Nachdem Waldemar und Mika alles mit den Händlern abgesprochen hatten, sprachen sie mit den anderen die Verteilung der Wachen ab. Sie mussten darauf vorbereitet sein, dass es einen weiteren Angriff geben konnte, unabhängig davon, was der Prophet Eretria versprochen hatte.
Doch glücklicherweise hielten sich die Räuber zurück, und auch sonst passierte kein weiteres Unglück. Was jedoch wiederkam, waren die Träume...
Sie sprach die rituellen Worte, die Einstimmung auf das Ritual der Hohen Weihe. „Im Namen der Sonne, ich höre den Ruf.“
Ein Mann trat neben Eretria. Er trug Gewänder, die den ihren ähnlich waren, aber doch einen anderen Status verrieten. „Im Namen der Sonne, ich höre den Ruf“, sprach auch er. Sie warf ihm einen Blick zu. Tellion, den sie seit ihrer Kindheit kannte, der ihr näher war als irgendjemand sonst. In den wenigen Momenten ihres Lebens, in denen sie nicht einsam war, war sie bei ihm.
„Das Feuer des Glaubens erfüllt mich“, fuhr sie mit dem Ritual fort. „Und ich schwöre, auf ewig…“
„Priesterin Aliya!“
Sie erstarrte. Wer würde es wagen, die Zeremonie zu unterbrechen? Sie wandte sich um. Ein Mann stand vor ihr, in der Kutte eines Tempeldieners. Wieso hatten die Wachen ihn nicht aufgehalten?
Dann zog er eine Klinge. Das Metall reflektierte das Licht der Sonne, blendete sie für einen kurzen Moment, dann wurde sie vom Schmerz überwältigt…
Ein Tropfen löste sich von seiner Klinge, und fiel wie in Zeitlupe zu Boden. Sie blickte ihn an, ungläubig. Die Mächtige, die Unangreifbare. Er hatte sie getötet, mit einem einzelnen Schlag. Die Herrschaft der Priesterin Aliya war gebrochen.
Er sah in ihr Gesicht, während sie zu Boden fiel. Sie war anmutig, jetzt, wo alle Härte aus ihrem Blick gewichen war. Kurz schien es ihm, als würde er ein anderes Gesicht in ihrem erkennen…
Eretria!
Schweißgebadet wachte Milan auf.
Mika sah, wie die Klinge den Leib der Priesterin durchbohrte. Die anderen Priester und die Wachen waren viel zu entsetzt, um zu reagieren. Und, natürlich, einige der Wachen gehörten zu ihnen.
Aliya fiel zu Boden. Sie wartete. Wartete auf das Glücksgefühl, das hätte kommen sollen. Die Befreiung, nachdem sie endlich ihre Rache bekommen hatte, Rache für ihr Volk, ihre Familie…
Es blieb aus. Die Priesterin war tot, doch ebenso fühlte sich Mika…
„Was ist, wenn sie scheitern?“
Der Magier schüttelte den Kopf. „Das wird nicht geschehen. Sie werden-“
„Es KANN geschehen! Und wir sollten darauf vorbereitet sein. Also, was ist, wenn sie scheitern?“
Isha stand auf. Sie blickte Waldemar fest in die Augen. „Wir werden einen anderen Weg suchen. Aber… ich glaube nicht, dass wir einen finden. Wenn sie scheitern, dann… können wir nur noch hoffen, dass zumindest wir irgendwie überleben.“
Der Magier nickte. „Ich habe einen Notfall-Plan. Einen… Ausweg.“
Waldemar sah ihn irritiert an. „Einen Ausweg aus der Welt?“
Jarek betrachtete den Mann nachdenklich. „Und was ist das für ein anderer Weg?“
„Es… ich weiß, es wird nicht ganz leicht sein, das anzunehmen. Aber ich spreche vom Frieden. Davon, die…“
Jarek lachte auf. „Frieden, aber natürlich. Das ist doch lange vorbei. Die Blutpriester, die… ach, verdammt. Ihr kennt selbst die Namen jener, die dafür verantwortlich sind.“
Der Fremde lächelte. „Nein, das stimmt nicht. Denn um ehrlich zu sein, ich glaube, die, die ihr hasst, sind selbst in gewisser Weise Opfer.“
Jareks Augen verengten sich. „Das höre ich mir nicht länger an. Ich habe… heute noch etwas zu erledigen…“
Dies war er also, der Ort, den sie gesucht hatten. Die Höhlen des Garach, des Seelenlosen. Und sie würden hinein gehen. Sie hatte Macht, mehr als die meisten Wesen dieser Welt, und doch hatte sie Angst.
Es war absurd… Garach, der größte Schrecken dieser Welt, war nun ihre letzte Chance. Sie wusste nicht einmal, ob sie mit ihm reden konnte. Aber erst einmal musste sie an den Verlorenen vorbei…