Tag 1 des Mirtul, 1348 DR (Frühling)
Wir schreiben das Jahr 1348 des Dalereckoning Kalenders. Der Frühling hat sich mittlerweile über Faerûn ausgebreitet und bis auf die entlegeneren Gegenden ist der Kontinent in hoffnungsträchtiges Grün getaucht.
Erst gestern wurde in Shadowdale das Greengrass Fest gefeiert, welches offiziell den Frühlingsanfang einläutet. Reisende aus verschiedenen Teilen Faerûns hatten sich dort eingefunden, teils durch Zufall, weil sie gerade in der Gegend waren und es sich daher anbot, teils sind sie extra angereist, um dem bunten Treiben beizuwohnen. Einen Tag später ist die Blumenpracht, mit der die kleine Stadt für das Fest geschmückt worden war, noch immer in der ganzen Stadt verteilt, um den kommenden Sommer heraufzubeschwören.
Ruhe ist eingekehrt. Das Gasthaus zum Alten Schädel hat wieder einige Zimmer frei und einige der Gäste sind froh, wieder unterwegs zu sein, vor allem, wenn man die Gerüchte bedenkt, nach denen es unter den Kellern noch offene Zugänge zum Unterreich geben soll.
Einige der Gäste haben sich einem kleinen Wagentrek angeschlossen, welcher mit Lebensmitteln und anderen Gütern unterwegs nach Nordosten, in Richtung des Moonsea ist.
“Ihr seid ja so still? Es waren wohl ein paar Bier zuviel gestern abend.”
Der alte Händler, der sich als Baran vorgestellt hatte, und welchem die Wagen gehören, lacht herzhaft, als er die Gesichter seiner Begleiter mustert. Er muß schon über fünfzig Jahre alt sein, vielleicht sogar noch älter, dennoch kann man bei ihm einen Enthusiasmus verspüren, welcher seinen abenteuerlustigen Mitreisenden in nichts nachsteht.
“Na gut, dann laßt mich euch eine kleine Geschichte erzählen, eine Geschichte, die vielleicht für eure weitere Reise nicht ganz uninteressant ist.”
Sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer gewiß, fährt der alte Mann fort.
“Ich hatte euch ja schon erzählt, daß unser Reiseziel die Stadt Neu-Phlan ist, und daß sie sich gerade erst im Wiederaufbau befindet. Früher, bevor Phlan zerstört wurde, habe ich dort gelebt, ich habe dort meine Kindheit verbracht vor vielen, vielen Jahren. Ich kann mich noch genau erinnern, wie immer die Handelskaravanen aus dem Osten kamen und seltsame Waren brachten, um wenige Tage später mit Handelsgütern aus der Region wieder gen Osten aufzubrechen. Mit vielen Widrigkeiten hatten sie zu kämpfen, so erzählten es die Karavanenwächter, ihre Geschichten fesselten uns noch Wochen nachdem sie Phlan schon wieder verlassen hatten. Natürlich war Phlan selbst schon ein Abenteuer für sich, in einer Gegend zwischen Sklavenjägern, Piraten und den grausamsten Monstern aufzuwachsen, ich kann bis heute nicht verstehen, wie man so verrückt sein kann, sich in so einer Stadt niederzulassen. Naja, doch, eigentlich schon.”
Wieder muß der Mann lachen, die Abenteuerlust in seinen Augen ist immer noch nicht verloschen, doch dann wird sein Blick ernster.
“Ich war gerade zehn geworden, ich weiß es noch genau. Mein Vater, welcher in der Stadtwache war, ich war mächtig stolz auf ihn gewesen, hatte mir an diesem Tag mein erstes Kurzschwert geschenkt. Glücklich rannte ich durch die Straßen und wollte mich der ganzen Welt entgegenstellen. Nichts konnte mich an diesem Tag aufhalten. Doch dann kamen die Drachen...”
“Der Himmel über Phlan verdunkelte sich, als sie mit ihren mächtigen Schwingen über die Stadt hinwegglitten. Ich stand da wie angewurzelt und konnte meinen Mund nichtmals schließen, so beeindruckt war ich von diesem Anblick. Die Faszination dauerte nicht lange an, als ein Regen aus Feuer und Säure über den Stadtmauern herniederbrach, nahm ich die Beine in die Hand und rannte so schnell ich konnte. Meine Eltern waren noch aufgeregter als ich. Meine Mutter weinte, während mein Vater seine Lederrüstung anlegte, um sich der Gefahr zu stellen. Der Kampf war schon lange verloren, aber wie sagt man so treffend, die Hoffnung stirbt zuletzt.”
“Er schickte Mutter und mich fort, fort von Phlan. Wir sollten fliehen, zusammen mit einigen anderen Bewohnern, die schnell das Weite suchen wollten. Er hätte mit uns kommen sollen, aber er war ein tapferer Mann und so werde ich ihn auch immer in Erinnerung behalten. Er gab sein Leben für uns, damit wir entkommen konnten. Damit wir leben konnten.”
“Niemand hatte mit der Brutalität gerechnet, mit der diese Armee über uns herfallen würde. Natürlich hatte sich das Ganze schon zuvor angekündigt, als immer weniger Händler Phlan erreichten, und als die ersten Flüchtlinge aus den umliegenden Dörfern kamen, um Schutz hinter unseren Mauern zu suchen. Erst vereinzelt, dann ganze Familien mit Wagen, auf denen sie ihr letztes Hab und Gut transportierten. Die Stadtführer waren unfähig, sich der Gefahr zu stellen, die Mauern wurden verstärkt und mehr Männer und Frauen in den Wachdienst übernommen, aber man war nicht annähernd auf das vorbereitet, was dann kam. Die Schlacht dauerte nicht lang, die Stadtwache war den anstürmenden Horden, welche im Schatten der Drachen über Phlan herfielen, nicht gewachsen. Alle, die nicht bereits das Weite gesucht hatten, starben an diesem Tag. Und mit ihnen starb die Stadt Phlan.”
“Das Ganze muß jetzt gut und gerne fünfzig Jahre her sein. Mittlerweile hat sich einiges verändert. Die Drachen sind weitergezogen, und haben nur Verzweiflung und Vereinsamung zurückgelassen, und eine Ruine, welche einst das größte Handelszentrum der Region war. Einige der finsteren Geschöpfe, welche ihre Armee gebildet hatten, oder besser deren Nachfahren halten sich immer noch zwischen den Mauern von Phlan auf.”
“Aber wir Menschen sind nicht so leicht unterzukriegen. Reiche Händler witterten Profit und haben sich daran gemacht, Phlan zu befreien und wieder aufzubauen. Einen kleinen Teil der Stadt hat man bereits zivilisiert und gesichert. Ein neuer Rat hat sich gebildet, um die Herrschaft über die Stadt an sich zu nehmen, zum Teil sind es die Kinder der damaligen Stadtvorsteher, die wie auch ich eine gewisse Verantwortung gegenüber der Stadt spüren, und gegenüber der Männer und Frauen, die sie trotz der hoffnungslosen Lage mit ihrem Leben verteidigt hatten. Das ist auch der Grund, warum ich diese Wagen nach Phlan führe. Ich möchte tun, was in meiner Macht steht, um den Wiederaufbau von Phlan zu unterstützen. Sie können dort jede Hilfe brauchen. Und wer weiß, vielleicht kann ich ja sogar in Phlan, meiner alten Heimat, meinen Lebensabend verbringen.”
Der Händler greift schließlich nach seinem Wasserschlauch und nimmt einen tiefen Schluck.
“Und ihr? Was führt euch nach Phlan, ist es das Abenteuer, oder die Hoffnung auf Profit, oder Ruhm? All das werdet ihr in Phlan finden können, da bin ich sicher. Aber es ist noch eine lange Reise, warum erzählt ihr mir nicht ein wenig von euch?”