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Das liederliche Spiel

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Mako Jinsei:
Vor wenigen Tagen wurde Mako in den Kerker geworfen. Eine kleine langsam zu Grunde gehende Pflanze als einziges Stück Natur wurde etwas später hinzugestellt. Nun entstand wie aus dem Nichts ein gewaltiger, sonderbarer, wunderschöner Garten um die Gefangenen herum. Und Tǔ war wieder da. Sie war es wohl die ganze Zeit, nur endlich sprach Tǔ wieder zu ihnen.
Mit offenem Mund betrachtete Mako das Schauspiel um sich herum, kniete sich hin und ließ seine Hände die Erde unter sich spüren. Während er sich umsah bildete sich eine Melodie in seinem Kopf. Er griff nach seiner Yueqin und begann zu spielen, das ewige Wandeln des Gartens zelebrierend. Aus jener Melodie bildeten sich weitere und bald war es Mako so, als könne er Zeitalter unter der Inspiration des Gartens weiterspielen, ohne eine Melodie zu wiederholen.

Nun verkündete Tǔ die Möglichkeiten, die sie hatten und Mako war es, als hätte seine Entscheidung festgestanden, seit der Ankunft im Garten. Doch er dachte noch ein wenig darüber nach, ohne mit dem Spielen aufzuhören.
Er war kein Mörder. Niemand konnte von ihm verlangen jemanden zu ermorden, gleich was das Opfer verbrochen hatte, gleich was danach geschehen würde. Er sah drei seiner Leidensgenossen in die Ungewissheit durch das Tor schreiten und Mako wurde bewusst, dass er nicht sterben wollte. Er wusste nicht wie das Jenseits beschaffen war, hatte bei derart religiösen Themen immer weggehört oder abgelenkt. Er war weder so alt wie Xū, noch so verdrossen und vom Leid geprägt wie Hong.
Außerdem, was kümmerten ihn die anderen Bewohner des Reiches, von denen er kaum etwas gehört hatte, bis zu seiner Gefangennahme. Er hat Jahre lang gut gelebt, ohne sich um andere kümmern zu müssen, hat sich selten länger als ein paar Wochen an Bekanntschaften erinnert und nun hat er erfahren wie schlecht es vielen Leuten im Reich geht, denen es auch so schlecht ging, als es Mako noch gut ging.
Sich opfern für Menschen, die er gar nicht kannte, bis vor kurzem gar nicht realisierte, dass es sie gab? Das käme ihm nicht in den Sinn.
Reichten nicht drei Opfer von den Denunzianten? Mussten wirklich auch die anderen ihre körperliche Existenz beenden um das Reich zu retten?

Mako ließ sich zurück fallen und schaute in die sich wandelden Baumkronen über ihn, während er die zweite Melodie anstimmte.
"Tǔ", begann er seine Entscheidung zu verkünden, "Ich bleibe hier."

Sūn Ai:
Es war schwierig oder eher unmöglich etwas wie ein Zeitgefühl an jenem Ort zu haben, aber dauerte bis Sun sich entschieden hatte.

Der Fluch der Ungewissheit schien Sūn Ai immernoch zu verfolgen. Selbst der Garten schien keine Erlösung von ihrem Fluch zu bringen. Allem voran trafen Tus Worte sie tief. Er sprach genau von dem, was sie stets wollte: das Richtige tun. Wirklich darüber nachgedacht, hatte sie allerdings erst seitdem sie im Gefängnis war. Es schien allerdings, dass je mehr sie darüber nachdachte, umso mehr erfasst sie die Unsicherheit, umso mehr entfernt sie sich davon, überhaupt etwas zu tun. ‘...Manchmal verzweifeln wir auf unserer Suche nach dem Richtigen... , hallte es in ihrem Kopf nach.

In Geschichten, hört man stets von Helden, die große Taten vollbringen, die für eine größere Sachen einstehen. Sun war keine Heldin, lebte sie doch für sich alleine. Wie wohl viele Menschen, wahrscheinlich die meisten, war sie sich selbst am nächsten. Es gab in ihrem Leben keine Werte, wie zum Beispiel Gerechtigkeit oder Freiheit, und auch keine Personen für die sie lebte. Bisher hatte sie einfach geschaut das sie über die Runden kommt. Mit dem was sie kann, den nächsten Tag überlebt. Ihre Gedanken waren stets im hier und jetzt und nur hin und wieder mal in der Vergangenheit. An die Zukunft und ihr gesamtes Leben hatte sie keine Zeit verschwendet.

Jetzt stand Ai allerdings vor einer Entscheidung, die ihre bisherige Leichtigkeit des Seins auflöst, ja sogar unerträglich macht. Die ganzen letzten Tage hatten auf diesen einen Moment geführt, waren eine Vorbereitung. Ihr leben wurde auseinander gerissen an dem Tag, wo sie gefasst wurde und jetzt musste sie sich entscheiden. Vier Pfade wurden geöffnet, aber welchen sollte sie wählen. Welcher war der Richtige. Der Richtige für sie. Die Entscheidungen der Anderen waren für sie größtenteils nachvollziehbar mit dem Wissen, das Sun über sie besaß. Danshis  Wahl wirkte, wie die Konsequenz aus allem, was sie von ihm mitbekommen hat. Auch Hongs Suche nach Freiheit schien richtig. Mako schien eine Muse im Garten zu finden und die Musik war sein Leben.  Lus Wut konnte sie persönlich spüren. Sie selbst hätte gerne den Narren erschlagen, kam sie doch durch ihn in diese Situation. Allerdings war sie keine Mörderin und anscheinend auch Lu nicht.
Was sollte Sun tun? Was war die Konsequenz aus ihrem Leben?

Immernoch saß sie relativ reglos im Garten und folgte ihren Gedanken. Blickte umher in der Landschaft und betrachtete die Aktionen der Anderen.

Die größte aller Fragen, war ihr eigener großer Fluch. Was sollte sie tun? Was ist der Sinn des Lebens. Genauer gesagt, was ist der Sinn ihres Lebens. War sie doch soweit gekommen, dass jeder einen eigenen Sinn hat. Wichtig war es für etwas ein zu stehen, etwas zu riskieren, zu verlieren, zu suchen, zu finden, ... zu leben. Es ging nicht darum, das eine Richtige zu tun. Denn was war das eine Richtige. Wer vermochte es zu wagen, dies zu beurteilen und zu bewerten? Für seine Werte zu stehen und zu handeln, darum ging es. Was aber war die Konsequenz ihres Lebens?

Vier Pfade, das war alles worauf ihre Entscheidung runter gebrochen wurde. Vier aus einer Anzahl der Unendlichkeit. Alleine das schien zu viel für sie. Welchen Weg sollte sie nehmen?
Langsam steht sie auf und beginnt zu laufen. Immer in kleinen Schritten. Recht wirr. Mal läuft sie in eine Richtung, bleibt stehen und kehrt auf dem Punkt um.
Den Kaisersohn erschlagen? Eine Prophezeiung in Erfüllung bringen, dass war etwas das eine Heldin tat. Die Chuangs haben das Spiel mit gespielt, davon besessen an der Macht zu bleiben. Ihnen aber wirklich etwas vorwerfen konnte sie nicht. Was hätte sie, an ihrer Stelle getan? Hätte sie anders gehandelt? Schuld daran, dass der Garten sich schließt, wollte sie auch nicht sein.
Den Narren erschlagen? Er hatte sie in diese Lage gebracht. Ihm gebührt die Schuld. Die Strafe wäre verdient. War es das wert, den Garten zu vergiften? Nein, das bestimmt nicht. Sie war auch immernoch keine Mörderin, vor allem nicht ohne  Grund. Nicht für so einen Grund.
Langsam schritt sie zum Narren und Kaisersohn. Ihr Kopf ging löst sich von der Umgebung und fixiert die beiden.
“Was auch immer ihr jetzt tut, bedenkt, dass es mehr beeinflusst, als nur euer Leben.“
Ihr Blick beginnt wieder zu wandern, so wie sie selbst.
Sich opfern um den Garten zu befreien? Sich selbst für etwas größeres Aufgeben, war auch etwas, dass man von Helden erwartet. War sie nicht zu jung. Hatte sie nicht noch vor ein paar Tagen Angst gehabt vor dem Tod und hätte alles getan, um ihn zu umgehen? Wieso sollte sie so etwas tun, für jemanden den sie nicht kannte? Sich selbst aufgeben, konnte sie das wirklich?
Für immer im Garten bleiben? Es war ein wirklich schöner Ort. Zeigte er einem ständig, dass Leben. Zum Leben gehört aber auch der Tod und Verfall. Der Garten, aber war unendlich. War die Unendlichkeit etwas, dass sie ertragen konnte? Würde sie es aushalten oder würde die Unsicherheit sie verfolgen, sie sich jeden Tag fragen, ob sie dass Richtige getan hat?

Wie sollte sie sich entscheiden? Waren doch alle 4 Pfade nicht perfekt. Wieso konnte nicht ihr normales Leben weiter gehen? Sie hatte keine Probleme damals gehabt? Nichts vor sich gehabt, mit dem sie nicht klar gekommen ist?

Sun blieb stehen und wandte sich um. Das war es doch, was auch Teil des Lebens war. Neue Situation zu überwinden. Es geht nicht immer darum, dass Richtige zu tun. Sondern sich zu entscheiden nach dem eigenem Empfinden und mit dem zu Leben, was man getan hat und daraus zu lernen.
Langsam setzte sie sich wieder in Bewegung und Schritt zum Tor.
Der Tod. Eine Erlösung. Eine Entscheidung.

Shǎzi:
Verloren in der Zeit - Ewiger Tag
Und dann begann das Flackern wieder. Während einer nach dem anderen sich opferte, begann das Flackern wieder. "Was tut ihr? Was tut ihr? Ihr solltet doch mich zur Schlachtbank führen! Ich solltet doch mich zur Schlachtbank führen? Wie könnt ihr gegen den Willen des Ouroboros handeln? Wie..." Shǎzi gewann für einen Moment die Überhand und zeigte mit dem Finger auf den Kaisersohn. "Ihr seid der Letzte! Seid nicht das Letzte, Chuang Diyan! Seid nicht das Letzte! Nehm diesen Knüppel und richtet mich!"

Des Kaisersohnes Hand zitterte, welche Last er trug. Er stand auf, blickte sich im Garten um und atmete tief durch. Er ging an Mako vorüber und betastete die Rinde jener Bäume, welche zu Toren der Selbstaufopferung wurden, blickte dann wieder auf den verfallenden Garten. "Ich weiß nicht viel, vielleicht weiß ich nichts. Dieser Garten hat mir vor Augen geführt, dass ich gar nichts weiß. Vielleicht hat es mir gar gezeigt, dass all mein Wissen um Krieg und mein Reich mir nichts nützte, denn es war ein Wissen in Ketten. Aber ich erkenne, dass ihr vergiftet seid, Narr, und dass Chuangs Herrschaft enden wird, wenn ich euch erschlage, obgleich ich es nach euren Taten fast so sehr ersehne, wie ihr es tut."
Shǎzi sprang auf, stürmte zu dem Knüppeln und warf einen je Mako und Chuang Diyan zu. "Palavert nicht über Wissen und Erkenntnis, schlagt den Schädel mir ein!"
Doch der Kaisersohn schüttelte entschieden mit dem Kopf und warf den Knüppel heraus in die bewaldete Landschaft, wo er sich in ein paar Ästen verfing und hängen blieb. "Ich kann nicht zurückgehen nach Chuang und ich kann die Dinge nicht mehr ändern. Zu viele haben sich geopfert für eine bessere Welt. Und wer sagt, dass ein Garten für alle und eine weise Herrschaft Chuangs sich ausschließen? Und wer sagt, selbst wenn sich das ausschließt, dass die Welt der weisen Chuangs bedarf? Vielleicht ist Weisheit nichts außer eine räudige Floskel für jene Ideale, die wir anstreben und doch nicht verstehen. Was interessiert mit jetzt noch Reichsräson, wenn die Wahrheit mein Reich transzendiert? So will ich auch transzendieren, auch wenn die Furcht mein Herz zu zerreißen droht." Er zeigte mit dem Finger auf den Narren, welcher auf den Knien um seinen Tod bettelte.
"Seht ihr, Narr! Auch ich bin voll der Furcht, obgleich ich 10.000[1] Männer in der Schlacht geschlagen habe. Ich habe dem Tod auf dem Schlachtfeld so oft in die Augen geblickt und dennoch ist die Furcht immer geblieben und die Angst. Beides hat sich nicht vertreiben lassen. Wenn ich die Furcht auf dem Schlachtfeld so verlieren drohte, gewann ich die Furcht tatenlos im Bett an einer Krankheit zu sterben. Und ich habe diese Furcht noch immer, die Furcht umsonst zu sterben, und die Angst, was mir geschieht, wenn ich transzendiere. Aber es geht nicht mehr um mich, das habe ich jetzt verstanden, da selbst ein unschuldiges Mädchen sich opfert."
Dann wandte der Kaisersohn sich um, ohne einen Blick auf den Narren zu werfen und durchschritt das Tor.

Der Narr sprang auf und warf selbst den letzten Knüppel in den Wald. "Niemand will sich meiner erbarmen. Verdammtes Pack! Aber so ist der Menschen Wille. Sie kümmern sich nur um das Gesunde, um das Reine. Alles andere verachten sie, alles andere verdammen sie. Ihre Gnade ist das...."
Mako sah, wie der Narr mit einem Mal verschwand und Bu Cao vor ihm stand, mit glasigen, alkoholisierten Blick, zusätzlich berauscht von der Schönheit des Gartens. Er berührte Mako an der Schulter, er weinte vor Freude.

Die Gärten der Erlösung findet nur,
Wen stete Sehnsucht nach Erlösung leitet.
Der Kindheit Unschuld weist die leise Spur,
Doch klarer Glaube sichere Schwingen breitet.

Die Rosen leuchten dort in ruhigem Rot,
Sie spiegeln alle der Erlöser Wunden.
Von ihrem Glanz wird bleicher selbst der Tod -:
Doch, die Versöhnung suchen, werden all gesunden.[2]

Dann trat auch Bu Cao durch das Tor, in seine Erlösung. 1. 10.000 als Zahl der Unendlichkeit 2. nach Karl Ernst Knodt

Menthir:
Epilog
Gāo, Táng und Jiǎ spielten im Dreck des inzwischen trockenen Fluss Wāo. Als die drei Jungen von ihren Müttern geboren wurden, floss noch ein Rinnsal durch das, was den Geschichten nach, mal ein mächtiger Fluss gewesen sein soll. Das Flussbecken war tief, der Fluss hatte einstmals tiefe Spuren in das Land gegraben. Gāo, Táng und Jiǎ hörten sich gerne die Geschichten der Alten an. Sie erzählten Geschichten darüber, dass das karge Land mit dem roten Sand einstmals bewachsen waren und sie zeigten den Kindern die merkwürdigen Strukturen im Umland, die einstmals wunderschöne Reisterassen gewesen sein sollen und dann gab es noch den uralten Ginkgo[1]. Ein massiver Baum, bei dem sich nicht einmal Tángs Großvater, ein Mann der mindestens achtzig Sommer erlebt hatte und ein ruhiges, freundliches Gemüt hatte, daran erinnern konnte, dass dieser Baum jemals eine Knospe trug.

Gāo, Táng und Jiǎ , sie spielten im Dreck, weil sie nichts mehr hatten. Provinzbeamte hatten ihrem Dorf das letzte Gold genommen und Reiternomaden hatten die Viecher entführt, doch sie spürten nicht dieselbe Verzweiflung, die ihre Eltern spürten. Sie wussten zwar, dass Gāos und Jiǎs Großeltern, die sie sehr mochten, verstorben waren, aber sie wussten nicht, dass ihre Großeltern in die Berge getrieben wurden, um dort zu sterben[2]. Dass man sie in die Berge getrieben hatte und sie gegangen waren, damit die anderen im Dorf genug Nahrung hätten und mit den spärlichen Wasservorräten bis zum nächsten Regen auskommen würden. Gāo, Táng und Jiǎ, sie hatten gehört, dass ihre Väter gestritten hatte, dass man den langen Marsch durch die Ebene antreten müsse, um Wasser zu finden und ein Überleben zu finden, doch sie hatten auch Angst, weil viele die Reise wohl nicht überleben würden. Sie alle hatten Angst, auch Gāo, Táng und Jiǎ, aber sie spielten auch gerne. Die ganzen Eltern des kleinen Dorfes waren zusammenzukommen, um ein letztes Mal zu beraten, ob sie nun zögen oder auf die Regenzeit warten sollten. Die Nahrungsvorräte waren knapp und das Wasser fast verbracht. Vielleicht müssten noch mehr Ältere in die Berge zum Sterben gehen, damit Gāo, Táng und Jiǎ leben durften. Das Alte, es sollte dem Jungen Platz machen. Doch die drei Jungen, sie spielten trotzdem.

Die Sonne brannte heiß, als sie das leere Flussbett entlang wanderten und sie überlegten sich, dass sie in den Schatten gehen sollten, um sich nicht die Haut schmerzhaft zu verbrennen. Táng war das einst passiert, er sah aus wie der rote, trockene Sand. Schnell rannten sie zum alten Gingko, um sich hinter seiner breiten Rinde und den mächtigen Ästen vor der Sonne zu schützen. Und während sie darüber sprachen und lachten, wie Jiǎ beim Spielen in den Lieblingskrug seiner Mutter gefallen ist und sein Gesäß nicht mehr befreien konnte, bis seine Mutter den Krug mit wütender Miene zerschlug, blickte Gāo nach oben in die Äste der Bäume und da sah er es.
Ein einzelnes Blatt, was aussah wie Mutters Lieblingsfächer (Anzeigen)Schnell liefen sie nach Hause, um den Älteren von ihrer Entdeckung zu erzählen. Ein Wunder war geschehen. 1. Gingko 2. In manchen japanischen Provinzen, gerade in armen Provinzen, war es üblich, dass man alte, hilflose Menschen die Berge trieb -oder sie auch ging -  in Zeiten der Not, damit die jüngeren Menschen nicht an der Not starben. Dasselbe kennt man von iranischen Bergvölkern oder auch bei den Indianern.

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