Es war anfangs eine recht schweigsame Gruppe, die dort die Straße zum Rostland entlangwanderte. Natürlich hatten sie sich erst vor kurzem getroffen, da war es nicht weiter verwunderlich, dass das Eis noch nicht wirklich gebrochen war. Jeder schien noch seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, und sich wie Victor zu fragen, was sie oder ihn eigentlich hierher getrieben hatte. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre es längst Victor selbst gewesen, der die Initiative übernommen und die anderen in ein Gespräch verwickelt hätte. Jetzt allerding kreisten seine Gedanken ein ums andere Mal um das, was in den letzten sechs Monaten aus seinem Leben geworden war – und natürlich um IHN.
Seine Gedanken kreisten … im wahrsten Sinne des Wortes. Er, der immer einen Plan gehabt hatte im Leben, der alles doppelt und dreifach vorausgedacht hatte: Er konnte nun keinen klaren Gedanken fassen, sondern wunderte sich immer noch darüber, warum er sich eigentlich hier, zusammen mit diesen Fremden, auf dieser Straße befand. Es war ihm schmerzlich bewusst, dass dies hier ganz und gar nicht das war, was er eigentlich wollte – doch hier war er jetzt.
Warum hat es dich getroffen und nicht mich, Yevgenij? Du warst doch immer der mit den hohen Idealen? Ich bin ein Nichtsnutz, und ohne dich läge ich längst in irgendeiner Gosse, abgestochen als gerechte Strafe für ein sinnloses Verbrechen. Du hast mir gezeigt, dass es im Leben auch mehr geben könnte als das.
Es war tatsächlich ein Zufall gewesen. Sechs Monate nach Yevgenijs Tod hatte er immer noch keinen Sinn in seinem Leben finden können – und beim morgendlichen Blick in seine Börse hatte er den Boden nur allzu deutlich gesehen. Und als er die letzten lumpigen Münzen in ein Frühstück investierte, da kam dieser Schwertjunker und suchte tüchtige Männer und Frauen für einen Auftrag in den Raublanden. Nun, einen tüchtigen Mann vorspielen konnte Victor noch allemal, und Armut und Ziellosigkeit waren eine Mischung, die selbst ihn zu einer Dummheit wie dieser verleiten konnten.
Bereut hatte er es jetzt schon. Er hatte es sich irgendwie heilsam vorgestellt: Banditen jagen, durch die Natur reisen – genau das, was seinem Leben wieder Struktur geben und ihn ablenken konnte. Doch er hatte nicht einmal mehr genug Gold gehabt, um seine abgewetzte Reisekleidung zu ersetzen und lief hier jetzt wie ein eitler Geck in teurer Salonkleidung herum. Seine Gefährten würden ihn wahrscheinlich für einen reichen Idioten halten.
Überhaupt, seine Reisegefährten. Just diesen Moment hatte sich Fauchi (so hatte er den Drachengeborenen für sich getauft) ausgesucht, um endlich ein Gespräch zu beginnen. Offenbar war der Paladin ein Grünschnabel, so wie er selbst auch, was seine Laune direkt verbesserte. Dann war da noch dieser Riese mit dem tätowierten Schädel – Victor würde aufpassen müssen, sein sarkastisches Mundwerk in Zaum zu halten, denn ein Schlag dieses Hünen würde vermutlich ausreichen, um ihn ins Land der Träume zu schicken. Die anderen drei waren weit weniger auffällig, zwei Elfen und ein anderer Mensch, oder so schien es zumindest – genau wissen konnte man nie, welche Blutlinie da womöglich noch hineinspielte.
Doch nun war es an der Zeit, dass auch er sich an dem Gespräch beteiligte. Er räusperte sich leise, und als er sicher war, dass er die Aufmerksamkeit der anderen hatte, verbeugte er sich tief und tat, als würde er seinen Hut ziehen. Wenn schon Geckenkleidung, dann wenigstens richtig.
„Hallo liebe Mitreisenden! Es ist mir eine Ehre, euch kennenzulernen. Victor Yevgenov bin ich, und ich stamme aus dem schönen Ustalav, das noch viel schöner sein könnte, wenn unser Herrscher Prinz Ordranti uns nicht weiterhin mit seiner außerordentlichen Abneigung dagegen, das Zeitliche zu segnen, beglücken würde. Leider zwangen mich einige kleinere Meinungsverschiedenheiten mit den herrschenden Häusern“ – technisch gesehen ist das die Wahrheit - dazu, etwas überstürzt von dort aufzubrechen, und so bin ich nun hier gelandet.
Schlachten habe ich in meinem Leben noch keine geschlagen – zumindest nicht die, von denen unser mächtiger Freund hier spricht. Und auch mit meinem Gesang werde ich euch besser nicht erfreuen – schon gar nicht, wenn ihr bei jedem meiner Töne nur daran denken würdet, wie viel besser unsere liebreizende Bardin das Singen beherrscht. Mein Talent könnte vielleicht darin bestehen, mich hinter einem Baum zu verstecken, wenn Banditen angreifen.
Wenn ich es mir so recht überlege, dann ist unter sechs Kämpen doch immer einer, der im Grunde gar nichts taugt und auf den die anderen herabblicken und über den sie sich lustig machen können. DAS könnte meine Rolle sein, jawohl!“
Victor grinste über beide Ohren, als hätte er gerade die Entdeckung seines Lebens gemacht, und verbeugte sich ein weiteres Mal. Wenn ich ihnen jetzt nicht den Idioten gegeben habe, weiß ich auch nicht.