Schritten völlig außer Atem. Das Leben scheint aus ihm herauszufließen und der lange Schlaf am Strand hat nicht das geringste Fünkchen Erholung gebracht. An eine rasche Weiterreise ist für den Moment nicht zu denken - sie kämen in dieser Verfassung niemals durch den Dschungel. Alles was bleibt, ist hier am Strand zu rasten, womöglich die letzten Kräfte für ein provisorisches Lager sowie Nahrung und Flüssigkeit zu mobilisieren, ihr weiteres Vorgehen zu überdenken und auf eine rasche Besserung ihrer Verfassung zu hoffen...
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