Elizia versuchte, wieder etwas Fassung zu gewinnen, als Kylie sich bereiterklärte, Herr Tickles zu untersuchen. Die ganze Situation überforderte die Schlangenbeschwörerin sichtlich. Erst fand man ihren engen Freund Myron tot und, darüber hinaus, höchstwahrscheinlich ermordet auf und wenige Minuten später musste sie auch noch das Schlimmste für ihren tierischen Gefährten fürchten. Doch Kylies Hilfsbereitschaft und Widerspruch bezüglich der Frage, ob Herr Tickles nun sterben müsse, gaben Elizia Hoffnung. Nicht von der Seite der Schlange weichend, machte Elizia jedoch Platz, damit Kylie sich ein genaues Bild von der Lage machen konnte.
Herr Tickles hob noch nicht einmal den Kopf an, als Kylie sich genauer mit ihm befasste. Normalerweise war er ein neugieriger Kerl, der Aufmerksamkeit mit interessiertem Bezüngeln quittierte. Er wirkte tatsächlich sehr lethargisch, so wie Elizia es schon erwähnt hatte, und das war allemal ein Anzeichen dafür, dass er sich wirklich nicht wohl fühlen musste. Ein Blick in Herr Tickles Maul offenbarte, dass sein Schlund gerötet und angeschwollen wirkte, aber irgendeinen Hinweis darauf, dass er vor Kurzem etwas verschluckt haben mochte, wie etwa eine verdächtige Ausbeulung an einer Körperstelle, konnte Kylie darüber hinaus nicht erkennen. Seine braungrüne Schuppenhaut an der Rückenseite fühlte sich, auch wenn es ihr am gesunden Glanz mangelte, normal glatt und seidig an. Am Bauch, jedoch, hatten sich besorgniserregende, mit Eiter gefüllte Quaddeln ausgebreitet, die sicherlich schmerzten und furchtbar jucken mussten. Dieser Ausschlag erinnerte Kylie an eine schlimme allergische Reaktion. Doch worauf könnte Herr Tickles so furchtbar reagiert haben?
Selbst wenn er tatsächlich eine Ratte gefressen haben mochte, unterschied sich Tickles Krankheitsbild davon, was Myron zugestoßen war; denn auch wenn Kylie Myron nicht ganz genau hatte untersuchen können, wäre es wohl an den nicht von der Kleidung verdeckten Körperstellen (etwa dem Gesicht) erkennbar gewesen, wäre Myron an einem allergischen Schock gestorben. Selbst wenn man in Betracht zog, dass jeder Körper unterschiedlich auf Allergene reagierte, konnte Kylie eine allergische Reaktion in Myrons Fall ausschließen. Sollte jemand versucht haben, nach Myron nun auch Tickles zu schaden (und der Verdacht lag nahe, immerhin handelte es sich hier um den zweiten Zwischenfall in kürzester Zeit), so entdeckte Kylie keinen Hinweis in Tickles Nähe… nicht einmal Rattenspuren oder so etwas wie Giftefeu.
Während Kylie darüber nachdachte, was es noch so alles geben konnte, das relativ zuverlässig für Nesselsucht sorgte und deswegen gezielt für hinterhältige Angriffe verwendet werden könnte, kamen ihr mit einem Mal Szenen aus ihrer Kindheit und Jugend in Varisia in den Sinn. Sie wusste sehr genau, wie Tickles sich fühlen musste, denn sie war selbst nicht nur einmal mit giftigen Pflanzen in Kontakt gekommen, während sie die den Sanoswald erkundet hatte. Was jedoch den schlimmsten Ausschlag ausgelöst hatte, den sie jemals gehabt hatte, war ihr einige Jahre später, während ihrer Rundreise durch Varisia zugestoßen: die Begegnung mit einigen wildlebenden Goblins, die dort die reinste Landplage waren.
Anders als Zonk, der vielleicht sogar der zivilisierteste Goblin überhaupt war, lebten die Stämme Varisias in Chaos und einem abstoßenden Niveau von mangelnder Hygiene. Nicht zuletzt war das auch auf ihre Reit- und Wachbiester, die Nicht-Goblins „Goblinhunde“ nannten, zurückzuführen. Selbst die verhätscheltsten dieser Kreaturen waren mit juckender Räude besetzt, die dazu führte, dass sie sich ständig kratzten und ihre Hautschuppen überall verteilten – Hautschuppen, die bei allen, die damit in Berührung kamen (außer bei Goblins, die scheinbar immun dagegen waren), einen furchtbaren, von Unwohlsein begleiteten Ausschlag auslösten, der allgemeinhin als „Goblinpocken“ bekannt war. Tickles Quaddeln und seine Lethargie erinnerten Kylie stark an ihre eigene unliebsame Erfahrung damit – so stark, dass sie sich recht sicher war, sein Leiden identifiziert zu haben.
Die gute Nachricht war, dass Goblinpocken relativ harmlos waren. Sie bewirkten „nur“, dass man sich (neben dem hässlichen, schmerzend-juckenden Ausschlag) unwohl fühlte.
[1] Die Symptome würden nicht darüber hinaus gehen und nach maximal einigen Tagen von selbst verschwinden. Bis es so weit war, konnten sie mit Hilfsmitteln gelindert werden. Wie sie die Symptomatik behandeln könnte, wusste Kylie ganz genau, denn eine Salbe aus verschiedenen Kräutern würde kühlend wirken und Schmerz und Juckreiz unterdrücken, wenn sie regelmäßig aufgetragen werden würde. Außerdem könnte Kylie versuchen, Tickles eine Tinktur gegen Übelkeit einzuflößen, auch wenn sie ahnte, dass dies kein einfaches Unterfangen werden dürfte.
[2] Auch wenn es gut war, zu wissen, was Herr Tickles fehlte, und dass es ihm bald besser gehen würde, war es gleichermaßen beunruhigend und rätselhaft. Bedeutete dass Herr Tickles Goblinpocken hattte, dass wilde Goblins und ihre Biester sich im Zirkuslager aufhielten?... Relativ unwahrscheinlich. Wenn Kylie noch eine Erfahrung über Goblins aus Varisia mitgenommen hatte, dann dass sie zwar hinterhältig vorgingen, aber wenn sie sich erstmal herangeschlichen hatten, so viel Radau machten und Feuer legten, dass man sie gar nicht übersehen konnte. Außerdem wären sowohl Elizia als auch Kylie selbst (wenn nicht sogar die halbe Zirkustruppe) schon von Quaddeln übersäht, wenn an Tickles oder in seiner Umgebung Goblinhund-Hautschuppen verteilt gewesen wären. Einer üblen Ahnung folgend, konzentrierte sich Kylie auf ihr magisches Gespür, so wie sie es schon bei Myron versucht hatte,
[3] und nahm mit einem Mal wirklich die Präsenz von Magie in ihrer unmittelbaren Umgebung wahr. Hatte also irgendjemand Tickles die Goblinpocken an den Hals gehext? Es war ein naheliegender Schluss daraus, dass es nur ihn getroffen hatte und Magie spürbar war. Nachdem sie sich eine Weile darauf konzentriert hatte, konnte Kylie sogar mit Sicherheit identifizieren, dass ein entsprechender Zauber auf Herr Tickles lag.
[4]
Furio wippte auf den Füßen vor und zurück, während er das entscheidende Urteil abwartete und dabei vor Aufgeregtheit und Ungeduld nicht stillhalten konnte. Dass Nadeshja eine Weile mit sich rang und Gidarron nur ein einzelnes, nicht überzeugtes Brummen von sich gab, machte das nicht besser.
Schlussendlich fiel Furios Anfrage aber doch zu seinem Gunsten aus. Gidarron widersprach Nadeshja und Lavenia nicht, sondern seufzte nur leise, was allerdings in einem lautstarken Ausbruch von Gejubel unterging, den Furio nicht zurückhalten konnte. Erst als der Junge bemerkte, dass er dafür von anderen Artisten in der Nähe, die sichtlich von der Trauer um Myron angeschlagen waren, strafende Blicke erntete, verschwand sein Grinsen und wich einem schüchternen Lächeln.
„Verzeiht“, murmelte er verlegen,
„das war wohl ein wenig unangebracht. Aber, äh… danke.“ Ihm war anzumerken, dass ihn Myrons Schicksal ebenfalls erschütterte. Dennoch war er überaus glücklich, dass er endlich die Erlaubnis für einen Auftritt hatte – denn darauf hatte er gefühlt jede Sekunde der vergangenen Woche, in der Myron ihn hatte zappeln lassen, gewartet.
„Vielen Dank! Ihr glaubt ja nicht, wie sehr ich mich freue! Ich bin fast so weit, ja? Ich muss nur noch meine Tauben holen.“Aufgeregt wuselte Furio zwischen den Lagerkisten und Artisten davon.
Hod stolperte die ersten Schritte überrumpelt hinter dem flinken Zonk her, folgte dann aber selbstständig – bis sie in die Nähe von Myron kamen. Hier hatte Hod die Kiste, die er für Mordaine bereits hatte holen wollen, fallen- und in der Aufregung auch liegengelassen. Allerdings konnten Zonk und Hod feststellen, dass irgendwer die am Boden verteilten Schlösser und Ketten eingesammelt, in die Kiste zurückgelegt, und in etwas Abstand zu Myron auf einer Seilrolle abgestellt hatte. Hod, der erleichtert ob des Umstands wirkte, sich Myrons Leichnam deswegen nicht erneut nähern zu müssen, griff sich die Ausrüstungskiste und begleitete Zonk zu Mordaines Wassertank.
Hod war schweigsam, während Zonk ihm half, alles zu kontrollieren – aber schweigsam war der Junge meist, wodurch es schwer abzuschätzen war, ob er immer noch wegen dem erschreckenden Fund, den er machen musste, nicht sagte, oder ob es wieder sein normales Verhalten widerspiegelte. Jedoch wirkte Hod sehr konzentriert, während er nach und nach jedes Kettenglied prüfte und danach die Funktionalität der Vorhängeschlösser zu testen begann. Schnell stellte der Junge dabei fest, dass irgendetwas dabei nicht zu passen schien, und runzelte die Stirn.
„Die Schlüssel passen nicht“, informierte er Zonk kurz und knapp.
„Jemand muss sie vertauscht haben… oder die Schlösser. Der hier hat eine Kreuzmarkierung.“ Hod zeigte Zonk das eingeritzte, kaum sichtbare Kreuz am Schlüsselbart.
„Der sollte das Schloss mit dem Kreuz öffnen. Die anderen passen auch nicht. Wenn Mordaine damit gefesselt würde, käme sie da nicht wieder raus.“Aber auch Zonk wurde, als er Tank überprüfte, fündig. Im Großen und Ganzen schien er intakt zu sein, aber eine frisch wirkende Schweißnaht, die sich farblich vom Rest der Metalleinfassung abhob, erregte seine Aufmerksamkeit – und das war zum Glück der Fall! Zonk brauchte einen Moment, um sich einen Reim daraus zu machen, warum ein zusätzlicher Metallsporn genau an der besagten Stelle angebracht worden war, aber als er den Deckel des Tanks aufsetzte, war die Funktion offenbar: war der Deckel erstmal auf dem Tank, rastete er in den Sporn ein und klemmte! So sehr Zonk versuchte, den Deckel wieder zu lösen, reichte seine Kraft nicht aus.
[5] Wie schwer müsste dann das erst sein, wenn man sich im Tank befinden würde?
Zusätzlich mit der Unmöglichkeit, die Fesseln zu lösen, hätte Mordaine in diesem manipulierten Tank ertrinken können – selbst mit Hilfe von Außen.