213. Tag des Jahres 1037, in unserer Sprache 22. Tag des Affen im Jahr des gläsernen Drachen
Muvaji und Canxah hatten Gua Ya erreicht und gerade die Sakeschenke des Mannes Chieng verlassen, um sich gegenüber in einem alten Heuboden zur Ruhe begeben. Muvaji schlief trotz seiner Verwundungen schnell ein, zu groß war die Erschöpfung von der kopflosen Flucht und die Schmerzen waren nur noch ein dumpfes Trommeln in der Tiefe des Körpers. Es wurde ein einschläfernder Rhythmus, der alsbald die Überhand gewonnen hatte. Canxah hingegen war unruhig, besorgt und aufgewühlt durch die Flucht. Aber auch die Zukunft, die da in das sommerliche Chuang zog, sah mehr düster aus als dass sie Hoffnung zu versprechen schien. Canxah hatte ein ungutes Gefühl, die Zukunft versprach viel persönliches Leid und jede Menge Schweiß.
Ein lauter Knall, eine zugeschlagene Tür, ließ Canxah die Augen wieder öffnen. Es war die Schenkentür. Waren die Häscher schon in Gua Ya? Ein Blick auf den Mondstand verriet, es waren erst drei Stunden vergangen? War Qinglong Jin so schnell? Lag es in seiner Macht?
Panik machte sich in der jungen Frau breit, sie war kurz davor, Muvaji zu wecken und hielt nach möglichen Fluchtwegen Ausschau. Aber dann fiel ihr das Pferd auf, welches vor einem kruden Wagen gespannt war, voll beladen mit Fässern und anderen Krimskrams. Jemand war in die Schenke gegangen, aber es war keine berittene Truppe. Canxah atmete erleichtert auf und beschloss nachzuschauen, wer solch einen Lärm veranstaltete.
Sie öffnete die Tür zur Schenke und betrat diese ein zweites Mal an diesem Abend. Der Verursacher schien leicht zu identifizieren. Ein acht Fuß großes Ungetüm von Mann stand vor einem Tisch, an dem ein Halbling und eine Frau saßen. Das große Ungetüm versuchte sich an den viel zu kleinen Teetisch zu setzen, auf dem ein verwaistes Xiangqibrett lag. Canxah hatte das Gefühl, sie würde einen Moment blass werden. Nicht nur, waren sie die anderen entflohenen Verbrecher, die durch die vom Halbling fingierte Hinrichtung ihr Leben behalten hatten, sonder sie war nicht die einzige Frau unter den zu Hängenden, sie war in den Minuten ihrer Hinrichtung nicht aufmerksam genug gewesen und hatte die andere Frau leichtsinnig für einen Mann gehalten. Canxah schüttelte unauffällig den Kopf und rieb sich die Augen. Es war wirklich eine Frau.
Die gemeinsame Flucht stellte sich als gute Ausgangslage für ein Gespräch dar, die unmittelbare Gefahr, welche vor dem Dorf lauern mochte und die argwöhnischen Blick der letzten, alten Besucher der Schenke, welche nach süßem Schweiß rochen und Anzeichen eines harten Leben eines Bergmannes zeigten, ließen sie näher zusammenrücken und in konspirativer Art verhandeln. Doch eines war klar, ein grundsätzliches Vertrauen unter ihnen konnte es nicht geben. Worte, Floskeln, Metaphern wurden ausgetauscht, das Ergebnis blieb dasselbe wie am Galgen. Sie alle waren verurteilt, ob schuldig oder unschuldig war völlig gleich, und sie alle hatten momentan größere Chancen zu überleben, wenn sie sich zusammentaten. Die Wildnis war unbarmherzig, die Steppe mit ihrer Hitze und dem Mangel an Wasser gnadenlos, wenn man sich in ihr verlief. Auch ließ sich weiterhin kein Zimmer in der Schenke finden.
Während sich die andere Frau noch fragte, warum die Schenke alles kostenlos zur Verfügung stellte außer Wasser, hatte der merkwürdige, halb abgerutschte Tempel die Aufmerksamkeit der Verurteilten auf sich gezogen. Das acht Fuß große Ungetüm, welches mit seiner schwarzen Haut tief in die Nacht eintauchte und wie ein Stein aus Schatten wirkte und sich als Mitglied des steinernen Volkes der Goliath entpuppte, ließ dieser elefantenverzierte Tempel einfach nicht los und so brachen alle auf, bis auf Muvaji, der sich langsam auf seinem Krankenbett zu winden begann. Der leichte Schlaf verlor sich in der Schwere der Verwundung.
Die anderen kamen derweil an dem Tempel an und tauschten scheinbare Belanglosigkeiten aus, verhandelten noch immer über den Grad von Vertrauen, den man sich schenken konnte, gleichwohl nicht wissend, wer von ihnen wirklich ein Mörder, ein Betrüger oder ein Unschuldsengel war.
Der Tempel präsentierte sich als Steinquader, der deutlich älter sein musste als das ganze Dorf. Die Spuren von Verwitterung waren zu sehen, ein paar Stellen der Verzierungen waren schon längst von Wind, Staub und Sand abgeschliffen worden. Elefanten waren in unterschiedlichen Darstellungen zu sehen, sie waren stehend, aufrecht, liegend, mit einem Howdah ausgestattet oder mal als Angreifer, mal als Angegriffener. Doch nur ganz eben waren noch alte Schriftzeichen zu erkennen, von Wind und Wetter fast unkenntlich gemacht. Canxah war als einzige des betreffenden Alphabetes mächtig, und obgleich sie sich auch der Sprache der Drachenartigen mächtig wähnte, waren ihr die Wortbedeutungen derartig fremd, dass sie es nicht einzuordnen wusste. Siebenundzwanzig dieser Schriftzeichen ließen sich auf den übrig gebliebenen Außenwänden des Steinquaders finden. Es führte kein Fenster, keine Tür mehr in das Gebäude, nur über einen schmalen Sims, die Reste des zum Teil in die Tiefe gerutschten Fundaments, konnte man in das Gebäude gelangen. Es entschlossen sich alle zu diesem Ausflug. Es war allemal ein sicherer Schlafplatz.
Nachdem der Goliath den Anfang gemacht hatte und der Sims nur mit einem Ächzen dessen enormes Gewicht von fast 400 Pfund ertrug, brachte er an einer alten allein stehenden Säule ein Halteseil an. Die anderen Gruppenmitglieder wollten folgen und der Halbling machte den Anfang. Danach kam Canxah. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor dem anderen, der scheinbar angebrochene Sims, der dem Goliath dessen Gewicht nicht dankte, machte ihr ausreichend sorgen, weshalb sie sich zusätzlich im Seil sicherte. Mit einem lauten Krachen gab der Sims nach und Canxahs Befürchtungen bestätigten sich. Sie rauschte in die Tiefe, über einen steilen Abhang ging es bis in die Tiefe von vierzig Metern, wo die zerklüfteten, abgestürzten Teile des Tempels lebenslüstern auf sie warteten. Mit einem Knacken brach eine ihrer Rippen, das Seil hielt ihren Sturz nach nur sechs Metern auf. Mit Wucht drückte ihr der Aufprall alle Luft aus der Lunge. Das um den Brustkorb gewickelte Seil hätte sie bei einem tieferen Sturz einfach zerrissen. Sie keuchte, der Goliath zog sie am Seil in den Tempel. Während Canxah sich vom Trauma des Sturzes zu erholen gedachte, zeigte sich der Grad des Vertrauens. Der Goliath, mit tiefer Schieferstimme sprechend, verkündete, dass die Frau nun in der Schuld des Goliaths stand. Sein Seil hatte ihr das Leben gerettet und seine Kraft ihr Verhungern auf dem Abhang verhindert. Während Canxah zur Antwort nur vor Schmerz husten konnte, schwang sich die andere Frau behände rüber auf den Abhang und kletterte das Seil hoch, nachdem man es ihr vorher wieder zugeworfen hatte.
Drei Räume fand man in dem alten Tempel, allesamt mit Schutt gefüllt. Von Interesse war nur der mittlere Raum, der durch kleine Holzplanken als Riegel gegen ein Eindringen geschützt wurde von den beiden anderen Räumen. Der Goliath rammte die Tür einfach auf. Seine urwüchsige Kraft wurde schnell deutlich, vor allem auch beim Anblick des Zehn-Fuß-Hammers, den er mit sich führte und der alleine so viel wog wie der Halbling. An den tragenden Wänden des Steinquaders fand man siebenundzwanzig weitere Schriftzeichen, die noch immer keinen Sinn machen wollten. Doch die andere Frau, deren Name immer noch unbekannt war, fand einen Schlüssel zur Entschlüsselung der Runen: Mehr oder weniger einleuchtende Piktogramme, die auf einem halb abgerutschten Steintisch in der ehemaligen Mitte des Raumes eingeätzt waren, gaben Aufschluss darüber, dass es eine alte Zauberformel sein musste, die den ganzen Tempel zierte. Nur leider war die Formel nicht mehr komplett, die andere Hälfte musste im Schutt auf dem Grund des leeren Kohlesees liegen. Aber auch neben den Schriftzeichen ließ sich in diesem mittleren Raum, der sich keiner ursprünglichen Funktion mehr zuordnen ließ, etwas finden. Auf dem restlichen Tisch waren noch Silberteller eingelassen, welche scheinbar vier unterschiedliche Mythenwesen wesen darstellten, welche man aus den Märchen, Sagen und Legenden der frühesten Kindertagen kannte. Drachen.
Doch auch einen Besucher hatte der Tempel einst, eine zum größten Teil verwitterte Strohmatte ließ sich entdecken und abgenagte Menschenknochen. Doch die Knochen wären über fünfzig Jahre alt, meinte die Frau, die zuerst für einen Mann gehalten wurde.
Trotz eines mulmigen Gefühls beschlossen die vier, dass sie die Nacht im Tempel verbringen würden. Nicht nur, war es unwahrscheinlich, dass man dort nach ihnen suchte, auch wenn er direkt in Dorfnähe stand, sie wussten auch nicht, wie sie den Tempel jetzt verlassen sollten. Der einzige Sims, der Freiheit versprach, war abgebrochen. Es würde Kraft und Mut brauchen, um heil über den Abhang zu kommen.
Schreie, Gebrüll und Befehle weckten sie, nur Canxah schlief weiter. Chuangshé wurde gesprochen, doch auf einmal verkörperte die Sprache nicht mehr die Schönheit, für welche sie bekannt war. Die Befehle waren bellend, angestrengt konnte man hören, dass es Männer des Kopfgeldjägers waren, die nach den Flüchtigen suchten. Wahrheitsgemäß mussten die Dorfbewohner antworten, dass sie nicht wüssten, wo die Denunzianten seien, aber dass sie gestern noch im Ort gewesen wären. Die Verbrecher wähnten sich im tür- und fensterlosen Tempel sicher…bis ihnen einfiel, dass ihre Reittiere samt ihres gesamten Hab- und Guts im Dorf standen und Muvaji noch verwundet auf dem Heuboden war.
Nachdem die Luft wieder rein war, wussten sie, dass der Zeitpunkt gekommen war, dem Dorf den Rücken zuzukehren. Mit viel Mühe, aber ohne Schaden, kreuchten sie mit der Hilfe des Goliaths über den Abhang und rettenden sich auf festen Boden. Und sie sahen, dass Muvaji ihre Reittiere und sich zeitig in Sicherheit gebracht hatte und er bereits alles zum Aufbruch vorbereitet hatte. Sie sahen auch, dass Muvaji keine Kraft mehr hatte und furchtbar blass war. Fieberglanz stand auf seiner Stirn. Bevor die Verbrecher auf ihre Pferde beziehungsweise auf ihren Kojoten aufgesessen hatten, brach der junge rotblonde Mann zusammen.
220. Tag des Jahres 1037, in unserer Sprache 22. Tag des Drachen im Jahr des gläsernen Drachen
Muvaji stöhnte ein wenig, die unruhige Fahrt nahm ihm fast jedwede Kraft, noch immer lag er im Fieber, trotz des Umsorgens und Wundverpflegung, welche die mannsähnliche Frau, die stets wie eine einfache Bäuerin gekleidet war, ihm zukommen ließ. Sechs Tage waren sie schon unterwegs und die Sonne brannte wirklich unerbittlich. Schneller als es sein dürfte, ging der dürftige Proviant der Verbrecher aus, die Pferde waren einfach nicht für dieses Wetter gemacht und verbrauchten zu viel Wasser und schafften zu wenig Strecke. Prunktiere allemal, das waren die Pferde aus Chuang, aber nicht auf die Witterung und das Wetter angepasst, schlecht gezüchtet. Und so langsam kam die erste Verzweiflung auf, Gespräche zwischen den Denunzianten gab es keine von Belang in den Tagen. Hatten sie sich verlaufen? Sie wollten zur Handelsstraße nach Norden gelangen, nach Gangshin reisen und dort den Proviant auffrischen, vielleicht in die kühleren Gebirgskämme fliehen und im Gebiet der nomadischen Goliath vorübergehend ins Exil gehen. Die Straße hätte am gestrigen Abend ihren Weg kreuzen sollen. Unruhe machte sich breit. Die Sonne stand hoch, der Schweiß auf den Flanken der Pferde. Lediglich der exotische Kojote ertrug die Hitze stoisch. Gestern hatte sich noch ein Gewitter angekündigt, doch außer schwüler Luft hatte es nichts hinterlassen, kein Wasser, nur ein wenig Grummeln und ein Wetterleuchten in der Entfernung, irgendwo in den Bergen.
Mit müden und vom fliegenden Sand geröteten Augen sah der Halbling Billy eine Staubwolke auf sie zurasen. Waren die Häscher ihnen jetzt auf der Spur? War noch einer der Männer im Dorf gewesen und hatte ihren überstürzten Aufbruch mitbekommen? Oder war das eine Karawane auf der Handelsstraße? Würden sie die einzige Straße in der Provinz doch endlich gefunden haben? Der Goliath und der Halbling schauten nochmal hin und mit einem Mal waren ihre Sinne hellwach. Es war eine Herde Oryxantilopen. Und sie waren auf der Flucht vor irgendetwas. Blitzschnell schafften sie Muvaji samt Wagen aus dem Pfad der Herde und warteten ab. Eine ausgezehrte Löwin samt drei Jungtieren hatte die Verfolgung der Herde aufgenommen. Ihr Pirschversuch war fehlgeschlagen, die Tiere waren hungrig. Es wurde eine kurze Hetzjagd, welche die Löwen zu verlieren schienen.
Der Goliath wollte sich erproben, er wollte ein symbolisches Zeichen setzen. Er nahm den übergroßen Langbogen vom Rücken, für den es zwei kräftiger Menschen brauchte, um ihn überhaupt zu spannen. Er legte einen der Pfeile auf, die so lang waren, wie der Arm einer menschlichen Frau. Ein ließ ihn von der Sehne schnellen, doch der Pfeil war zu kraftvoll und zu hoch zu gezielt, er schoss über Herde und Löwen hinweg. Es wurde klar, dass der schwarzhäutige Riese keine Antilope schießen wollte. Die anderen machten sie kampfbereit, bereit Löwen zu erlegen.
Der Halbling nahm seine Waffe hervor, welche wie eine beschädigte Armbrust aussah, bei welcher der Spannbogen fehlte. Mit einem Höllenkrach blitze die Mündung der Waffe auf und der Halbling musste viel Disziplin walten lassen, dass sie ihm nicht das Handgelenk brach. Über den Rücken des Löwen schrammte eine metallene Kugel und schlug eine Wunde. Die Löwin brüllte. Sie glaube langsamere Beute ausgemacht zu haben und war wild vor Hunger und vor Schmerz. Sie stürmte los auf die Verbrecher. Der zweite Pfeil des Goliaths durchschlug die linke Flanke der Löwin. Doch die Freude darüber wehrte nicht lange, denn die Löwin sprang den Goliath an und die zweihundert Kilo Gewicht drückten den Steinmann einfach nieder, die Löwin verbiss sich in das linke Schlüsselbein des Goliaths, nur das Kettenhemd verhinderte, dass er zerfetzt wurde.
Auch die kleinen Löwenjungen liefen nicht davon, je mehr Schmerzen ihrer Mutter zugefügt wurden, desto furioser kämpften sie um ihr Überleben. Der Kampf drohte ein Desaster zu werden. Zwar verfügte die mannsähnliche Bauersfrau über faszinierende Fähigkeiten, denn sie konnte scheinbar mit puren Gedanken anderen Wesen Schmerzen zufügen und der Halbling konnte einen Löwenjungen mit einem Kopfschuss töten. Doch der Goliath wurde endgültig unter dem Löwen begraben und ging bewusstlos zu Boden, nachdem er sich einmal unter dem Löwen hervorgekämpft hatte und doch wieder fiel, bevor er zu seinem Hammer greifen konnte. Eine der kleinen Löwen hatte sich in Canxah verbissen und die Wunde im Bein raubte ihr nicht nur fast das Bewusstsein, sondern auch die Kontrolle über den Körper. Das letzte Junge begann sich in der psionisch begabten Frau zu verbeißen. Ein letztes Aufbäumen der Verbrecher. Der Halbling erlegte den Löwenjungen bei der Psionikerin mit einem Schuss in den Kopf. Canxah schüttelte den kleinen Löwen ab und sprintete zu der großen Löwin, welche dem Goliath gerade mit einem Biss in den Hals den Garaus machen wollte. Die Stachelkette sauste heran und riss dem Löwen die rechte Flanke auf. Geschwächt von den vielen Wunden und vom Hunger, brach der Löwe erschöpft zusammen. Mit reiner geistiger Kraft ließ die Frau derweil das letzte Junge zusammenbrechen. Das Töten eines Symbols, das Beweisen von Stärke oder was auch immer die Verbrecher zum Angriff auf jagende Löwen bewegt haben mochte, es hatte sie fast das Leben gekostet…
227. Tag des Jahres 1037, in unserer Sprache 23. Tag der Ratte im Jahr des gläsernen Drachen
Der Goliath hatte auf seinem eigenen Wagen liegen müssen, bis er wieder bei Kräften war. Und im Gegensatz zu Muvaji, der noch immer in schweren Fieberträumen lag, dessen Wundränder an der Hüfte sich bedrohlich dunkel gefärbt hatten, kam er schnell auf die Beine. Es hatte sogar das erste Zeichen von Vertrauen gegeben. Namen wurden nach mehr als vierzehn Tagen des Zusammenseins ausgetauscht. Die Psionikerin, eine Macht die an sich gefürchtet wurde, aber unter den Verbrechern nicht für Unruhe sorgte, hieß Tom Tää und der Goliath ließ sich mit seinem Ehrennamen Crusher benennen, da seinen Geburtsnamen keiner in Erinnerung behalten konnte.
Die Nahrung war inzwischen sehr knapp, eine weitere Woche der Reise würde kein Tier überleben und auch Canxah, die sich gut in der Natur auskannte, fand nichts mehr. Aber man hatte die Handelsstraße gefunden und nun lag die Stadt Gangshin bereits vor ihnen. Vor ein paar Tagen waren die Berge ins Sichtfeld gekommen. Man schaffte kaum zwanzig Kilometer am Tag. Es war furchtbar heiß. Umso erniedrigender war der Anblick der Stadt Gangshin. Sie war alles andere als pompös, kleine Sandsteinbauten waren dort erbaut, quaderförmig säumten sie die Wege, hinter einer kleinen Sandsteinmauer gelegen, welche vielleicht Tiere abhielt, aber sonst nichts. Für eine Verteidigung war sie nichts. Lediglich im Herzen der Stadt, in welcher maximal eintausend Seelen wohnten, waren acht größere quaderförmige Gebäude, auf einem breiten Platz angelegt, von der die einzige große Straße mit Straßenpflasterung ausging. Der sogenannte achtblättrige Baum.
Aber hinter der Stadt schmiegten sich an den so plötzliche aufragenden Berge drei große Reisterrassen, welche von Schmelzwasser gespeist worden. Nach all dem Durst und der Härte, waren dort einfach überflutete Reisfelder. Und zu allem Überfluss beschwerten sich die Bauern im Dorf auch noch über die schlechte Ernte…
Die Verbrecher fanden Steckbriefe von ihnen an einem schwarzen Brett an der Schenke „Zum purpurnen Lotus“ und zu allem Überfluss erfuhr man, dass die Händler der Stadt nur noch auf dem Markt alle drei Tage handeln durften. Es war eine Strafe dafür, dass ein paar Händler mit dem Räuberhauptmann Lei Lung Handeln betrieben hatten. Jetzt wurde der Handel strickt überwacht.
Sie wollten schnell untertauchen, rissen die Steckbriefe ab und begannen auf Markttag warten. Zwei Tage müssten sie ausharren, sie brauchten dringend den Proviant, um weiterreisen zu wollten.
Nachdem es eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Verbrechern gegeben hatte – es ging um den letzten Löwenjungen, denn Canxah hatte alle Löwenleichen mitgenommen und häuten wollen und es stellte sich raus, dass das letzte Junge sehr geschwächt war, aber noch lebte – ob man das Löwenjunge verkaufen oder aufpäppeln sollte, suchte Canxah eine Möglichkeit der Unterkunft, während die anderen sich in die Häusergassen zurückzogen.
Canxah traf bei Sun Zhao ein. Dem Regierungssitz ihres Meisters, sie kannte Gangshin also gut. Er war da und nicht auf seinem Wohnsitz außerhalb der Stadt, allerdings erfuhr Canxah, dass er nicht zu sprechen war und zwei mürrische und unfreundliche Wächter, welche das Zeichen der kaiserlichen Garde trugen, ließen sie nicht passieren. In Sorge um ihren Meister, von dem sie wusste, dass er trotz seines Beamtentums kein Freund des Kaisers war, zog sie sich erst mal zurück und erwägte, wie sie an ihren Meister rankam. Sie hatte seit ihrer Hinrichtung dunkle Gedanken, immer mehr davon wurden Wirklichkeit. Sie hoffte, dies alles sei nur ein Spiel des Daistos.
Währenddessen hatten die anderen Verbrecher einen älteren Mann getroffen, der sie zu sich in das Haus einlud, da sie nicht wussten, wo sie nächtigen sollten. Der arglose Mann lief in einfacher Flachskleidung rum, war eher von kleiner Statur und schob ein Handkarren vor sich her, auf dem frisch geernteter Reis war. Ein Reisbauer, der vielleicht um die sechzig Jahre alt sein mochte. So schätze man zumindest sein Alter ein.
Doch die Unterredung mit dem Mann ergab das Erstaunlichste. Er schien die exotischen Waffen, welche im Besitz der Gruppe waren, einordnen zu können. Die Stachelkette, den Hammer der Goliath, das Blasrohr, welches die Frau trug, diese merkwürdige abgebrochene Armbrust, welche eine Pistole war.
Canxah erkannte ihn wieder, er war eine Person des Hofes. War er gar der ehemalige General des Westens? Sein Name war auf alle Fälle Xū Dǎnshí.
Nach einem Gespräch, in welchem er die Geschichte vom Panda und dem Tiger erzählte, glaubten die Verbrecher einen Systemfeind getroffen zu haben, mit dem sie zusammenarbeiten könnten. Es stellte sich heraus, dass er ihre Steckbriefe gesehen hatte, aber kein Interesse daran hatte, sie zu verraten, allerdings erzählte er ihnen auch, dass die Zeiten, in denen er an Aufstand dachte, lange zurück lagen. Sie mieteten sich also lediglich für zwei Tage bei ihm ein, wurden mit Speis und Trank versorgt. Sie erfuhren, dass er momentan als einfacher Reisbauer im Exil in Gangxi verbrachte und eigentlich noch der Provinzverwalter von Cui Bao war.
Canxah hatte in Erfahrung gebracht, auch durch das Gespräch mit Xū Dǎnshí, bei dem klar wurde, dass der Mann ein weitgefächertes Wesen hatte, dass Sun Zhao wegen Mordverdachtes an seiner Dienerin Yon in Gewahrsam genommen wurde und momentan ausgefragt wird. Da die Denunzianten die Stadt alsbald wieder verlassen mussten, um nicht aufzufliegen, wollte Canxah ihren geliebten Herren noch entsetzen. Ihre Ehre gebot es ihr. Doch auch diesmal musste sie den Versuch vorzeitig abbrechen.
229. Tag des Jahres 1037, in unserer Sprache 23. Tag des weißen Tigers im Jahr des gläsernen Drachen
Der Markttag war an diesem Tag und da der Markt wegen seiner Seltenheit und der Notwendigkeit des Lebensmittelkaufes überlaufen war, tauchten sie in der Menge unter und kauften selbst Vorräte. Viel Reis und Wasser zu horrenden Preisen, die schon als oppressiv gelten konnten, fanden den Weg auf den Karren Crushers. Sie einigten sich auch über den Löwenhandel und verkauften den inzwischen wieder aufgepäppelten Löwenjungen an den Trophäensammler He, einem kleinen, so fetten Mann, dass er sich nicht mal mehr eigenständig bewegen konnte. Nach anstrengender Verhandlung bekamen sie sagenhafte einhundert Silber für das seltene Tier und ein paar Gutscheine für eine Schönheitsbehandlung bei dem Arzt namens Mu Chang. Eine Chance auf Veränderung? Ob er chirurgisch das Gesicht eines Denunzianten verändern konnte? Er sollte in der Nähe von Gangshin wohnen, keinen Tag entfernt. Sie bekamen sogar eine Wegekarte. Das nächste Ziel der Gruppe stand wohl fest.
Doch Canxah wollte ihren Meister retten. Die Sonne versank langsam im Westen als Canxah ihre Mitstreiter um Hilfe bat. Gegen ihr Erwarten willigten sie ein. Sie fühlte etwas Glück, es schob die dunklen Gedanken der letzten Tage beiseite. Wohl wissend, dass sie nach der Entsetzung ihres Herren, direkt flüchten mussten, verabschiedeten sie sich von Xū Dǎnshí und verluden den noch immer fieberkranken Muvaji auf den Karren des Goliaths und deckten ihn mit Decken zu und verbargen ihn so vor neugierigen Blicken. Der Wagen blieb vor Xūs Hütte stehen. Sie nahmen ihre Waffen und brachen auf. Zeit Canxahs Meister, Sun Zhao zu retten.
Canxah hatte zehn Minuten mit einem graubärtigen Wächter vor dem Hintereingang zum Regierungsgebäude von Sun Zhao debattiert und diskutiert und verhandelt und versucht, ihn zu bestechen; sie hatte drei Goldmünzen verloren dabei. Sie wurde wütend, aber der Wächter verlor nun seine Fassung. Nachdem die Frau mit der Stachelkette eine Münze nach der nächsten aus dem Geldbeutel zauberte, wurde der Wächter gierig und ging zum Angriff über. Billy, Tom Tää und Crusher kamen aus ihren Verstecken und der Kampf begann. Es war jedoch dem graubärtigen Wächter lediglich möglich seine Hellebarde zu ziehen und seine Hundepfeife zu pfeifen, da hörte er brechendes Holz als der Goliath wie ein Berserker auf den kleinen Stall kletterte, über ihn mit tobenden Schritten hinweglief und im Sprung auf den Mann niedersauste. Der riesige Hammer, der alleine über dreißig Kilo wog, traf den Mann auf der Brust, riss ihn zu Boden und zerschmetterte den Brustkorb, als sei er kein Widerstand. Sogar die Steinplatte darunter barst in tausend Teile.
Der Weg schien frei und der Halbling schlich sich durch den Hintereingang in das Haus, nur um zu erkennen, dass der Lärm und der abgebrochene Todesschrei des anderen Wächters, den Wächter vom Vordereingang alarmiert hatte. Der rannte nicht um das Haus, sondern durch den verbindenden Flur. Zwei Schüsse mit der lärmenden Pistole gab der Halbling ab, nur ein Streifschuss am Bein. Zwei Schwerter trug der Wachmann, und er kam bedrohlich nahe. Crusher drängt sich vorbei am Halbling und schlug nach dem Wachmann, doch der wich dem Hammer aus. Canxah hatte sich in den Weg gestellt, doch der Schwertkämpfer sprang behände über die geschwungene Stachelkette. Die Frau setzte ihr Blasrohr ein und schickte einen vergifteten Pfeil in den Körper des Mannes, doch er schüttelte das Gift einfach ab. Er schlug wie wahnsinnig auf den bewaffneten Halbling ein, doch die Metallnieten der Lederrüstung retteten den Halbling, sie hielten wie durch Wunder das Schwert auf.
Ein wilder Kampf entbrannte, in welchem sogar die vom anderen Wächter gerufenen Hunde, zwei dunkle, bisswütige Hetzhunde, eingriffen. Doch der Hammer des wie wahnsinnig, wie im Rausch kämpfenden Goliaths machte allem ein Ende, den beiden Hunden und auch dem mit zwei Schwertern kämpfenden Wächter.
Canxah hörte rasselnde Ketten die Holztreppe runterkommen. Rasselnde Ketten, das Zeichen ihres Meisters. Überstürzt dankte sie ihren Mitstreitern, nur um ins Stocken zu geraten. Eine guttural bellende Stimme, fragte, was dort unten für ein Lärm sei. Ein Ork, wie der Goliath erkannte. Er hatte zu viele Orks kennengelernt, um ihre Stimme nicht zu erkennen. Der Halbling lud seine Waffe und beim ersten Anzeichen schoss er nach dem Ork. Doch ein riesenhafter Turmschild hielt den Schuss auf. Ein ungewöhnlicher Ork zeigte sich, denn er war trotz der brütenden Hitze in einer sehr schweren Metallrüstung gekleidet und trug diesen riesigen Turmschild. In seiner rechten Hand trug er eine Kau Sin Ke, eine beschwerte Kette mit sechs Gliedern, die Canxah erst glauben ließ, es wäre ihr Meister gewesen. Obwohl er beschossen wurde, fühlte er sich in seiner dicken Rüstung sicher. Er verlachte die Abenteurer und schüchterte sie ein, nur der Goliath fühlte sich nicht bedroht, er kannte die Art der Orks zu gut. Doch sie erfuhren, dass Sun Zhao oben gefoltert wurde, vom Ork höchstselbst. In betonter Gebärde der Überlegenheit stratzte er die Treppe wieder hoch und mit verdeckten Angriffen aus ihrem Blasrohr versuchte die Frau den Ork auszuschalten, doch sie war einfach zu nervös, um vernünftig zu zielen, als hätte Todesangst zu umgriffen. Canxah versuchte ihn zu Fall zu bringen, doch der Ork befahl ihr das zu lassen und zu folgen. Der Ork trat einfach zu selbstsicher auf.
Tatsächlich stellten die Verbrecher die Angriffe ein, der Goliath empfahl, stark verwundet und ermüdet vom Kampfrausch, sich zurückzuziehen. Doch Canxah hörte nicht auf ihre Vernunft und ihr schlechtes Gefühl. Sie folgten alle dem Ork. Sun Zhao, ein stattlicher Mann von vierzig Jahren, lag zerschlagen und gefoltert auf seinem Schreibtisch, dort angekettet mit schneidenden Fesseln. Er lag halb im Bewusstsein, halb im Delirium vor Canxah. Die Frau spürte tiefste Schmerzen und Wut.
Der Ork jedoch spottete nur, setzte sich gar in den Lieblingssessel ihres Meisters und bot an, dass Canxah ihn für 1500 Gold freikaufen könne. Zwei Jahre habe sie Zeit, sonst würde Sun Zhao sterben. Sie erfuhren den wirklichen Auftrag des Orks an diesem Ort nicht, aber es schien, als haben Canxahs Taten damit zu tun gehabt. Sie schwankte, nahm das Angebot für einen Moment an, dann jedoch von Schuldgefühlen gepackt, befahl sie den Angriff.
Der Ork zeigte sich unbeeindruckt, wehrte eine weitere Kugel mit seinem breiten Schild ab, der immer mehr Schaden nahm und wehrte auch einen weiteren Blasrohrpfeil ab. Er lachte laut. Während der schwer verwundete Goliath es nicht wagte, in den Nahkampf mit dem hünenhaften Ork zu gehen und eine teure Porzellanvase nach ihm warf, welche auf dem Schild zerplatzte, wagte die nicht minderschwer verwundete Canxah einen Frontalangriff, und versuchte den Reichweitenvorteil ihrer Stachelkette auszunutzen, doch sie unterschätzte die Reichweite der Kettenwaffe des Orks für einen Moment. Mit voller Wucht traf das Gewicht am Ende des Kau Sin Ke die Schläfe Canxahs, welche in voller Bewegung zusammensackte. Der Ork traf so gut, dass Canxah ihren eigenen Tod nicht mehr spürte.
Erschrocken über die Schlaggewalt des Feindes, beschlossen die anderen drei Denunzianten Sun Zhaos Seite zu verlassen, mit dem sie eh nichts zu schaffen hatten. Sie konnten ihm und Canxah eh nicht mehr helfen. Crusher erneuerte seine Bekundung, fliehen zu müssen. Die Frau und der Halbling zögerten einen Moment und wollten nochmal nach dem penetranten und zu selbstsicheren Ork feuern. Die Kugel des Halblings durchschlug den rechten Armpanzer des Orks, der vor Schmerz aufschrie, und der vergiftete Pfeil traf die ungeschützte Stelle am Hals, und doch widerstand der Riese diese Auseinandersetzung mit dem Gift. Wütend entschied sich der Ork für einen letzten verheerenden Schlag, auch dieser traf die zweite Frau an diesem Tag mit unbändiger Wucht am Kopf, der unter der Wucht nachgab und eindellte und ein hässliches Loch im Kopf hinterließ. Wie vom Schlag getroffen stürzte auch Tom Tää tot zu Boden. Der Ork verkniff sich inzwischen schwer verwundet jedoch das Lachen, während Crusher und Billy in die Nacht zum Karren flohen und die Stadt noch im selben Atemzug schwer verwundet verließen.
Entkräftet blieben sie außerhalb der Sichtweite der Stadt stehen, und sahen, dass immerhin Muvaji das erste Mal seit fast zwei Wochen ruhig schlief. Sein Fieber war vergangen. Immerhin mit ihm hatten die Götter Nachsicht und so stellte es sich als Segen heraus, dass er krank in einem Karren lag, statt mit seinen Zweckverbündeten im Haus des Sun Zhao zu sterben.
Zwei von fünf Verurteilten waren bereits tot. Billy und Crusher schluckten bei diesem Gedanken und blickten in die aufziehende Nacht, in eine ungewisse Zukunft.
Zusätzliche Anmerkungen (Anzeigen)Der Ork war eigentlich der schwächste Gegner des Tages. Aber er warf einen verdammt guten Wurf nach dem Nächsten, widerstand fast allem. Und da bei uns die goldene Regel gilt, dass der Spielleiter offen würfelt, mussten zwei Spieler mit ansehen, dass die einzigen beiden Angriffe des Orks beides kritische Treffer wurden. Beide Spieler waren schwer angeschlagen. War ein schöner Spielabend, mit vielen guten Gesprächen und spannenden Kämpfen, aber unglücklichen Ausgang.