Während sich Lavenia und Zonk aufmachten, um den Bereich auf dem Plateau zu erkundigen, konnten Kylie und Nadeshja bis zur Hausfront vorwagen, ohne Bekanntschaft mit befürchteten Fallen zu machen. Tatsächlich wirkte das Gebäude nicht nur friedlich und harmlos, sondern auch gut gepflegt. Der Weg zur Haustür war von sorgsam angeordneten Flusskieseln begrenzt und der Garten wirkte grün und voller Leben. Anders als an anderen Stellen Abbertons, profitierten die jungen Gemüsepflanzen und bunten Blumen in den Beeten von der Nähe des Flusses und waren trotz mehrtägiger Abwesenheit der Müllersfamilie nicht der Trockenheit anheimgefallen. Wenn man nicht wusste, dass die Hawftons schon seit mehreren Tagen nicht hier gewesen waren, wäre man sicherlich auch nicht auf diesen Gedanken gekommen. Nadeshja konnte durch das Fenster eine geräumige, sorgsam gepflasterte Kammer erkennen, die, wie das einfallende Tageslicht offenbarte, nicht nur das ganze Erdgeschoss am Fuße des Plateaus, sondern auch den ersten Stock ausfüllte. Viel der Freifläche wurde von einer stabil wirkenden Balkenkonstruktion in Anspruch genommen, an der Zahnräder, Riemen, Kornrinnen und, nicht zuletzt, ein riesiger Mühlstein angebracht worden war. Das Klappern des Wasserrads war deutlich zu hören, und auch die Anschlusswelle im Gebäude drehte sich munter, doch da der Mühlstein momentan nicht daran angeschlossen war (was man durch einen kompliziert wirkenden Hebelmechanismus sicherlich bewerkstelligen konnte), war die Mühle momentan nicht in Betrieb. Auch im Auffangbehälter unterhalb des Steins konnte Nadeshja kein Mehl erkennen. Fässer, die vermutlich Getreide enthielten, warteten vergeblich darauf, gemahlen zu werden. Nach einigen Sekunden entdeckte Nadeshja auch eine schmale, steile Treppe, die schon fast eher eine Leiter war, in der nordwestlichen Ecke des Raums. Sie führte in die erste Etage zu einer Tür – zu dem Bereich, der auf dem Plateau liegen musste.
Kylie klopfte an der Tür, doch im Haus regte sich nichts. Nadeshja konnte mit Mühe ausmachen, dass der Eingang sogar von innen mit einem Querbalken verriegelt war. Der zweite Eingang, eine Doppeltür zum Garten hinaus, schien allerdings nicht von innen gesichert zu sein.
„Es ist, als wären die Hawftons einfach verschwunden“, kommentierte Wolf die Situation.
„Dabei haben sie eigentlich wenig Grund dazu. Alle Bauern kommen zu ihnen, um ihr Korn zu mahlen. Sie haben die einzige Mühle weit und breit, daher sind ihre Dienste sehr gefragt und sie verdienen gut daran – selbst in diesen Zeiten.“Für Zonks Akrobatenkünste stellte die natürliche Steinwand kein großes Hindernis dar. So war er beinahe so schnell wie die fliegende Fee beim ersten Stock angelangt. Als die beiden einen Blick durch das südwestliche Fenster erhaschen konnten, erkannten sie sofort, dass am friedlichen Eindruck, den die Mühle von außen machte, irgendetwas faul sein musste. Beim Zimmer auf der anderen Seite des Fensters musste es sich um ein Schlafzimmer handeln – vermutlich das des Müllerpaars, denn ein säuberlich gemachtes Doppelbett befand sich darin. Eine hübsche Porzellanvase ruhte auf dem Nachtisch, allerdings waren die Blumen darin schon längst vertrocknet. Seltsam jedoch waren Unmengen an Sand, die überall im Raum verteilt waren und teils sogar kleine Häufchen bildeten, vor allem am Boden zwischen zerknitterter Kleidung, die wohl aus dem breiten Kleiderschrank gefallen sein musste, der mit der Front nach unten mitten in den Raum gestürzt war. Aber ein Lebenszeichen der Familie war nicht zu sehen.
Das änderte sich auch nicht, als sie einen Blick in das einzig andere Fenster in diesem Stockwerk geworfen hatten – es befand sich an der Nordseite des Gebäudes und brachte ebenfalls Licht in ein Schlafzimmer. Mit hochwertigen Möbeln ausgestattet, ähnelte es dem ersten Schlafzimmer, doch hier war nichts in Unordnung geraten. Mit einem schmalen Bett, einem kleinen Schrank und einem Waschtisch ausgestattet, gehörte das Zimmer vermutlich einem künstlerisch recht begabten Mädchen. Auf dem Bett und dem Schrank waren ordentlich Puppen, Plüschtiere und Holzspielzeug drapiert, und überall an den Wänden hingen bunte Bilder und Zeichnungen von Tieren und magischen Kreaturen, wie Hydras, Mantikoren, Drachen und Phönixen.
Es gab keinen Hinweis darauf, dass auch nur einer der Hawftons Habseligkeiten eingepackt hatte und damit abgereist war.
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