Leicht ist Arnvidhs Schritt und frei sein Atem. Der Schein der Sonne hüllt ihn wärmend ein, ein Geschmack von Salz liegt auf den Lippen, ein frischer Wind spielt im Haar, über ihm kreischen die Möwen – so frei hat er sich schon seit langem nicht mehr gefühlt. Von plötzlichem Übermut erfasst, klettert er auf den nächsten Hügel und späht in alle Richtungen. Wie berauschend der Blick in die Weite, über Felder, das Meer im Osten, die bewaldete Bergkette an dessen Ufer, nach Norden sich erstreckend, nach Westen hin Wald, so weit das Auge reicht! Nur den Blick nach Süden scheut er: der Anblick der Mauer bedrückt ihn, ebenso wie der Gedanke an seine Heimat dahinter, noch immer unfrei, noch immer von Dämonen geplagt.
Die letzten Schritte bis zur Mauer waren so ungefähr die erdrückendsten, die Arnvidh je tat. (Nur einen Gang in seinem Leben hatte Arnvidh als erdrückender empfunden: jenen, mit dem er seinen Sohn, und herauf den Neffen, zu Grabe trug.) Durch nachtschwarzen Schatten trotz strahlendster Mittagszeit, den Kopf so weit im Nacken, dass der Hals schmerzt, um den Blick an dem zwanzig Mann hohen Mauerwerk empor gleiten zu lassen... Nein, man musste ein paar Schritt zurück tun, um daran empor zu blicken, denn es war leicht in seine Richtung geneigt, wer davor stand, sah nur Stein über sich, keinen Himmel mehr... Im Inneren dann eine Wendeltreppe hinauf, auf halber Höhe ein Verhör durch die Wachen: wer man war, wohin mal wollte, was zu tun in wessen Auftrag, für wann die Rückkehr geplant sei und vor allem, ob man auch kein Wehrflüchtling sei...
Bei dieser Frage platzte Arnvidh vor Lachen. Fast hätte er die Wahrheit geantwortet, aber die hätte ihm niemand abgekauft. Wie fünfzig sah er nun einmal nicht aus, eher wie knapp über zwanzig – wie soll er also dreißig Jahre lang gegen Dämonen gekämpft haben? Fünf, gab er daher zur Antwort, und konnte genügend Fragen beantworten, die das wohl überprüfen sollten. Dann endlich durfte er eine Wendeltreppe auf der anderen Seite der Mauer in die Tiefe nehmen und trat... ins Licht. So kam es ihm vor.
Er muss wohl eingeschlafen sein, auf dem Hügel, von dem er Aussicht hielt. Jedenfalls liegt er auf einmal im duftenden Gras und um ihn herum tanzen lauter kleine Wesen, keins wie das andere. Ein bunt gekleidetes Männlein pfeift auf einer Flöte, ein anderes trägt Kletten und Zweiglein im wirren Haar, eine winzige Maid mit grünem Haar und großen grünen Katzenaugen hüpft keck auf seine Brust und schlägt Purzelbäume rauf und runter, ein knorriges Kerlchen mit einer Haut wie Baumrinde und knorrigen Gliedern schlägt eine Trommel, rothaarige Zwillinge mit den krummsten Hakennasen, die je ein Auge erblickte, singen mit den lieblichsten Stimmchen, die je ein Ohr hörte...
Ja, er ist sich ganz sicher, geträumt zu haben. Natürlich hat er geträumt. Nur eine Sache lässt sich nicht erklären: warum er nach dem Aufwachen den linken Schuh auf dem rechten Fuß trägt – und umgekehrt. So lief er gewiss noch nicht den ganzen Tag herum, diese Verwechslung kann ihm also nicht am Morgen selbst unterlaufen sein. Und an seinem Hemd da steckt ja auch noch ein fliederfarbenes Schleifchen... und es riecht auch so. Nach Flieder. Obwohl kein Frühling ist, und Flieder doch nur im Frühjahr blüht.
Doch lasst uns weiterziehen! Wozu ist man noch einmal hierher gekommen? Ah, ja. Einen Auftrag hat man. Auch eigene Interessen, aber die gehen niemanden etwas an als Arnvidh selbst. Sie sind auch schwieriger in Worte zu fassen als der Auftrag, den Anselm von Groning ihm antrug. Schon mehrmals hat Arnvidh für den fränkischen Händler, den er in Vandershall, Jongots Haupt- und einziger Hafenstadt kennenlernte, kleinere Aufgaben erledigt, gegen Münze und um der sicheren Zuflucht wegen, die er in Anselms Haus genoss, wann immer er in Vandershall weilte.
(Zu Arnvidhs Jugend gab es drei Hafenstädte, aber eine davon fiel im Kampf gegen die Dämonen, noch zu seiner Zeit, und wurde aufgegeben, die zweite wurde offenbar erst vor anderthalb Jahrzehnten aufgegeben, nachdem sie Jahr um Jahr das Ziel von Rûngarder Piraten wurde. Die gab es zu Arnvidhs Jugendzeiten auch noch nicht. Ach, aber er muss wirklich aufhören, so zu denken. Um den Anschluss an diese Zeit zu finden, muss er das Vergangene ruhen lassen! Herrje, um einen Gedanken zu Ende führen zu können, auch dafür wäre es besser, das Vergangene ruhen zu lassen!
Doch das ist leichter gesagt als getan.)
Anselm von Groning also hatte Arnvidh in sein Kontor in Vandershall gerufen und ihm folgendes angetragen: von einem fränkischen Handelspartner sei ihm Nachricht zugekommen, eine wichtige Warenlieferung sei nun gar bald zwei Monde überfällig. In Sydhavn – dem südlichsten fersländischen Hafen – hätte sie zur See gehen sollen, doch offenbar geschah dies nicht. Ob man nicht vor Ort nachforschen könne, was passiert sei.
In Sydhavn angekommen, erfuhr Arnvidh, dass die Ware niemals dort angelangte, weshalb das Schiff auch niemals damit in See stechen konnte. Verloren gegangen sei sie durch einen Raubüberfall in der Nähe von Ansdag.
Ansdag. Heute auch "der Weihort" genannt. Der Ort, in dessen Nähe vor rund 370 Jahren der schiffbrüchige Javrud auftauchte. Wo er die Völker im Kampf gegen die Dämonen vereinte.
Aber auch der Ort, vor dem Bruder Egil, ein mit Anselm befreundeter jongotischer Priester des Einen, Arnvidh vor seiner Abreise eindringlich warnte.
"In Fersland sind die Priester nicht wie wir", so warnte Egil ihn. "Bei uns ist der alte Glaube ja eigentlich auch verboten, aber letztlich zählt doch nur, wie viel ein jeder beiträgt im Kampf gegen den Feind. Dann kümmert es niemanden, was der oder die im eigenen Kämmerlein spricht, zu welcher Gottheit jemand seine Gebete lenkt... In Fersland aber, da gibt es Gegenden, in denen du aufpassen musst, ob du dich offen zu Gaja bekennen willst. Gerade im Weihort! Da hat Abt Halfir das Sagen. Und der lässt Abtrünnige gerne mal bei lebendigem Leibe verbrennen. Weiber zumeist, aber du musst nicht meinen, das würde dich schützen. Dein Aussehen allein! Das reicht oft schon. Dazu die Magie! Mehr als genug. Sogar des Fürsten zweites Weib... oder war's sein drittes? am Ende gar das vierte? das kann sich beim alten Soren keiner merken!... sogar des Fürsten Weib also ließ Abt Halfir verbrennen, für keine schlimmere Sünde, als dass man ihr nachsagte, sie habe sich von einem Feenmann betten lassen. Ist da etwas wahres dran und wenn ja, war sie willens oder wurde sie geschändet? Derlei Fragen interessieren den Abt vom Kloster Ansdag nicht. Jedes Feenbalg, jedes Kräuterweib, jeder Druide, jeder Berührte, ja, sogar Geisteskranke, Ehebrecher und Weiber von "sündhafter Wollust", oder solche, die bei Mondschein nackt um einen Baumstumpf tanzen, müssen dort um ihr Leben fürchten. Nicht um den Glauben geht es den Priestern dort, auf dass er die Menschen im Kampf gegen den Feind stärke, sondern einzig um Macht. Und offenbar unterrichtet man dort die Novizen weder in Logik noch in investigativer Methodik, noch in den Wissenschaften, noch in fundamentalen Gesetzesfragen."
An dieser Stelle kürzen wir die Rede des Priesters ab: er hat im allgemeinen wenig Lob für seine nördlichen Berufsgenossen übrig, dafür umso mehr Tadel. ("Völlig falsch interpretieren sie das Wort des Propheten! Bar jeder Logik! Das ist überhaupt nicht, was Javrud damit sagen wollte!" So ging das in einem fort, sobald Bruder Egil auf das Thema zu sprechen kam.)
"Am besten also, du machst einen großen Bogen um Ansdag! Und wenn dein Auftrag dich doch dorthin führt, dann verhalte dich so unauffällig wie möglich. Zieh dir eine Mütze oder Kapuze über die spitzen Ohren. Vermeide es, Leuten bei Sonnenlicht zu begegnen, dann sehen deine Augen nämlich am schaurigsten aus. Nicht das leuchtende Grün macht einem Angst, sondern das Schwarz drumherum! Am unauffälligsten wirken sie in der Dämmerung oder bei Kerzenlicht. Vor allem aber, Junge: lass niemanden dich beim Zaubern erblicken. Für den Abt von Ansdag ist jeder Zauber Dämonenwerk!"
Ansdag. Und dort muss Arnvidh nun hin.
Aber wenigstens die Sonne scheint. Und er hat heute schon mit Feen getanzt. Was soll er sich da den Tag verderben lassen? Ansdag, das ist ein Problem für morgen. Und so zieht Arnvidh durch die Landschaft, ein Lied pfeifend. Die Melodie stammt, wie ihm noch einer Weile des Rätselns einfällt, vom Lied der hakennasigen Feenschwestern... (Und über dem Lied fällt ihm nicht gleich auf, dass die Vögel verstummt sind... dass sein Pfeifen der einzige fröhliche Laut in Hörweite ist...)
Erst, als er in der Ferne ein ärmliches Gehöft entdeckt, davor drei Männer, die offenbar dabei sind, ein Gerangel anzufangen, verstummt Arnvidhs Pfeifen. Die Nachmittagssonne so gut es geht mit der Hand abschirmend, späht Arnvidh neugierig zu den dreien hinüber.