Die Legende vom schwarzen Dolch
Nachtsang, die Dunkle, die Stadt ohne Regeln, so wird die Heimat der Siddhai Shara oft von jenen genannt, die diese Stadt nie selbst gesehen haben. Hinter dem oberflächlichen Eindruck der Anarchie verbirgt sich ein System, in dem Selbstverantwortung und Zusammenhalt - zumindest innerhalb einzelner Gruppen - das Leben bestimmen. Die "Stadt ohne Regeln" mag kaum offizielle Gesetze kennen, doch jeder Einwohner der Stadt kennt die Grenzen, die er einzuhalten hat. Und wer sie nicht kennt oder bewusst überschreitet, lernt sehr schnell, dass in Nachtsang jeder Bürger auch die Rolle der Stadtwache annimmt, wenn es notwendig ist. Und in dieser Stadt hilft kein noch so guter Advokat, um den Konsequenzen des eigenen Handelns zu entkommen.
Der berühmteste Fall, in dem es einem Mann beinahe gelungen wäre, sich über die Regeln der Stadt zu erheben, liegt etwa drei Jahrhunderte zurück. Der elfische Assassine Tokuai Shizen versuchte, eine eigene Assassinen-Gilde aufzustellen und die bestehende Gilde auszulöschen. Dies alleine wäre tatsächlich noch kein Verbrechen in Nachtsang gewesen; doch ging Shizen bei der Durchführung seines Plans so rücksichtslos vor, dass er selbst die abgebrühten Bewohner Nachtsangs daran erinnerte, was Furcht bedeutet.
Berüchtigt für seinen Kampfstil und seine Waffe, einen langen, schwarzen Dolch, galt Shizen lange als unbesiegbar. Der Kampf der beiden Assassinen-Gilden dauerte fast zwei Jahre. Die alte Assassinen-Gilde, die Roten Panther, wurde in dieser Zeit fast gänzlich ausgelöscht. Nur die besten und geschicktesten Kämpfer überlebten, doch sie wurden eher zu Rebellen, die im Geheimen leben mussten, ständig auf der Flucht vor der neuen Macht.
Als er mit den Roten Panthern seinen großen Gegner so gut wie besiegt hatte, zeigte sich jedoch die wahre Natur Shizens. Er verlangte nach immer mehr Macht - und ließ von seinen Gefolgsleuten fast wahllos die Mächtigen der Stadt ermorden. Sein Ziel war eindeutig: Die absolute Kontrolle über die Stadt.
In den zwei Jahren zuvor hatte die dunkle Siddhai Shara den Elfen oft gewarnt: Er bewege sich auf einer Grenze, und sobald er diese Grenze überschritt, würde sie ihn stellen. So kam es, dass Shara ohne weitere Vorwarnung in die Villa Shizens eindrang. In kürzester Zeit erledigte die Siddhai mehrere Dutzend der Assassinen, die Shizen treu ergeben waren, bis sie schließlich vor dem Elfen selbst stand.
Es heißt, die beiden Gegner wussten in dem Moment, in dem sie sich Auge in Auge gegenüberstanden, dass sie gleichwertige Gegner waren. Für beide war dies eine neue Erfahrung: Niemand hatte sich je zuvor ernsthaft gegen die Macht der beiden wehren können.
Und so warteten die beiden Widersacher, in ständiger Kampfbereitschaft, zögerten den Beginn dieser Schlacht heraus, bis einer von ihnen einen Fehler machen würde. Drei Tage und drei Nächte standen sie einander gegenüber, ohne eine einzige Bewegung, ohne einen einzigen Schlag oder Tritt.
Schnell hatte sich herumgesprochen, was geschehen war, und die Bewohner der Stadt hatten sich - in respektvollem Abstand - versammelt, um dem Kampf beizuwohnen.
Doch dann ging alles unglaublich schnell. Nur einen kurzen Moment war Shizen ins Wanken gekommen, nachdem er drei Tage ausgeharrt hatte. Shara nutzte den Augenblick, und ihr Schlag war so kraftvoll, dass nicht nur Shizen davon durch die Luft geschleudert wurde, sondern alle umstehenden Gebäude durch die Welle der Kraft zerstört wurden.
Denn Shara hatte nicht einfach nur ausgeharrt. Sie hatte die Kraft der Welt in sich gesammelt, und mit jeder Minute des Wartens war sie stärker geworden.
Shizen hatte nicht einen einzigen Schlag gegen sie ausführen können.
Als Shara die Ruinen nach dem Körper ihres Widersachers durchsuchte, konnte sie ihn jedoch nicht finden. Tokuai Shizen war verschollen, und bis heute weiß niemand, was aus dem gefährlichen Elfen und seinem schwarzen Dolch geworden ist.
Eines jedoch ist bekannt: Seit diesem Kampf hat es niemand mehr gewagt, sich gegen die Herrschaft Sharas aufzulehnen, und niemals wieder versuchte jemand, die Macht über Nachtsang an sich zu reißen.