Ich erlaube mir, meine eigene Interpretation des Textes mit deiner ein wenig zu vergleichen.
Zunächst muss ich sagen, dass ich mich in der Politik nicht auskenne, insbesondere nicht in der internationalen Politik. Religion andererseits finde ich klasse, bin da also voreingenommen. Also, ich habe den Artikel mal überflogen und finde daran viel blabla und andererseits auch so manches sehr richtiges. Trotzdem finde ich ihn aber auch einseitig.
Wie ich ihn verstanden habe, sagt der Altkanzler, dass die (Welt-)Religionen sich zwar für den Frieden aussprechen, aber es dennoch eklatant offensichtlich wäre, dass damals wie heute die politischen Agitatoren im Namen der Religionen Gewalt ausübten. Diese benutzen die Religion unter dem Vorwand ihre eigenen Motive durchzusetzen. Wenn er sagt, dass die Missionierung Andersgläubiger zwangsläufig Konflikte und in manchen Fällen Kriege hervorruft, dann will ich hinzufügen, dass dies im Allgemeinen für jede Ideologie gilt. Er selbst hat dies an anderer Stelle (s.o.) auch so angedeutet, aber nicht den Bogen zur Hauptargumentation geschlagen hat. Also gilt dies auch für Marktmodelle und politische Modelle, die m.E.n. das Leben der Menschen direkter betreffen.
Einseitig finde ich es, dass der Altbundeskanzler über sehr viel abstraktes spricht, was für den Mob keine Rolle spielt. Für die gibt es nur "die" und "wir" und es geht m.E.n. in vielen Fällen schlichtweg um unerfüllte (Grund-)Bedürfnisse. Das hat erstmal wenig mit Religion zu tun.
Ich sehe auch eine gewisse Einseitigkeit in diesem kurzen Auszug aus seinen Gedanken. Die Einseitigkeit besteht meiner Meinung vor allem natürlich in der Betrachtung der Problematik aus einen (inter-)nationalen Betrachtungswinkel, also eben aus der Sicht der Führungsriege. Diese nationale Betrachtung muss meiner Meinung nach jedoch auf diese Abstraktheit zurückgreifen, um sich verständlich zu machen. Das setzt zwangsläufig die individuelle Auseinandersetzung mit diesem Thema etwas außen vor, äußert sich also nicht zu dem Problem des Einzelnen mit der Verwobenheit politischer Konsequenzen, die sich aus Religion, Ideologie und Wirtschaftstheorie gleichermaßen ergibt. Aber er muss es auch, schließlich richtet er sich letztendlich in seinem Gedanken an die Führung. Der Punkt mit den unerfüllten Transzendentalgütern oder auch Grundbedürfnissen spielt jedoch im weiterführenden Gedanken dennoch eine große Rolle, ohne Frage. Die Religion, in diesem Artikel, ist nur der Aufhänger seines Argumentationsstranges, auch gerade wegen der Situation in den islamischen Ländern, wie sie sich religiös, kulturell und politisch im Moment präsentiert.
Dann finde ich es auch einseitig, dass wir immer über den religiösen "clash of civilizations" reden. Was ist mit dem clash der Marktmodelle oder der unterschiedlichen Fortschrittsstufen? Ganz banales Beispiel: Müssen wir im nahen Osten Plakate aufhängen, auf denen eine Frau in Dessous abgebildet ist? Volker Pispers sagte einmal: "Ich wundere mich nicht, dass man uns Bomben unter den Arsch legt. Ich wundere mich, dass es so wenig' Bomben sind!"[1]
Es wird häufig der religiöse
Clash of Civilizations angeführt, das ist richtig. Bei Helmut Schmidt spielt dieser Begriff jedoch eine umfassendere Rolle.
Der »Clash of Civilizations« ist denkbar geworden. Er ist denkbar geworden zwischen dem Islam und dem Westen als Ganzem, zwischen Israel und dem Iran, zwischen Nord- und Südkorea, zwischen China und den USA.
In diesem Stück finden wir religiöse Probleme, eindeutig, aber eben auch Fragen der Marktmodelle. Und in Schmidts Argumentation ließe sich auch das Problem der Entwicklungsstufen nahtlos einfügen, sie lassen sich jedoch selten in der Diskussion von religiösen und wirtschaftlichen Faktoren per se trennen.
Alleine die Überschrift sagt aus, dass dieser Gedanke an religiöse und politische Führer geht, auch wenn es sie natürlich in den seltensten Fällen erreichen wird. Aber der entscheidende Punkt von Schmidts Argumentation ist nicht, ob Religion schadhafter ist oder ein Wirtschaftssystem schädlicher ist. Vielmehr beschreibt Schmidt durch den Artikel Symptome der Religionen (er spricht ja sowohl von den Friedensseiten, als auch von den Kriegsseiten) und auch der unterschiedlichen, politischen Systeme (welche genau nach denselben Kriterien zu betrachten sind, was die Frage des Friedens angeht, auch wenn sie nicht exakt dasselbe darstellen). Der Hauptpunkt ist also der Friede, von daher nicht von ungefähr, dass er Kant und die Schrift vom Ewigen Frieden anführt. Und genau deswegen steht es mit der Kritik der Wirtschafts-, Politik- und Religionssysteme genau in einer Argumentationsreihe, denn er verweist vor allem darauf, woran es trotz aller Entwicklung (ob positiv oder negativ ist in Schmidts Argumentation da sogar letztendlich unerheblich, denn er verweist auch auf den "missionarischen Charakter" der Demokratie, des Sozialismus, des Kommunismus etc.) mangelt. Und deswegen verweist er auf die Universal Declaration of Human Responsibilities
[2]. Weshalb seine Argumentation, meiner Ansicht nach, gerade in diesem Punkt nicht einseitig ist, sondern äußerst vielfältig und dadurch in seinem Facettenreichtum für mich auch überzeugend. Natürlich ist es auf drei Seiten schwer komplett zu umreißen, erfordert auch gewisse Vorkenntnisse (Kant und der Ewige Friede, die Religionen an sich etc.) und ist wohl kaum als direkte Umsetzung zu denken. Aber so hat dieser Artikel mehr Aussagekraft als der französische Rebell der Stunde
[3] auf seinen knapp dreißig Seiten zusammenbekommt. Ja, dieser Text tut sich für mich positiv hervor, weil er nicht alleine eines der Phänomene der allgemeinen Kritik der heutigen Zeit heraussuchen will und es für weitergehende Erklärungen für Probleme heranzieht, also meinetwegen "unersättlicher Kapitalismus", oder die "imperialistischen USA", oder eben auch die "islamischen Fundamentalisten". Er versucht eher im Anklang in allen Punkten zu sehen, was fehlt. Da ist der Punkt der Toleranz und der Zusammenarbeit am Ende zwangsläufig die Erkenntnis des Mittels, zumindest nach der Argumentation, auch wenn natürlich folgende Stelle nachklingt.
Hans Küngs Initiative, aus den Religionen ein »Weltethos« zu entwickeln, ist deshalb begrüßenswert, wenngleich ich mir keine Illusionen über den Erfolg mache.
Und wiederum finde ich es einseitig, wenn wir immer über die Religion reden, in deren Namen Konflikte geführt werden. Ich bekomme viel seltener mit, dass davon berichtet wird, dass im Namen der Religion Konflikte abgebaut oder verhindert werden oder eben auch gewaltfrei protestiert wird, z.B. buddhistische Mönche und Nonnen in Myanmar[4].
Da gebe ich dir vollkommen recht. Wir hören selten von den Friedensmachern. Es liegt an der Art, wie wir mit dem Thema medial und persönlich, in den meisten Fällen, umgehen. Wenn du mit den meisten Atheisten über Religion sprichst, werden sie auf die Kreuzzüge oder das Stillhalten der Kirche zur Zeit des Nationalsozialismuses verweisen und vor allem auch die Kondomsachen und anderen Ethikprobleme in der katholischen Kirche, auch wenn sie damit dem Christentum an sich bei weitem nicht gerecht werden. Als Beispiel möchte ich im Folgenden einfach, wenn auch weiter unkommentiert, den dritten Antwortkommentar auf Schmidts Artikel zitieren.
3. Relegion - des Menschen Grundbedürfnis?
Nun ist es raus:
Wir, die unreligiösen Ostdeutschen sind keine Menschen, sondern nur affenartige Gestalten und müssen deshalb seit mehr als 20 Jahren um unsere Gleichstellung betteln?
Wer kommt denn auf solchen Blödsinn, dass der Mensch nicht ohne Religion leben kann?
Politik und Religion sind doch nur das Zugpferd für die Durchsetzung ökonomischer Interessen mit Hilfe der Politik UND Religion ist Politik - auch wenn mancher es nicht wahr haben möchte.
Seit Jahrhunderten bestimmt die Kirche in den Ländern, in denen es an ausreichender Bildung fehlt, die politischen und ökonomischen Geschicke und das mit Hilfe einer religös - hörigen Allgemeinheit.
Die Kirche ist ein knallhart geführtes Wirtschaftsunternehmen, das auch über Leichen geht, wenn es sein muss - bis hin zum Krieg.
Religion beruht - genauso wie der Kommunismus - auf der Sehnsucht der Menschen nach Frieden und sozialer Sicherheit.
Diese Sehnsucht kann und wird nicht erfüllt werden können, weil sie auf der Gleichschaltung der Köpfe unterhalb der Machtzentren der jeweiligen Diktatoren beruht.
Ja, auch der Papst ist ein Diktator, weil er immer noch nicht anerkennt, dass der Mensch ein Wesen ist, das stets bestrebt ist, sich fortzupflanzen - zur Erhaltung der Art.
Aber was macht die "heilige katholische Kirche":
Sie spricht ihren unterstellten Priestern dieses Menschenrecht einfach ab.
Nehmen wir die Inquisition und den Stalinismus, dann waren beide zwar verschieden, dienten aber dem gleichen Zweck, der Macht!
Dasselbe können wir mit allen anderen Religionen ebenso durchexerzieren. Wir werden im Umgang mit dem Islam die diplomatischen und politischen Querelen in der Türkei finden, die Resäkularisierung unter Erdogan quasi und die umstrittenen Aussagen eines seiner Minister, dass das Ziel des türkischen EU-Beitrittes vor allem in der Islamisierung Europas zu liegen habe
[5]. Wir werden vor allem auch eben von Selbstmordattentäter, von der angeblich zerdrückenden Last des Islams und von ihren Fundamentalisten hören. Wir werden aber wohl kaum vom Sufismus
[6] hören. Wenn wir über Judentum sprechen, hören wir meist von den Orthodoxen an der Klagemauer und den ihnen anhaftenden Attributen oder wir sprechen über die Kriegsverbrechen, welche manche Juden am Gaza-Streifen begehen. Wir reden weder bei Christentum, Islam, Judentum oder beim Hinduismus von den friedensstiftenden Elementen (den Buddhismus nehme ich insofern aus, weil der zumindest der tibetanische Buddhismus sich doch in der Art abhebt, dass der Dalai Lama sich in Deutschland großer Beliebtheit erfreut, und man deswegen auf den stillen Widerstand gegen China verweist.) Deswegen erachten wir die negativen Attribute der Religionen gerade in heutiger Zeit als deutlich wirkmächtiger als die friedensstiftenden Funktionen. Obwohl sich dasselbe auch auf Staatssysteme spiegeln ließe, denn so soll jeder Schüler nach den Lehrplänen der Geisteswissenschaftler zu einem Demokraten erzogen werden bspw. So feiern wir auf der ganzen Welt Demokratisierungsbewegungen, auch wenn sie nicht immer gut sind usw. Oder wir berichten auf der anderen Seite nur von dem bösen, neuen Wirtschaftsriesen China, "der nur monetäre Macht zusammenklaubt, Truppen aushebt und Freidenker einkerkert".
Es ist schade, aber diese Darstellung, da gebe ich dir vollkommen recht, ist wirklich einseitig im Allgemeinen.