14.Kytorn 1373 TZ, Jahr der Abtrünnigen Drachen, Seefels an der Schwertküste, Spät in der Nacht, Schlafsaal
Auch in der Nacht lässt der Regen nicht nach. Wütend peitscht der Wind die nassen Strähnen gegen die zugigen Fenster des Gasthauses. Sogar das Aufprallen der hohen Wellen an den zerklüfteten Strand ist zu vernehmen. Vereinzelt brennen in der Stadt noch Lichter, deren verschleierter Schein in die verschiedenen Schlafräume dringt, doch irgendwann verblassen auch sie.
Der Schlafsaal, in dem Bleewyn und Galethien nächtigen, ist gut gefüllt und die Geräusch- und Geruchskulisse ist reichhaltig. Irgendwo, nicht weit von den Beiden, die zwei Betten nebeneinander bezogen haben, grunzt ein stämmiger Zwerg und spricht im Schlaf von einem Oger, den er fernab der Welt, in einem Landstrich, dessen Namen die Beiden nicht verstehen können, erlegt haben will. Als der Traumkampf des Zwerges endlich beendet ist, können die Zwei einschlafen. Doch das Unwetter und die Stimme des Zwerges verfolgen sie bis in den Schlaf.
"Bleewyn, du schläfst doch nicht etwa, oder? Verdammter Bengel! Wach auf!" Bleewyn fährt hoch und sieht überrascht in das Gesicht seines Lehrmeisters. Ist er eingeschlafen? Er befindet sich in der kleinen Werkstatt seines Meisters, der ihn streng ansieht. Die buschigen Augenbrauen sind fest zusammen gezogen und zeigen, dass der Zwerg es nicht lustig findet, wenn der kleine Gnom ihm bei seinen Lehren nicht zu hört. "Wenn du nicht willst, brauche ich dich ja nicht unterrichten. Gibt genug Jungs wie dich da draußen, die Juwelenschleifer werden wollen. Kannst du mir glauben." Der Zwerg wendet sich ab, fährt sich durch den Bart und stapft zu einem niedrigen Tisch hinüber, wo einige Juwelen in den unterschiedlichsten Farben und eine eigenartige Gerätschaft liegen, die sich der Zwerg auf den Kopf setzt, um die Juwelen damit zu untersuchen. Bleewyn will ihn gerade fragen, was das für ein Gerät ist, als ein lautstarkes Klopfen an der Tür zur Werkstatt zu vernehmen ist. "Ja ja, ich komme ja schon!" brüllt sein Lehrmeister und geht, mit der Konstruktion auf dem Kopf, zu der Tür, um sie zu öffnen. Da aber fliegt die Tür schon durch den Raum. Bleewyn fährt zusammen und duckt sich genau im richtigen Moment, bevor die Tür hinter ihm an der Wand zerschellend verschwindet. Der Gnom zwinkert einmal, bevor er sich wieder umsieht. Er scheint fest gewachsen, kann sich kaum bewegen oder etwas sagen, so dass ihm auch die Sprache weg bleibt, als er die Beine und die Hüfte eines Ogers in der Tür stehen sieht. In diesem Moment schiebt sich zwischen den Beinen eine kleine Kreatur hindurch. Sie bleibt neben dem Zwergenlehrmeister stehen, der weiterhin verblüfft auf die Ogerbeine schaut. Bleewyn kann den Priester Glittergolds erkennen, der ihn in den Lehren des Spaßvogels unterrichtet hat. "Sag mal, was soll denn das werden, Bleewyn? Willst du den ganzen Tag verschlafen? Du weißt doch: Nur der frühe Gnom spielt den Streich!"
Als Bleewyn schließlich die Augen öffnet, ist es taghell. Das Unwetter hat sich verzogen und eine aufgehende Sonne begrüßt den kleinen Gnom. Ob ihm der Traum irgendetwas sagen will? Oder hat sich hier der Schalkhafte nur einen Scherz mit ihm erlaubt?
Der Efeu ist noch da. Sie kann es kaum glauben. Ihre Eltern haben ihn nicht entfernt, obwohl er doch nur ein weiteres Symbol für die Aufsässigkeit ihrer Tochter darstellt. Sie weiß nicht, wieso sie überhaupt zurück gekommen ist. Diesem Leben ist sie längst entflohen, und eigentlich hatte sie nicht vor, jemals wieder hierher zurück zu kehren. Doch nun steht sie vor dem Haus, in dem sie groß geworden ist, und in dem sie sich so oft mit ihren Eltern hat herum plagen müssen, weil diese einfach nicht verstehen wollten, dass sie sie nicht beerben würde. Handel, Heirat, womöglich noch ein Haus voller Kinder. Am liebsten würde sie sich schütteln vor Abneigung, aber etwas scheint sie gebannt zu haben. Es ist wohl nicht so, dass sie es schlecht gehabt hat, und der Anflug eines Lächelns huscht über ihr Gesicht, als sie sich ihre empörten Eltern nach ihrer ersten Schlägerei vorstellt. Wie haben sie sich damals aufgeregt? Und was haben sie sich nicht alles für Bestrafungen für sie einfallen lassen? Als ob auch nur eine davon sie sonderlich hätte beeindrucken können. Sie atmet tief durch und erinnert sich an den Geruch der Straße und des Hauses, in dem sie aufgewachsen ist. Sie würde es nie zugeben, nie um alles in der Welt, aber manchmal hat sie schon an ihre Eltern gedacht. Doch niemals wäre sie hierher zurück gekehrt. Immer wieder hat sie mit Grauen daran gedacht, was ihre Eltern ihr womöglich für einen Mann ausgesucht hätten. Zehn oder zwanzig Jahre älter, verstockt, arrogant und ohne viel Haupthaar, aber mit einer Menge Geschick fürs Geschäft. Denn das war doch alles, was ihre Eltern je bei ihrer Erziehung berücksichtigt hatten. Jetzt weiß sie wieder, warum sie fort gegangen ist. Und sie wünschte, sie könnte jetzt auch gehen. Aber jemand ruft sie. Aus dem Haus heraus. Die Tür öffnet sich. Ihre Eltern, wie sie vor einigen Jahren aussahen, stehen da und lächeln sie an. "Wir haben ihn gefunden. Den perfekten Mann für dich." Galethien versucht den Mann im Halbschatten hinter ihren Eltern zu erkennen. Ist das...ist das etwa Vaêl? Aber was hat denn der Kleriker hier zu suchen? In dem Moment kracht es links von ihr lautstark. Ein Oger bahnt sich seinen Weg die Straße entlang und hält direkt auf sie zu. Soll sie kämpfen oder heraus finden, wer das da in der Tür ist? Da aber erscheint ein Gesicht vor ihren Augen...
"Hey, Mädchen, wenn du das nächste Mal deine Kette schwingst, pass auf, dass kein Zwerg im Weg rum steht", grunzt sie der Zwerg vom gestrigen Abend an, der von dem Oger gesprochen und ihr vermutlich einen Teil ihres Traumes beschert hat. Dann schreitet er kurz aus und bewegt sich ein wenig wackelnd zur Tür des Schlafsaals. Als Galethien sich umsieht, dabei feststellend, dass sie ihre Stachelkette tatsächlich in der Hand hält, schlafen die Meisten noch - was deutlich an dem Schnarchen zu erkennen ist - , bis auf den kleinen Gnom Bleewyn, der sitzt auf seinem Schlaflager und reibt sich gerade die Augen. Als sie aus dem Fenster sieht, stellt sie zu ihrer Beruhigung fest, dass der Morgen klar und sonnig ist. Perfekt für eine kleine Rauferei.
14.Kytorn 1373 TZ, Jahr der Abtrünnigen Drachen, Seefels an der Schwertküste, Spät in der Nacht, Gästezimmer
Vaêl und Grimtrak haben noch eine Weile wach gelegen. Das dritte Bett in ihrem Zimmer bleibt in dieser Nacht leer, doch für Gespräche sind die Beiden zu müde und Vaêl wird noch immer verfolgt von den Worten des alten Claas. Grimtrak dagegen widmet sich der Pflege seiner Axt. Als er sich schließlich zu dem Kleriker umwendet und ihm eine gute Nachtruhe wünschen will, ist Vaêl schon eingeschlafen. Nachdem auch das letzte Licht in einem der Fenster erloschen ist, das von ihrem Zimmer aus einsehbar ist, legt sich auch Grimtrak hin und schläft über die Beobachtung der eilig vorbei ziehenden Wolken ein.
Er sitzt hinter dem Fass und zittert vor Angst. Er kann sich nicht erinnern, sich jemals in seinem Leben so gefürchtet zu haben. Hätte er sie doch nur eher bemerkt. Hätte er nur schneller fliehen und allen Bescheid geben können. Doch nun ist es zu spät. Was kann er tun? Kann er überhaupt etwas tun? Soll er sich diesen Kerlen stellen und womöglich sein Leben riskieren? Hätte das überhaupt Sinn? Sein Atem rennt so schnell wie ein gehetztes Tier und er fürchtet, dass die Piraten ihn hören könnten, dass Garudas ihn hören könnte. Er kann das Lachen dieses Mannes, dieses Ungeheuers, in seinen Ohren widerhallen hören, während wieder ein Kopf sich von dem dazugehörigen Hals trennt, blutig auf das Pflaster fällt und schließlich in das Hafenwasser kullert. Eine Zeit lang bleibt der Kopf über Wasser und die toten Augen richten sich auf ihn, schauen ihn an. Vaêl glaubt, dass er sich übergeben muss, aber wenn er das macht, dann wird man ihn sehen und es wird sein Kopf sein, der alsbald im Wasser landet. Er muss ausharren, er muss es schaffen. Er muss irgendwie überleben. Es wird Rettung kommen, der Morgenfürst wird sein Flehen erhören. Der Kopf versinkt im Hafenwasser und verschwindet. Er weiß nicht, ob er darüber froh sein soll. Die Augen können ihn nicht mehr anstarren, doch gleichzeitig ist der Tod nun endgültig. Vaêl möchte für den Mann, für all die geköpften Männer beten, aber da schleifen zwei Piraten eine junge Frau heran. Ihm stockt der Atem. Nein, nicht sie. Das dürfen sie nicht. Er will schreien, aber sein Mund und seine Zunge bewegen sich nicht. Alle Luft scheint aus seinem Körper entwichen. Nicht sie! Nicht jene, die ihm von der Schönheit der Welt erzählt hatte, von all den Märchen und Legenden, die ihn dort erwarteten. Nicht sie, die ihm soviel Kraft und Mut gegeben hatte, wenn er hoffnungslos da gesessen und sich gefragt hatte, wo die zu finden waren, die ihn geboren hatten. Garudas lacht, seine Stimme quält sich in Vaêls Kopf. Er sieht wie er seinen Krummsäbel hebt und auf den Hals seiner Ziehmutter zielt. Da endlich, da endlich dringt der befreiende Schrei aus seiner Kehle.
Er fährt hoch, sein Herz presst sich schmerzhaft gegen seine Rippen. Einen Moment glaubt Vaêl, er würde keine Luft mehr bekommen, doch dann fallen die ersten Strahlen der Sonne in den Raum. Seine Lungen füllen sich, sein Herz beginnt wieder gleichmäßig zu schlagen. Nur ein Traum. Nur ein Traum.
Unwürdig. Unwürdig hat er ihn genannt. Er glaubt seinen Ohren nicht, er kann das alles nicht glauben. Und warum sind diese Scheißhaufen auch noch auf seiner Seite? Bestimmt haben sie es auf seinen Posten abgesehen. Sie wollen ihn stürzen, ihn vertreiben, weil er besser ist als sie. Stärker, kräftiger und...wütender. Er versucht seinen Zorn zu besänftigen. Nur einmal darf er sich nicht hinreißen lassen. Nur ein einziges Mal darf er durch seine Wut nicht alles kaputt machen. Er muss jetzt einen klaren Kopf bewahren und sich überlegen, wie er gegen ihn vorgehen will. Ihm muss etwas einfallen. Doch immer wieder diese Gedanken, diese furchtbaren Gedanken, dass man ihn hinter seinem Rücken madig macht wie ein altes Stück Brot. Er läuft auf und ab. Die Umgebung ist verschwommen, er kann sie nicht mehr wahrnehmen. Alles in ihm konzentriert sich auf die Hinterlist, die sich sein Gegner ausgedacht hat. Aber nicht mit ihm. Das wird er nicht zulassen. Er wird seinen Posten, den er sich so hart erkämpft hat, nicht einfach aufgeben. Nicht kampflos. Er wird ihn vernichten! Ganz ruhig, ganz ruhig. Seine Muskeln spannen sich an, sein Blut fließt immer schneller. Er fühlt die Hitze in sich aufsteigen. Er kann es nicht länger unterdrücken. Er kann nicht. Er muss es tun. Er muss sich für diese Schmach rächen, und wenn er ihm den Schädel einschlägt! Der Versuch, seinen grenzlosen Hass zu unterdrücken, beginnt ihm körperlichen Schmerz zu bereiten. Schließlich richten sich seine Augen auf etwas, das aussieht wie eine Tür, auch wenn er es nur verschwommen sehen kann. Er muss gehen. Er muss es beenden.
"Ich muss es beenden", sagt er laut und wacht über seine eigenen Worte auf. Als Grimtrak sich aufsetzt, ist es bereits früh am Morgen. Vaêl kniet vor dem offenen Fenster im wärmenden Sonnenlicht. Der Halb-Ork kann bemerken, dass der Kleriker seine Lippen bewegt, wahrscheinlich betet er. Vielleicht sollte er ihn lieber nicht dabei stören.
14.Kytorn 1373 TZ, Jahr der Abtrünnigen Drachen, Seefels an der Schwertküste, Spät in der Nacht, Zweites Gästezimmer
Wie der Wirt es ihm versprochen hat, bleibt das Zimmer, das Xanxus genommen hat, leer. Und er musste dafür gerade einmal vier Silbermünzen mehr bezahlen als die Anderen. Eine Weile noch denkt der Magier darüber nach, wie sich alles gewendet hat und ein kleines Lächeln erscheint in seinem Gesicht, bevor er sich auf sein Bett setzt, sich anlehnt und sich langsam in eine tiefergehende Trance hinüber gleiten lässt. Noch eine Zeit lang kann er das Rauschen des Windes und das Prasseln des Regens vernehmen, doch dann wird es still und dunkel um ihn.
Immereska. Die Welt mag ihm so vieles bieten, aber die Schönheit dieses Tales und der darin befindlichen Stadt wird sie niemals übertreffen können. Er steht auf einem der Hügel, die Festungsheim umgeben und für ihren Schutz sorgen. Es ist sehr lange her, dass er dieses Bild zuletzt gesehen hat. Und hat er es damals überhaupt richtig gesehen? Hat er nicht vielmehr darüber hinweg geblickt, seine Augen bereits auf die Welt hinaus gerichtet? Er ist gegangen, weil er sich nicht an seine Familie, den Hof und seine Stellung binden lassen wollte. Er wollte dem entfliehen. Diese Stadt kann ihm nicht das bieten, was er will. Er weiß, dass das wahre Wissen nicht in den Büchern Immereskas zu finden ist, sondern in der Welt, die hinter diesen Hügeln liegt. Aber ist das alles? Ist das alles, wofür es sich lohnt, solange zu leben? Lohnen sich Wissen und Macht überhaupt? Was will er eines Tages damit anfangen? Was nützt es ihm? Er schüttelt den Kopf, doch mehr in Gedanken als mit dem Einsatz seines Körpers. Woher kommen nur auf einmal solche Überlegungen? Er hat sich für dieses Leben entschieden und das doch aus gutem Grund. Er hat Immereska vorerst den Rücken gekehrt. Aber wird ihm seine Familie diesen zweiten Affront gegen sie verzeihen? Werden sie ihm vergeben können, dass er fort gegangen war, nachdem sie ihm diese Ausbildung hatten zu kommen lassen, nachdem sie sich um ihn bemüht hatten, obwohl er sich in seinen ersten Lebensjahren kaum einer Tätigkeit länger gewidmet hatte? Vielleicht werden sie ihn verstoßen. Und wohin soll er dann gehen? Was soll er dann tun? Er versteht sich selbst nicht. Woher kommen nur plötzlich diese Zweifel? Er muss etwas tun. Er muss sich einfach nur umwenden und gehen. Der Anblick des Tales muss all diese Gedanken in ihm geweckt haben. Er muss sich nur umdrehen. Einfach nur umdrehen.
Xanxus öffnet die Augen und blinzelt, weil ihm die aufgehende Sonne direkt in die Augen scheint. Bisher sind seine Nächte ruhiger gewesen, sein Geist konzentrierter, doch es scheint, als hätte die Seeluft einen unangenehmen Effekt auf ihn. Wie gut, dass die Nacht vorüber ist.
15.Kytorn 1373 TZ, Jahr der Abtrünnigen Drachen, Seefels an der Schwertküste, Früh am Morgen, Schankraum
Als die Sonne sich vollständig über den Horizont erhoben hat, betretet ihr den Schankraum erneut und stellt fest, dass dieser vollkommen leer ist. Nun ja, nicht vollkommen. Da ist der Wirt und eine Magd, die noch einige Überbleibsel vom gestrigen Abend auf den Tischen beseitigt. In der Ecke, in der ihr am gestrigen Abend gesessen habt, sitzt auch Jorik und verschlingt ein Frühstück, bestehend aus Speck, Rühreiern und einem Kanten Brot. Neben ihm sitzt die Valkur-Priesterin Mildred. Sie beißt gerade in ein Brot mit Käse und natürlich liegt vor ihr aufgeschlagen ein großes und umfangreiches Buch, das sie interessiert liest, während sie sich nebenher mit Jorik unterhält. Als dieser aufblickt und euch entdeckt, winkt er euch zu. "Morgen!" brüllt er durch den ganzen Raum, obwohl er auch so gut zu verstehen gewesen wäre, und wedelt mit einem Stück Speck in der Gegend herum. Manieren scheinen in Seefels nur bedingt an den Tag gelegt zu werden, was vor allem Xanxus auffällt. "Kommt, setzt euch! Hey, Morl, bring den Kindern mal Frühstück, die sehen ja ganz ausgehungert aus. Und schreib's auf meine Tafel!" Der Wirt murrt leise und meint nur, dass auf der Tafel kein Platz mehr zum Anschreiben ist, nickt euch aber wohlwollend zu und bereitet euch ein Frühstück vor.