Zwei weitere Tage im dichten Wald drohten Milo aufs Gemüt zu drücken. Was gäbe er für einen freien Blick in die Ferne, das Gefühl von Weite ringsum, für mehr Luft zum Atmen! Hier im Dickicht war alles so feucht und modrig und stickig, peitschten einem ständig Äste und Zweige ins Gesicht, brachten im Laub versteckte Wurzeln einen ins Stolpern, wähnte der wachsame Geist überall darin versteckt Schlangen auf der Lauer! Und das erste Mal, das Milo mit der Nase voraus in ein großes Spinnennetz marschierte – nun, am höflichsten wäre es, über dieses Vorkommnis den Mantel des Schweigens auszubreiten. So viel sei nur angedeutet: auf panisches Handgewedel folgten Hilferufe, als die dicke, fette Bewohnerin des Netzes auf seiner Brust landete und in Richtung Kragen krabbelte...
Trotz der Enge, der schwülen Düsternis und Schreckensmomenten wie dem beschriebenen gab es aber auch viel Heiterkeit und Schönheit. Die beiden Feen erwiesen sich als angenehme Begleiter, und ihre Lieblingsorte waren wirklich sehr lieblich und erholsam. Milo war voll des Lobes. Sein Herz floss über vor Dankbarkeit über die Vielgestalt der Welt. Heimweh, das war die Kehrseite, ja, aber ach:
"Wie gut ist es doch, dass jedes Land anders ausschaut, sich anders anfühlt, andere Sitten hat! Dass es nicht überall auf der Welt haargenau so ist wie daheim! Wäre das nicht sogar ein grauslicher Gedanke?"Mit der Zeit ein wenig lästig wurde der restlichen Gruppe vielleicht, dass Miloslav an jedem Bach, Teich oder größeren Pfütze anhielt, auf dem Boden niederkniete, und ein Dankesgebet an Sarenrae, die Morgenblüte, sprach. (Auf Osirisch, daher verstanden die Gefährten nur den Namen der Göttin, weshalb ihnen die Sache nur noch umso länger vorkam.)
Den Feen zuliebe trug Milo, solange man mit ihnen unterwegs war, seinen guten Tekatkat (also den bunten!) Da Perlivash offenbar ein besonderes Verhältnis zu Farben besaß und ihnen jeweils eine besondere Bedeutung zumaß, wollte er den kleinen Drachen nicht durch einen Farbwechsel unnötig verwirren. Erst, nachdem man sich getrennt hatte, wechselte er in seine normale Reisekleidung - sandfarbene Hose, schwarze Tunika, braune Jacke – und tauschte auch den leuchtend blauen Schesch gegen den schwarzen ein.
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Der Tempel erwies sich auf den ersten Blick hin als Enttäuschung. Wie, eine Handvoll Säulen, ein paar zerbrochene Steinplatten, und ein einfaches Höhlenloch? Das konnte man einen
Schrein nennen, nicht aber einen
Tempel! Unter dem Begriff hatte er sich etwas ganz anderes erhofft und ausgemalt! Womöglich stammten die Ruinen auch gar nicht aus der Zeit des taldanischen Imperiums? Dieser Erastil schien ja eine ausgesprochene Naturgottheit zu sein, Wald und Jagd und einsame Jäger und so weiter, das passte nicht so recht zum Imperium.
Das Gegrummel des Bären riss ihn zurück in die Gegenwart. Höchste Zeit, sich gegen einen Angriff zu wappnen. Dazu legte Milo als erstes seinen Proviantsack und auch seinen Rucksack auf dem Boden ab. Mit der Linken zog er sein buntes Amulett unter Schesch und Obergewändern hervor und hielt es fest umklammert.
Dann rief er seinen Mentor an. Nubnefers Name klang deutlich aus dem osirischen Gebrabbel heraus, von genuscheltem Beiwerk umgeben, das an Katzengeschnurre erinnerte (um Schmeicheleien und untertänigstes Bitten handelte es sich dabei, wie anwesende Zauberkundige womöglich erahnten) und einem abschließenden, besonders sorgfältig artikuliertem:
"Dir'alzil!"Worauf er mit dem Fuß feste auf den Boden aufstampfte, was einer Explosion gleich den Staub um ihn herum aufwirbelte. Mit der rechten Hand zog er den Staubwirbel seinen Körper hinauf bis über den Kopf, worauf er kurzzeitig wie von einer Windhose umgeben dastand, welche sich abrupt auflöste, als er den Arm wieder fallen ließ.
Danach war Milo gar nicht mehr bunt. Selbst seine unbunte Reisekleidung (mit schwarzem Schesch) erschien nun grauer als zuvor. Am deutlichsten sah man den Unterschied an seinen Augen: strahlend grün müssten sie sein, statt dessen waren sie grau. Alle Farbe schien aus ihm ausgewaschen worden zu sein. Als stünde Milo nicht mehr im prallen Sonnenlicht, sondern im tiefsten Schatten oder der Abenddämmerung oder im Mondlicht.
[1]Nun endlich wagte er es, den Blick über die Ruine schweifen zu lassen, um deren Alter einzuschätzen
[2]. Um wie viele Jahrhunderte musste er seine vormalige Vermutung anpassen? Wenn nicht über zweitausend Jahre, wie alt war die Anlage dann? Und wie lange bereits verlassen
[3]? So lange stand der Bär dann hier schon vergeblich Wache, gebunden durch den Befehl eines Herrn, dessen Fleisch längst die Würmer genährt hatte und dessen Gebein wohl auch bereits zu Staub zerfiel. Wer würde sich da nicht nach dem ewigen Schlaf sehnen, nach so langer Zeit? Wer nicht den Verstand verlieren, ob der Sinnlosigkeit seiner (unnatürlich verlängerten) Existenz?
Dies schien Jhod ja sogar für seine Aufgabe zu halten: den Bären zu erlösen, ihn endlich aus seinem Dienst zu entlassen. Milo kam es gar nicht in den Sinn anzuzweifeln, dass Erastil seinem Diener Jhod in einer Vision erschienen war, um diesem eine Anweisung zu erteilen. Warum auch? So machte es Nubnefer mit ihm selbst ja auch. Der Shaitan erschien gerne in Milos Träumen, so etwa einmal pro Woche oder jede zweite. Gut, eine große Aufgabe hatte der Lehrmeister ihm auf diese Weise bis dato nicht erteilt, meist wollte er nur ein wenig plaudern oder das Gelernte abfragen oder ihm fremde, wunderliche Orte zeigen. Oder aber, wenn Nubnefer sich in besonders heiterer Stimmung befand – Milo hegte den starken Verdacht, dass Alkohol oder ähnlich stimulierende Substanzen im Spiel waren – dann plagte er den jüngsten seiner Lehrlinge mit kindischen Streichen und Schabernack, den die restlichen acht Lehrlinge bereits kannten und durchschauten, sodass Milo allein hier noch die Möglichkeit zu kurzweiligem Vergnügen bot.
(Das hat Milo sehr aus der Bahn geworfen, die ersten Male. Nicht einmal so sehr die Streiche waren das Problem, allein schon die Anwesenheit! Wo, wenn nicht im Traum sollte der Mensch allein sein, welch privateren Ort als diesen konnte es geben? Dass er hier auf einmal vor Eindringlingen nicht mehr sicher war, daran gewöhnte Milo sich nur sehr langsam.)
Ein erneutes Grollen lenkte Milos Blick zur Bärenhöhle.