Auch der nächste Tag verlief streng nach Plan. Dem Plan der Zwerge. Von Donnerbaum aus, hielt man sich südlich und nahm die schmale Strasse, die entlang des Niewinterwaldes führte. Mit jeder zurückgelegten Meile sank die Temperatur merklich. Der Atem kondensierte in der Luft und die Mittagspause mit einer heissen Suppe wärmte die Glieder. Die Anstrengungen des Vortages hatten ihre Spuren hinterlassen. Muskelkater an den seltsamsten Stellen machte sich breit. Der Winter hatte die nun durchquerte Gegend fest im Griff. Dreissig Zentimeter hoch liegender Schnee erschwerte das Vorankommen und das abendliche Axttraining mit frierenden Fingern liess jeden abgewehrten Hieb doppelt so heftig erscheinen.
Das ersehnte Abenteuerleben war keineswegs so romantisch, wie es in den vielen Abenteuergeschichten am Kaminfeuer, in den Tavernen Niewinters, klang. Ein wärmendes Kaminfeuer im Rücken, ein kühles Starkbier in der Hand, vor sich ein dampfender Braten mit heissen Klössen. Das waren einige der Tagträume, die das Stapfen durch die Kälte erträglicher machten. Nur Aariyah und Tason schien die beschwerliche Reise nicht so sehr zuzusetzen. Doch das beharrliche Schweigen der Zwerge und das Fehlen angeregter Gespräche während des Marschierens durch den Schnee schlug allen aufs Gemüt.
27. Mirtul - bewölkt - -4 °C bis 4 °C
Der dritte Tag der Reise führte wieder dichter an den Niewinterwald heran. Die Strasse schmiegte sich eng an den Wald und führte passagenweise durch kleine Baumgruppen. Niedrige Büsche und Sträucher boten den Pferden und Ponys etwas Nahrung und die dortige dünne Schneeschicht bot kaum ein Hindernis. Gildung schien mit der zurückgelegten Strecke zufrieden und fand sogar ein paar Worte des Lobes beim abendlichen Training. "Ihr stellt euch alle schon sehr viel besser an!"
"Morgen werden wir Kaninchenbeeren erreichen." unterrichtete Gildung die Schicksalsucher am Lagerfeuer. "Die Leute in Kaninchenbeeren begrüssen Reisende auf zwei verschiedene Arten, müsst ihr wissen. Bei beiden Arten der Begrüssung liegen mit Armbrüsten bewaffnete Einwohner versteckt in den Sträuchern und Büschen am Wegesrand. Was dann passiert, scheint sehr von der Laune eines örtlichen Geistes, namens Agatha, der im Niewinterwald haust, abzuhängen. Die Bewohner Kaninchenbeerens sehen in diesem Geist sowas wie eine Beschützerin. Ist Agatha wegen irgendetwas aufgebracht, sind es die Bewohner Kaninchenbeerens für gewöhnlich auch. Das ist der erste und schlimmere Fall der Begrüssung. Denn dann lassen die Landeier ihren Unmut an vorbeikommenden Abenteurern aus, die sie für das aufgebracht sein Agathas verantwortlich machen. Böse Zungen behaupten, sie würden erst schiessen und später Fragen stellen. Andere behaupten, dass sie gar keine Fragen stellen und nur schiessen. Aber keine Sorge, als Handelskaravane muss man sich darüber keine Sorgen machen." erzählte Gildung weiter.
"Ist Agatha nicht erregt, fragen sie Reisende, ob sie etwas zu verkaufen haben, beziehungsweise etwas ankaufen wollen. Teppiche und solchen Kram. Normalerweise endet der Abend in der Stadthalle und man trinkt jede Menge überteuertes schlechtes Bier, das man am nächsten Morgen bitter bereut. Oje oje, was für ein Gesöff! Ich erzähle euch das alles, damit ihr Morgen nicht aus Panik durchdreht und es auf einen Kampf ankommen lasst, wenn eine Armbrust auf euch zeigt. Wir regeln das schon!" sagte Gildung und nickte zu seinen Leuten.
28. Mirtul - bewölkt - -4 °C bis 4 °C
Nach der zweiten ereignislosen Übernachtung im kalten Schnee, reiste man weiter in Richtung Osten. Schon am frühen Nachmittag würde man in Kaninchenbeeren sein, sofern alles nach Plan lief. Die Aussicht auf ein oppulentes, einfaches Mahl beflügelte die Schritte. Sogar die Pferde spürten die gute Laune und wieherten gelegentlich oder schnaubten fröhlich. Je näher man Kaninchenbeeren kam, desto häufiger fand man Gruppen kleiner und grosser Bäume am Wegesrand. Oft waren diese Bauminseln von dichtem Unterholz umgeben und dichte Büsche versperrten die Sicht. Ideale Plätze für einen Hinterhalt.
Als Tason und Frederick plötzlich "Hinterhalt!" schrien, blieb die Handelskaravane abrupt stehen. Die Herzschläge der in die Falle getappten erhöhten sich augenblicklich. Adrenalin wurde durch den Körper gepumpt und Hände griffen an die Waffen. Sogar Qariel konnte sich der Routine und dem Drill der Zwerge nicht entziehen - selbst seine Hand ruhte auf dem Schaft der Axt, die man ihn genötigt hatte zu tragen.
Von überall konnte man beinahe tierisch klingende Laute vernehmen. Von Links, Rechts, Vorne und sogar von Hinten sprang der Feind aus den Büschen und dem Unterholz hervor. Ein Feind in einer ungeheuren Überzahl. Bestimmt mehr als 100 menschenähnliche Kreaturen, alle stolze 1,80 m gross, mit grüner Haut, kurzen Fängen und plattgedrückten Nasen sprangen und formierten sich. Die kalte Gewissheit, dass es sich tatsächlich um die Kreaturen, welche die Schicksalsucher bisher nur aus Geschichten kannten, handelte, lieferte Gildung, als er verächtlich "Orks!" ausspuckte.
Doch eines kam den Schicksalsuchern seltsam vor. In den bekannten Geschichten hatten die Orks nie saubere Rüstungen angehabt. Die Meisten trugen makellose Kettenhemden. Zur Bewaffnung zählten nicht nur Schwerter und Säbel, sondern auch Speere, Langbögen und Armbrüste. Selbst die Orks passten nicht in das Bild der dreckigen und zerzausten wilden Kreaturen. Keiner dieser Orks war als dreckig zu bezeichnen. Auf frisch bemalten Schilden prangte das Bild eines blutrünstigen Panthers.
Noch bevor das übliche Chaos eines Kampfes Einzug halten konnte, brüllte eine laute Stimme in gebrochener Gemeinsprache durch die kalte Winterluft: "Kein Kampf! Blutpanther will euch nicht töten! Xred möchte, dass ihr besucht ihn. Kommt, seht Xred! Ihr kämpfen nicht - wir kämpfen nicht. Ihr kämpfen, dann werdet ihr gefangen! Okay?"