Dass Joanne sich innerlich bereits auf eine tragische und schockierende Geschichte eingestellt hat, hilft ihr im Nachhinein wenig. Gums Erzählung lässt ihren Magen sich umdrehen und wirbelt in ihrem Kopf einen ganzen Sturm an Empfindungen auf, sodass sie sich mit einer Hand am Tisch stützen muss. Wäre die Beleuchtung in der Hütte besser, wäre es leicht zu erkennen, wie der ohnehin helle Teint der junge Frau sich in richtige Blässe verwandelt.
Dabei sind es nicht nur die Schrecknisse, die der Familie des Alten widerfahren sind, die sie so tief erschüttern; auch der verbitterte Zorn des Mannes auf die Peiniger seiner Lieben, ja auf die ganze aundairische Nation machen es der Edelfrau zu schaffen. Die Gelehrte ist keine verblendete Patriotin, die Missetaten ihrer Landsleute leugnen würde, doch der Umstand, dass sie gerade einem Opfer ebendieser Greuel gegenüber steht, macht es ihr nicht einfacher, sich ihrer Haltung klar zu werden.
"Eine zweite Klage wünscht er uns auf den Hals, wo doch gerade Karrnath nicht für seine saubere Kriegsführung bekannt ist!" Die Augen der Theologin richten sich eher verstohlen auf Talen, während sie einige scharfe Worte der Verteidigung herunterschluckt. Die trockende Theorie aus den Ethikvorlesungen hilft ihr gerade nicht weiter, merkt die Studentin.
"Seien wir ehrlich, mein Herr, jede Armee des Letzten Krieges hat die Schuld für unzählige Kriegsverbrechen auf sich geladen. Es wäre nicht gerecht, ein ganzes Land für die Ehrlosigkeit und Grausamkeit seiner Soldaten oder einzelner Offiziere zu verurteilen. Ich bin mir sicher, dass mach ein Aundairer eine Bürde tragen muss, die der Euren gleicht, dennoch wünsche ich Eurem Land nicht den Untergang," erwidert Joanne dem Friedhofswärter zunächst doch etwas schroff, als unbewußte Abwehrreaktion gegen den eigentlichen Schrecken.
"Bei den Neun, benimm dich nicht wie ein ungezogenes Bauerngör, Joanne Josephine!," scheltet sie sich gleich in Gedanken, "haben die Götter dich nicht Vergeben und Geduld gelehrt? Wie willst du dieser verlorenen, gequälten Seele jemals den Glauben wieder zurückbringen, wenn du Ignoranz mit Verblendung begegnest?"
Hinter Gums Rücken tastet die Hand der Götterdienerin nach der Talens, und die Adlige spricht erneut zum trunksüchtigen alten Mann, diesmal mit Milde und Wärme in der Stimme. "Bitte vergebt mir meine harten Worte. Ich hoffe, die Neun mögen mir diese Anmaßung ebenfalls verzeihen. Ihr habt mein aufrichtiges Beileid, für das was Euch und Eurer Familie zugestoßen ist, Herr Brocker. Eure Geschichte hat mich tief getroffen. Auch wenn ich den Krieg nie so hautnah erlebt habe wie Ihr, verabscheue ich diese Barbarei und Unbarmherzigkeit zutiefst, und kann nicht umhin, Mitschuld an Eurem Elend zu verspüren, selbst wenn weder ich selbst, noch mein älterer Bruder, noch meine Eltern jemals an den Frontkämpfen teilgenommen haben. Wenn Ihr dies wünscht, werde ich beten, dass der Frieden Eurer Lieben auf ewig ungestört bleibt. Doch auch Euch möchte ich nach meinen bescheidenen Kräften helfen, mag es auch niemals Euer Leid ungeschehen machen." Die Aundairerin macht eine kurze Pause, und als sie wieder das Wort aufnimmt, spricht die Theologin aus ihr: "Dort wo die Neun walten, walten auch stets die Sechs. In großer Not mag es den meisten leichter fallen, dem steten Ruf der Sechs zu folgen, und wenn sich viele ihrem Weg hingeben, überschatten sie mitunter die Macht und Güte der Heerschar. Niemals aber ist der Schattenschleier stärker, als das Licht, die Reinheit, die er zu bekämpfen sucht. Der Zweifel, die Verzweiflung, sind die Waffe der Dunklen, doch es ist kein Schwert, das den Schild des wahren Glaubens zu durchdringen vermag. Die Neun haben Euch nicht verlassen, mein Herr, sie sind jeden Augenblick da, mit ihrer Weisheit, Vergebung und Güte. Bitte sagt uns, wenn wir etwas für Euch tun können, Euch ein Zeichen der göttlichen Zuwendung geben. Wir hören Euch auch weiterhin gerne zu, wenn Ihr uns noch mehr mitteilen möchtet," versichert die Studentin dem Alten und drückt Talens Hand etwas fester.
Die Vorfreude auf einen gemütlichen, unterhaltsamen Abend hat sie ganz und gar vergessen und bezweifelt auch, dass sie noch aufkommen würde. Ein wenig bereut es Joanne sogar, auf diesem Ausflug bestanden zu haben.