Geschehen am zehnten Tag im Mirtul des Jahres 1373 DR, dem Jahr der Schurkendrachen
Sinnend betrachtete die junge Frau die Höhle, deren gähnend dunklen Eingang sie schon seit Anbruch des frühen Abends beobachtete. Die Dunkelheit machte ihr nichts aus, sollte irgendjemand oder etwas seinen Kopf aus der Höhle stecken, würde sie ihn schon lange wahrnehmen, bevor er den Eingang erreicht hätte. Früher war dies einmal der Bau eines Goblinstammes gewesen. Und sie hatte genügend Kämpfe ausfechten müssen, um ihr Dorf vor den ständigen Raubzügen der Goblins zu beschützen.
Reina strich sich eine silberblonde Strähne aus dem Gesicht. Stärke die Harmonie zwischen den Völkern, so lautete das Gebot ihrer Göttin, doch konnte sie kaum ein so wenig verhandlungsbereites Volk wie die hier ansässigen Gonlins damit gemeint haben.
Die Goblins hatten es ja nicht einmal geschafft, untereinander Frieden zu bewahren. Nur die Tatsache, das der Anführer dieser Höhle klug genug war, um auf seinen Schamanen Bruhjâk zu hören, hatte verhindert, dass dieser Stamm einem Bruderstreit zum Opfer gefallen war. Krig, so hieß der Häuptling, hatte wohl verstanden, dass Bruhjâk über einen taktischen Verstand verfügte, der in seinem Volk eher unüblich war.
Außerdem hatte nur Bruhjâks Eingreifen verhindert, dass Krig ihren Kopf für sich beansprucht hatte, als sie mit einem weißen Tuch hierhergekommen war, um mit den Goblins über ein Ende der Räubereien zu verhandeln. Anstand bei einem Goblin, das hatte sie nicht erwartet, vor allem, da sie sich inzwischen einen gewissen Namen unter diesen gemacht und oft genug durch List einen Überfall hatte verhindern können.
Und nun waren die Goblins plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Schon seit vier Wochen hatte es keinen Überfall mehr gegeben. Sie hatte befürchtet, dass die Banditen eine größere Übeltat planten, und hatte sich hierher aufgemacht, um auszukundschaften, was diese vorhatten. Sie hatte nicht damit gerechnet, die Höhle verlassen vorzufinden, und lag daher schon seit Stunden auf der Lauer, in der Hoffnung, einen möglichen Hinterhalt auszuspähen, bevor sie blindlings in eine Falle lief.
"Beim nächsten Mal werdet Ihr nicht mehr so glimpflich davonkommen, Menschenfrau." hatte Bruhjâk sie angeknurrt, als er ihre Fesseln löste. "Kommt Ihr noch einmal hierher, werde ich Euch nicht wieder schützen." Merkwürdigerweise hatten seine Augen eine ganz andere Sprache gesprochen als seine Worte. Keine Drohung, nur Anteilnahme hatte sie aus seinem Blick herausgelesen. Natürlich wusste sie schon damals, dass sie seine Warnung in den Wind schlagen würde, und sie war sich sicher, dass auch er das gewusst hatte. Und mehr als einmal hatte er, wenn sie einen weiteren Spionagegang gemacht hatte, plötzlich den Kopf gehoben und genau in ihre Augen geblickt, so als wisse er, dass sie da sei. Doch nie hatte er sie verraten.
Reina riss sich gewaltsam von ihren Erinnerungen los. Sie musste eine Entscheidung treffen. Sie konnte weiterwarten, bis sie Wurzeln schlug oder nach Hause zurückkehren. Oder sie konnte das Risiko eingehen und die Höhle betreten, um vielleicht
einen Grund für das Verschwinden der Goblins zu finden.