Es ist der vierte Tag, dass die Gruppe ohne Freydis unterwegs ist, und der erste, an dem die Zauberin so richtig vermisst wird. Ihre Meinung zu der seltsamen Schneise hätte Lîf sich jetzt zu gerne eingeholt – eben falls es keine natürliche Ursache hat, sondern Berührtenmagie oder gar abermals ein Fluch dahinter steckt.
Zunächst noch zögerlich tritt die Gruppe auf die Schneise hinaus und marschiert, mit jedem Schritt entschlossener, in Richtung Morgentor.
Aeryn schreitet voraus, es folgen Rogar und Abdo mit "respektvollem" Abstand, danach gleich Lîf und Arnvidh, während Wulfgar mit seinem Brakus und dem Maultier ausnahmsweise die Nachhut bildet. Man bleibt dicht zusammen und auf der alten akadischen Straße, die schnurstracks auf das Tor zuführt und besser erhalten wirkt, je näher dieses rückt.
Ihre Schritte klingen dumpf, die Stimmen ebenso. Kein Geräusch außer den eigenen ist zu hören. Kein Windhauch kühlt die heißen Gesichter. Die Luft ist gar ein wenig stickig, wie in einer engen Kammer ohne Fenster, welche lange verschlossen war. Arnvidh zudem kommt es so vor – oder bildet er's sich ein? – dass man viel länger für die Strecke braucht, als normal wäre. Doch ob dabei nun die zurückgelegte Strecke länger ist, als sie ihm zuvor erschien, oder das Marschtempo langsamer, als werde es durch eine Art unsichtbaren Widerstand gebremst, vermag der Feenfreund nicht zu sagen. Nach seinem Zeitempfinden müsste es hoher Mittag sein, als sie das Morgentor endlich erreichen, doch der Sonnenstand zeigt ihm, dass maximal eine halbe Stunde vergangen sein kann.
Und dann stehen sie endlich vor dem gewaltigen Tor und blicken geblendet an ihm empor. Bis in den Himmel scheint es zu reichen, von hier aus betrachtet. Weißer Stein in der prallen Morgensonne lässt sie alle blinzeln, selbst nach dem langen Marsch über die offene Schneise. Vier Wagen breit ist die Durchfahrt, von zwei dünnen Säulen unterteilt – die übrigens, wie man nun sehen kann, von einem meisterhaften Steinmetz solchermaßen behauen wurden, dass sie efeuumrankten jungen Bäumen gleichen – während sich links und rechts zwei ungleiche Gebäudeflügel anschließen, welche erst auf etwa ein Viertel Höhe zu einer den Betrachterblick beruhigenden Symmetrie zurückfinden. Zu beiden Seiten des Tores schließen Baum und Buschwerk sich lückenlos an das Mauerwerk.
Ein Tor im eigentlichen Sinne – also verschließbare Torflügel – sucht man vergebens. Die Durchfahrt scheint frei und offen. Kein Wächter zeigt sich, kein Zuruf stoppt die Herannahenden mit der Frage, wer sie seien und was ihr Anliegen wäre. Zur großen Erleichterung von Lîf und Arnvidh hört man allerdings wieder Vogelsang und raschelndes Blattwerk, und auch ein leichter Wind geht hier am Tor.
Das linke Gebäude ist gedrungen, etwa drei Stockwerke hoch, wie man es in einer der großen menschlichen Städte von einer Herberge erwarten würde. Das rechte Gebäude dagegen ist gewaltig. Fast schon vergleichbar mit dem Kloster Ansdag. Das Verhältnis spiegelt sich in den beiden Eingangstüren wieder, welche im Inneren der Durchfahrt einander exakt gegenüber liegen: die rechte ist ohne Zweifel für einen Riesen gedacht, die linke, mit einem guten Drittel der Höhe, für alle normalgroßen Wesen. Die Türen selbst sind aus Holz, nur leicht verwittert, mit Schlössern, die Rogar sofort anerkennend als Zwergenarbeit ausmacht.
Hinter dem Tor mündet die Straße in einem von niedrigen Gebäuden umringten Platz, dahinter erhebt sich dichter, wilder Wald.
Noch immer zeigt sich kein Elb beim Tor. Und auch keiner der verschollenen Gefolgsleute des Fürsten.
Auch der Hof dahinter liegt verlassen. Keinerlei Gerät oder Wagen steht herum, weder Pferd, Ochse, Hund noch Katze zeigt sich, kein Geräusch deutet auf nahe Handwerksarbeit. Auf den ersten Blick erscheint alles verlassen.