Langsam senkte sich Dunkelheit über Gratianopel, die hufeisenförmig angelegte Stadt am Fuße der Weißalpen und Hauptstadt Raphaelslands. Der Lacdrac glitzerte, als die letzten Sonnenstrahlen seine Oberfläche berührten und der strahlendweiße Himmel der Raphaeliten war in ein goldenes Licht getaucht. Unten in der Stadt wurden nacheinander die großen Laternen angezündet, die die breiteren Straßen beleuchteten, und die auf den Feldern um die Stadt herum - auf denen hauptsächlich Arzneipflanzen angebaut wurden, die dann im Himmel der Raphaeliten und in den unzähligen Klöstern in der und um die Stadt herum zu den hochklassigen Medikamenten, für die der Orden Raphaels bekannt war, verarbeitet wurden - arbeitenden Menschen kehrten in die Stadt zurück, um den Abend geruhsam zu verbringen oder - was weitaus häufiger war - im Vergnügungsviertel der Stadt, dem Loin, mit seinen unzähligen Tavernen, Theatern und kleinen Bühnen, ihr hart erarbeitetes Manna auszugeben. Gratianopel war eine malerische, wunderschöne Stadt am Westrand der Alpen, für die es seit der Ankunft des Ordens des Heilenden Erzengels nur bergauf ging. Die Ordensoberen ließen den Einwohnern große, in anderen Gegenden Europas fast undenkbare Freiheiten, und die Einwohner dankten es dem Orden mit unerschütterlicher Treue und glühender Verehrung. Und so wuchs Gratianopel zu der Metropole heran, die es heute ist: Zwar weitaus kleiner als etwa Roma Æterna oder der riesige Moloch Nürnberg, doch für Pilger fast genauso wichtig.
Von alledem konnte man hoch oben im Himmel der Raphaeliten wenig mitbekommen, einfach deshalb weil die Menschen, ja selbst die großen Kirchen und Bauten der Stadt von dort oben winzig klein wirkten. Ihr befandet euch in eurer Scharcella, einem kargen, im allgegenwärtigen Weiß Raphaels getünchten Raum, in dem außer den Hockern, auf denen die Engel die Nacht verbrachten, und einem großen Tisch keine besonderen Möbelstücke zu sehen waren. Dennoch war dies eine besondere Cella, denn sie lag an der Außenwand von Raphaels Leib, und so hatte man durch die riesigen Glasfenster einen atemberaubenden Blick auf Gratianopel im Vordergrund und die schneebedeckten Gipfel der Alpen, die sich bis an den Horizont erstreckten. Adomiel, der Urielit eurer Schar, blickte verträumt durch ebenjene Fenster und beobachtete den Einzug der Dunkelheit, jener Zeit, die der Erzengel Uriel besonders gesegnet hatte. Jesaiel, eure Ramielitin saß wie fast immer an dem großen Tisch, vor sich ein dickes, aufgeschlagenes Buch und war vertieft in die Lektüre. Euch erschien es immer wie ein Wunder, wie man in den kryptischen Symbolen und Strichen, die in einem solchen Buch aneinandergereiht, Seite um Seite, auftauchten, einen Sinn erkennen konnte, doch war dies die Segnung, die der Erzengel Jeremiel, der Bewahrer des Wissens, seinen Engeln mitgab. Der einzige eurer Schar, der fehlte, war Azariel, der Michaelit eurer Schar. Er befand sich gerade wohl bei Priorin Swantje, die ihn aus euch noch unbekannten Gründen zu sich gerufen hatte. Und so wartetet ihr nun auf seine Rückkehr...