Über das Streitgespräch zwischen Viktor und Calxu dachte Milo in den nächsten Tagen immer wieder nach – zumal der Drachengeborene auch mehrmals versuchte, das Thema wieder aufleben zu lassen, worauf Viktor aber nicht einging. Wie immer, wenn Milo selbst keine definitive Meinung zu einem Thema hatte, konnte er sich nicht entscheiden, wem er beipflichten wollte. War die Welt besser oder schlechter durch die göttliche Einmischung? Osirion wäre kein freies Land ohne die Stärke der Sarenrae Kirche – oder doch? Spielten andere Faktoren eine größere Rolle als die Stärke des Glaubens? Etwa der Niedergang Taldors, dessen Selbstzerfleischung im Bürgerkrieg? Oder die mächtigen Elementare, die dem neuen Pharaonengeschlecht helfend zur Seite stehen? Welche Waageschale wurde nach unten sinken: jene, welche den Nutzen der Götter enthielt oder jene, in welcher sich die Kosten befanden?
Am beunruhigensten aber fand Milo Calxus leidenschaftliche Rede über den freien Willen, den der jeder Sterbliche seiner Meinung nach bereits hätte, unabhängig von jeglicher göttlicher Einflussnahme. Das war nämlich eine Frage, bei der Milo so ganz und gar nicht zu einem sicheren Schluss gelangte. Gab es so etwas wie einen freien Wille überhaupt? Wie frei konnte der Wille sein, wenn man von Kind auf in eine Richtung beeinflusst wurde, ohne je eine Alternative angeboten zu bekommen? Wenn man zeitlebens dem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt ist, wenn jede Abweichung von der öffentlichen Meinung geahndet wird, wenn Kirche und sonstige Moralwächter stets ein misstrauisches Auge über die Herde halten, auf dass kein schwarzes Schaf ihrer Rüge entgeht? (Gesetze waren ja nur der klar definierte, der offene, der ehrliche Teil der gesellschaftlichen Regeln. Gesetzen zu folgen war leicht.) Selbst im besten Fall schien ihm der "freie Wille" nur gerade eben so viel Freiheit zuzulassen, als dass man sich entweder an die Gesetze und gesellschaftlichen Regeln halten konnte oder eben nicht, wobei letzteres zur Bestrafung oder Ausschluss oder beides führte. Sogesehen schien der freie Wille ihm nicht viel wert zu schein. Wahrscheinlich wäre es für alle Beteiligten viel einfacher, es gäbe ihn nicht.
Jedenfalls war es in Milos Fall nicht der freie Wille, der ihn nach Brevoy geführt hatte. Eine Gottheit war es zwar auch nicht, könnte man argumentieren, aber das wäre Haarspalterei. Nubnefer mochte kein Gott sein, aber er war um ein vielfaches mächtiger als Milo. Und den Weg von Milos Schicksal bestimmte zu einem großen Teil er, zu einem weiteren der Zufall, und zum geringsten nur Milo selbst.
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Als Milos Proviant zur Neige ging, probierte er gerne, was Tian und der schweigsame Gulyre sammeln und erjagen konnten. So stellte sich heraus, dass er Fleisch ohne Bedenken zu sich nahm – obwohl in seiner eigenen Wegzehrung zuvor nicht enthalten – und bereitwillig alle ihm unbekannten Speisen probierte – nur das Süßholz, das schmeckte ihm nicht, das lehnte er nach dem ersten Bissen dankend ab, wobei er sich kurz darauf ein kleines Stückchen erbat und in einem Beutel verschwinden ließ –
"Für Nubnefer. Er interessiert sich für Gaumenfreuden, besonders für solche, die aus der Erde stammen." Die einzige Zutat, deren Versiegen er beklagte, war das Brot.
"Ein Mahl ohne Brot zeugt von höchster Not", sprach er dann jedes Mal, oder er seufzte und klagte:
"wie soll man da satt werden, ohne Brot?" oder erzählte von diesem oder jenen Krieg, der sich vor langer Zeit in einem fernen Land ereignete und nur deshalb verloren wurde, weil das einfache Heer zu maulen und meutern begann, denn das Brot ging ihnen zuneige...
Ansonsten war Milo erstaunlich zäh für einen Archäologen. Schien er an Kraft sogar Katharina unterlegen, an Geschick dagegen einzig Calxu zu übertreffen (den man ungern in einen Porzellanladen eintreten ließe), und zeigte sich auch immer wieder, dass er sich in Wäldern nicht auskannte, so war er doch so unermüdlich unterwegs wie die Gefährten. Sein Wasserschlauch war stets der letzte, der zur Neige ging.
Und was die Walddinge betraf... so neu ihm dies alles war, so interessiert zeigte er sich und dabei erstaunlich gelehrig. Alle Früchte, Wurzeln, Nüsse, alles Kraut, was Tian oder Gulyre zum Mahl herantrugen, merkte er sich, und begann schon bald selbst, danach Ausschau zu halten. Zu Beginn fragte er wohl immer noch zur Sicherheit nach, dass er ja nichts verwechselte, aber bald trug er schon seinen bescheidenen Anteil bei an der Verpflegung der Gruppe.
Auch begann er, da auf sein Angebot zur Mithilfe nicht eingegangen worden war, seine eigenen Karte zu zeichnen. Anders als Viktor schien er dabei nicht nur auf Präzision und Einheitlichkeit der Symbole zu achten, sondern auch einen gewissen künsterlichen Anspruch zu haben. Auch die landschaftlichen Merkmale, welche er als Orientierungspunkte auf seiner Karte einzeichnete, waren nicht immer dieselben wie bei Viktor. Die Beschriftung konnte außer ihm niemand lesen
[1].
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Um den Toten begraben zu können, verschwand Milo wieder im Gebüsch und tauchte bald darauf wieder mit seiner Schaufel auf.
[2]Tians Vorschlag, dem Wasserlauf gen Süden zu folgen, stimmte er gerne zu.
"Zumindest ein Stück weit. Vielleicht zwei, höchstens vier Iteru." Mit verständnislosen Blicken konfrontiert, versuchte er zu klären:
"Ein Iteru sind 200 Chet." Das brachte keine Klarheit.
"Ein Chet sind hundert Meh." Die Verwirrung stieg .
"Ähm. Also. Im offenen Gelände schafft man eine Strecke von 2 Iteru leicht in einem halben Tag. Hier im Wald braucht man dafür wohl eher einen ganzen. Und wenn wir das Gebiet auch noch ordentlich erkunden wollen, brauchen wir sogar zwei Tage dafür. Ich, äh, hatte also vorgeschlagen, nicht länger als vier Tage dem Fluss zu folgen, sollte er dann immer noch Richtung Süden fließen, sondern uns dann gen Osten oder Westen wenden und letzlich wieder gen Norden."Sein Blick ging über die Schulter, zu dem Kartenbehälter, der außen an seinem Rucksack befestigt war. Ach herrje. Er würde alles umrechnen müssen...
[3] "Welche Längenmaße benutzt man denn hierzulande?"