„Danke“, äußerte Bard sich erleichtert, als Garridan die Fesseln durchschnitt und der unangenehme Druck und der Schmerz der Seile, die sich in seine Wunden bohrten, nachließ. Sein Körper gehorchte ihm schwerfällig, als er sich endlich wieder bewegen konnte. Dennoch zögerte er keine Sekunde, bevor er die neu gewonnene Bewegungsfreiheit nutzte und schleunigst vom Altar herunterrutschte. Wankend, da seine tauben Beine drohten, ihm direkt den Dienst zu versagen, suchte er das Gleichgewicht und stolperte ein Stück von dem mit Schädeln verzierten Opferstein fort. Er versuchte, sich ein wenig zu sammeln, während er Solitaires Ausführung lauschte. Bard erkannte, dass er nicht über alle Geschehnisse in Iqaliat Kenntnis gehabt hatte, schließlich hatte er nur mit Tunuak gesprochen. Der Name Sovanut, der genannt wurde, sagte ihm nichts, und auch von dem Drachen hörte er in diesem Gespräch zu ersten Mal. Hätte Bard nach seiner Ankunft hier erst mit anderen Bewohnern das Gespräch gesucht, statt direkt den Schamanen um Hilfe zu bitten, wäre Bard vielleicht sein Schicksal auf dem Sithhud-Altar erspart geblieben – denn dann wäre es denn Dorfbewohnern vielleicht aufgefallen, dass Tunuak mit dem hier fremden Halbling fortgegangen und allein zurückgekehrt war.
Die Fesselung hatte sich wirklich unangenehm tief in sein Fleisch gegraben. Bard betastete, die geschwollenen und blutverklebten Fesselmale vorsichtig, und versuchte dann, seine Durchblutung ein wenig anzukurbeln und das Gefühl in seine schon bläulichen Finger zurückzureiben. Er trug zwar noch seine Winterkleidung (die hatte Tunuak ihm nicht vom Leib gerissen, als der Schamane ihn durchsucht hatte), aber das lange Liegen in der Eiseskälte auf dem harten Stein hatte Bard dennoch stark auskühlen lassen. Dementsprechend dankbar war er dafür, dass Solitaire ihm mithilfe von Magie half, sich aufzuwärmen. Wieder beobachte Bard sie beim Zaubern, denn auch wenn er für seine Befreiung dankbar war und diese fremde Reisegruppe seiner Auffassung war, was Tunuak betraf, war ihm das letzte Mal, als er jemandem leichtgläubig vertraut hatte, fast in dämonische Besessenheit geraten. Da er ihren Zauber allerdings identifizierte,
[1] wehrte er sich nicht und schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln, als eine Welle von wohliger Wärme durch ihre Hand in jeden Winkel seines Körpers floss. Er vertrieb das Kribbeln aus seinen Fingern, indem er sie mehrmals zu Fäusten ballte. Sein unkontrolliertes Zittern stellte sich ein und Bard versuchte, tapfer zu sein, was seine übrigen Blessuren betraf.
Sein Blick schweifte durch die Runde, als diese immer größer wurde, und er nickte auch dem Eidolon und Rumar zu, die von Mugin vorgestellt wurden. Der Gnom nannte das eigentümliche Wesen zwar scherzhaft ein „furchteinflößendes Monster“, doch Bard schreckte das Aussehen des Eidolons wirklich nicht. Obwohl eindeutig war, dass es eine fremdweltliche, beschworene Kreatur sein musste, ging Bard nun erstmal nicht davon aus, dass sie korrumpierend auf die Lebensströme Einfluss nahm so wie Dämonen es taten. Die Fey, zum Beispiel, waren schließlich auch nicht von dieser Ebene und lebten dennoch mit der Natur im Einklang.
„Es freut mich, euch alle kennenzulernen“, sagte Bard schließlich. Auch wenn er dies ernst meinte, konnte er die Erschütterung und den Kummer, der ihn erfüllte, nicht verbergen.
„Ich nehme es euch nicht übel, dass ihr Fragen stellt. Ich kann das verstehen. Wenn Tunuak versucht hat, das Dorf gegen euch aufzuhetzen, einen von euch umbringen wollte, und ihr sogar bereits in einen Hinterhalt geraten seid, habt ihr guten Grund, das auch von mir zu vermuten. Dieser Ort hier hat einen üblen Einfluss, daran besteht kein Zweifel. Ich versichere euch, dass ich euch nicht schaden will. Sollte ich euch dennoch angreifen, tut mir bitte den Gefallen und fesselt mich erneut.“ Er nickte daraufhin entschlossen und hoffte, dass dies nicht nötig sein würde. Bard war sich sicher, die Einflüsterungen des Dämons abzuschütteln. Er fühlte sich noch wie er selbst. Doch sollte er sich irren und dies nur ein Spiel eines Dämons sein, dann würde Bard erneut die Hilfe der Fremden brauchen.
„Wir müssen sehr vorsichtig sein“, war Bard deswegen wichtig zu betonen.
„Tunuaks Einfluss über die Erutaki könnte weit über die Macht seiner Stellung als Schamane hinausgehen. Dieser Naquun, den ihr erwähnt habt… ich glaube, ich weiß, wen ihr meint. Ich war mir bereits relativ sicher, dass er mit Tunuak gemeinsame Sache macht. Doch es könnte sein, dass er das nicht freiwillig tut. Vielleicht hat Tunuak ihn dazu gezwungen, so wie er versucht hat, mich zu zwingen. Er hat mich nicht auf diesen Altar gefesselt, um mich zu opfern. Nein, dann wäre ich bereits tot.“ Bard musste unwillkürlich schlucken. Wieder schlich sich ein Zittern in seine Stimme, aber nun war definitiv nicht die Umgebungstemperatur schuld.
„Er hat vor, mich zu einem Gefäß für einen Dämon zu machen“, überwand Bard sich, zu erzählen.
„Er hat einen Quasit beschworen, der Besitz von mir ergreifen sollte. Ich konnte mich gegen diese Kreatur wehren, doch ich bezweifle nicht, dass Tunuak es weiter versucht hätte, wenn ihr mich nicht gefunden hättet…“ Nun blickte Bard Garridan direkt an.
„Beantwortet das deine Frage? Ich konnte nicht wissen, ob du vielleicht von einem Dämon übernommen wurdest und keine Kontrolle mehr über deine Handlungen hast.“ Bard atmete tief durch und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Die Tortur war vorbei. Tunuak würde keine Gelegenheit bekommen, dies erneut zu versuchen.
„Es hat mich alle Kraft gekostet, Tunuaks Ritual abzuwehren. Es muss umso schwerer sein, noch dagegen anzukämpfen, wenn der Dämon sich bereits eingenistet hat. Allerdings könnte deine Magie vielleicht helfen, Solitaire. Den Schutzkreis gegen Böses, den du gerade gewirkt hast“,
[2] schlug er vor und offenbarte damit, dass er sich durchaus mit Zaubern und ihrer Identifizierung auskannte,
„könnte Naquun helfen, die Besessenheit abzuschütteln, sollte er Tunuak unfreiwillig zu Diensten sein.“Bard machte sich auf den Weg zu seiner Ausrüstung, die Tunuak in der Nähe des Altars ausgebreitet hatte. Es fehlte auf den ersten Blick nichts, also räumte Bard die losen Sachen zurück in den Rucksack, der wie ein achtlos fallengelassenes Stoffknäuel daneben lag. Dann schlüpfte er in seine Rüstung, hängte sich seine Sichel an den Gürtel und schnallte seinen Pfeilköcher um. Die Signalpfeife, die er nutzte, um Astrid zu sich zu rufen, wenn sie durch die Wildnis streifte, ruhte einen Moment lang in seiner Handfläche. Er hoffte, sie war wohlauf. Dennoch unterdrückte er den Impuls, in die Pfeife zu blasen. An diesem verdorbenen Ort hatte seine Freundin nichts zu suchen. So besorgt und ungeduldig Bard auch war, sie wiederzusehen, würde er erst versuchen, sie zu rufen, wenn er es für sicher erachtete. Er hängte sich die Pfeife mit der angebrachten Schnur um seinen Hals, wo sie gegen seinen Schutztalisman klackerte, der ihm leider nicht vor Tunuaks Überfall hatte bewahren können. Während Bard schließlich den Buckler an seinen Arm schnallte und seinen Bogen schulterte (beides Gegenstände, deren wahrer Wert Tunuak vermutlich entgangen war) und die Macht ihrer Ley-Energie in ihnen summen spürte, wanderte sein Blick, zu den Wandbildern, die Solitaire beleuchtete.
Vom Altar aus hatte Bard die Piktogramme nicht genau begutachten können. Aber nun schienen sie seine Vermutung über die Verbindung zwischen Tunuak und den schwarzen Monolithen zu bestätigen… Mehr noch:
„Diese Malereien verheißen auf jeden Fall nichts Gutes“, formulierte Bard seine Gedanken dazu.
„Die Geschichte, die sie erzählen, kommt ja schon einem Geständnis gleich. Wir sollten sie auf jeden Fall den Erutaki zeigen. Das wird sie von Tunuaks dunklen Machenschaften überzeugen und vielleicht können sie uns sagen, wo wir die dargestellten Orte finden.“Erst Solitaires Worte machten Bard auf Scherben beim Altar aufmerksam.
„Bisher sind mir die Scherben nicht aufgefallen“, gab er zu,
„aber mein Blickwinkel war auch stark eingeschränkt.“ Bard trat näher heran, um sich die Scherben genauer anzusehen.
[3]