01. Februar 1861 (Anzeigen)Adam von Wintersberg war ein erfolgreicher Berliner Unternehmer. Der Mann hatte über vierzig Jahre in einer Schuhmanufaktur gearbeitet, bis der Besitzer plötzlich verstorben war – und sich herausstellte, dass er gewaltige Schulden hinterließ. So wurde die Fabrik geschlossen, die Mitarbeiter verloren ihre Arbeit, viele davon zogen fort, um in anderen Städten ihr Glück zu versuchen.
Einer davon war Adam, doch suchte er sich keine neue Arbeit, sondern entschloss sich, trotz seines Alters von immerhin 65 Jahren, eine eigene Firma zu gründen. Er lieh sich etwas Geld von einer Bank, hatte selbst ein wenig Erspartes, suchte sich die besten Leute Berlins für sein Projekt, und schuf eine Schuhmanufaktur, die nicht nur auf die praktischen Notwendigkeiten eines guten Schuhwerks einging, sondern insbesondere auch die modischen Aspekte eines Schuhs beachtete.
Die Damenwelt war von seinen Entwürfen begeistert, und nach nur einem Jahr konnte er seiner Bank den Kredit vollständig zurückzahlen. Weitere zwei Jahre später hatte er solchen Reichtum angesammelt, dass er sich entschloss, sich zur Ruhe zu setzen und seinen Lebensabend in Amerika zu verbringen.
Eben diesen Entschluss hatte Adam am 01. Februar des Jahres 1861 getroffen. Nur, dass die Wahrheit ein wenig anders aussah. Adam von Wintersberg würde sterben, seine Existenz ein jähes Ende finden, seine Spur sich in den Weiten des fernen amerikanischen Kontinents verlieren.
Doch war dies keinesfalls der Tod eines Menschen, sondern vielmehr der Tod einer Figur, einer erdachten Rolle. Drei Jahre zuvor hatte es keinen Adam von Wintersberg gegeben, und im Übrigen auch keinen Samuel Weissdorn.
Ein junger Mann namens Viktor Maximilian zu Hammerstein hatte sich das Leben des Adam von Wintersberg ausgedacht. Er war es, der die Geburtsurkunde erstellt hatte, und alle anderen Urkunden, die man so benötigt. Von Schuhen hatte er im Grunde keine Ahnung, aber er glaubte an die modischen Bedürfnisse der Damenwelt. Für ihn war es ein Experiment, eine Herausforderung, aus dem Nichts ein Unternehmen aufzubauen.
Viktor, ein Meister der Verkleidung und der Manipulation, hatte sie alle getäuscht, und eine beliebte und erfolgreiche Unternehmerpersönlichkeit erfunden. Er kostete diese Rolle aus, bis er alles gelernt und erlebt hatte, was ihn interessierte. Dann entschloss er sich, zu neuen Ufern aufzubrechen, und erfand die Figur des Samuel Weissdorn.
In den nächsten Wochen ließ er Samuel bereits hier und da auftauchen, Gelegenheitsarbeiten erledigen, einen Antrag im Amt stellen, kurz: Er ließ ihn existieren. Gleichzeitig bereitete er alles für die Übergabe seines Unternehmens an den Vorarbeiter vor, einem guten Mann, dem er den Erfolg und den Reichtum aus ganzem Herzen gönnte.
Und er suchte sich einen älteren Herrn, dem das Schicksal schwer mitgespielt hatte, und der auf der Straße sein Dasein fristete. Ein älterer Herr, den er genau kennenlernte, um sich seiner Verschwiegenheit sicher zu sein, bevor er ihn mit einem großen Vermögen auf die Reise nach Amerika schickte, um dort im Namen von Adam von Wintersberg seinen Lebensabend zu verbringen. Denn schließlich musste irgendjemand auf das Schiff gehen, wenn Viktor endgültig die Rolle des Samuel Weissdorn übernahm.
31.12.1857, Silvesternacht (Anzeigen)„Meine gute Freundin“, sagte Viktor in sanftem Tonfall, „Sie wissen, dass ich Sie immer verehrt habe. Ich genoss die Zeit unserer gemeinsamen Leidenschaft, doch war ich stets ehrlich zu Ihnen, dass mich mit Ihnen Freundschaft, Leidenschaft und Nähe verbinden, doch nicht die Kraft der Liebe. Ich habe sie noch nie empfunden und weiß nicht, ob ich zu dieser überhaupt fähig bin. Ich bitte euch inständig, mir zu verzeihen, doch was ihr erhofft, kann ich euch leider nicht geben.“
Was er sagte, meinte Viktor ernst. Die „gute Freundin“ war Amelie Beauchamp, eine französische Künstlerin, die seit einigen Jahren in Köln lebte. Viktor hatte sie vor einem halben Jahr kennengelernt, und sie waren einander regelrecht verfallen.
Zu diesem Zeitpunkt trug Viktor den Namen Johann Rosenfels, und arbeitete als Lehrer an einer Grundschule. Er hatte die Position gerade erst übernommen, als er Amelie kennenlernte, und musste feststellen, dass es ihm sehr schwer fiel, sich auf die neue Anstellung zu konzentrieren. Zudem bemerkte er, dass die Arbeit mit Kindern ihm zwar nicht wirklich schwer fiel, ihm aber nicht so viel gab, wie er eigentlich gehofft hatte. Allzu lange würde er diese Rolle nicht spielen, das wusste er nach wenigen Wochen.
Es war die Silvesternacht von 1857, nach dem Viktor und Amelie einen leidenschaftlichen Tag verbracht hatten, und sie gemeinsam in der Stadt feierten, als Amelie ihm ihre Liebe gestand.
Die Eröffnung erschrak Viktor. Er hatte nie damit gerechnet, nie etwas wie echte Liebe empfunden. Und doch brach es ihm das Herz, der Frau, die mehr Leidenschaft in ihm erweckt hatte als je ein Mensch zuvor, nicht geben zu können, wonach sie sich so sehr sehnte.
Auch Amelies Herz wurde gebrochen, natürlich. Sie verschwand in dieser Nacht, hinterließ ihm noch einen Brief, in dem sie erklärte, dass sie nach Frankreich zurückkehren würde. Viktor sah sie nie wieder. Einen Monat später verließ Johann Rosenfels die Stadt Köln, angeblich, um zu seiner Familie in Bayern zu ziehen, und Adam von Wintersberg wurde geboren.
02. Juli 1854 (Anzeigen)Janus Halvelagen wurde mit 28 Jahren in die sächsische Armee berufen. Er war ein Einzelkind, sein Vater arbeitete als Briefbote und war daher ständig auf Reisen; seine Mutter war vor einigen Jahren gestorben. Und so lebte Halvelagen das Leben eines Tagediebs, eines Nichtsnutzes, bis er in einer Gaststätte einem Offizier auffiel. Der Soldat, Heinrich Peschendorf, machte es sich zur Aufgabe, den verweichlichten jungen Mann zu einem strammen Soldaten zu machen, und ihn wieder auf Spur zu bringen – und sorgte persönlich dafür, dass Janus eingezogen wurde.
Peschendorf hatte anfangs mit Janus zu kämpfen, doch nach einigen Wochen begann der Drill zu wirken, und allmählich wurde aus dem Nichtsnutz ein schnittiger Soldat. Und nicht nur das, der junge Mann schien seine eigene Veränderung zu genießen.
Janus Halvelagen war nie einer der starken Männer in der Armee gewesen. Seine Konstitution war bestenfalls durchschnittlich, und er war deutlich schneller erschöpft als die anderen Kameraden. Und doch zeichnete er sich durch eine Wendigkeit und Beweglichkeit aus, die ihn so manche Kampfübung gewinnen ließ.
Besondere Fähigkeiten aber bewies er im Fernkampf: Ob mit der Pistole oder dem Wurfdolch, seine Fähigkeiten, ein Ziel aus der Entfernung zu treffen, war hervorragend.
All diese praktischen Fähigkeiten und auch der körperliche Drill, der Viktor wieder einmal zeigte, was in ihm steckte, waren wunderbare Ergebnisse der Rolle, die er sich erdacht hatte. Doch all das war nicht der Grund für ihn gewesen, Soldat zu werden. Er hatte Peschendorf ausgesucht, hatte ihn – ohne dessen Wissen – dazu gebracht, auf „Janus“ aufmerksam zu werden, und hatte ihn auf die Idee gebracht, sich des jungen Mannes anzunehmen.
All das, weil Peschendorf ein Mann von großer Strenge, aber ebenso großer Güte war. Viktor wollte wissen, ob es der Drill, das strenge Regiment des Soldatentums war, das er hasste, oder ob es nur die besondere Art gewesen war, wie sein Vater ihn behandelt hatte.
War Viktor einfach jemand, der mit strenger Ordnung und Befehlsketten ein Problem hatte? Oder waren es die übertriebene Härte, die Gewalt gegenüber einem kleinen Jungen, die fehlende Luft zum Atmen und zum Entfalten einer eigenen Persönlichkeit, die ihn dazu gebracht hatten, seine Eltern und vor allem seinen Vater aus tiefstem Herzen zu hassen und zu verachten?
Wie es sich zeigte, konnte Viktor mit dem Leben als Soldat hervorragend umgehen, es machte ihm sogar Freude. Diese Erkenntnis aber verwurzelte seine Abscheu gegenüber seinen Eltern noch viel mehr. Immer wieder hatte er darüber nachgedacht, ob er eines Tages sein Spiel aufgeben würde, ob er eines Tages wieder Viktor Maximilian zu Hammerstein werden würde. Nun aber stand sein Entschluss fest. Viktor würde verschollen bleiben. Für immer.
Kurz darauf wurde Janus Halvelagen in einer Straßenschlägerei von einem Unbekannten erdolcht und in einem Fluss versenkt. Seine Leiche wurden nie gefunden, doch die Aussagen der Zeugen waren eindeutig. Bald darauf sollte ein Lehrer namens Johann Rosenfels herausfinden, dass man selbst Kinder durchaus mit Strenge erziehen konnte, ohne ihnen dabei Leid zuzufügen.
03. April 1850 (Anzeigen)Nur knapp war Viktor der Katastrophe entgangen! Nur eine Woche hatte er als Schreiber Sebastian Grünfeld in Amberg verbracht, als seine falsche Identität beinahe aufgedeckt worden wäre. Es war das erste Mal, dass er eine feste Anstellung angenommen hatte. Die Formalitäten überraschten ihn. Er hatte sich vorbereitet, natürlich, aber welch bürokratische Feinheiten man beachten musste, hätte er nie erwartet.
Sein Fehler war seine Geburtsurkunde gewesen. Die Fälschung war perfekt, bis auf einen Punkt: Der von ihm benutzte Stempel hätte zum Zeitpunkt seiner angeblichen Geburt anders aussehen müssen. Dieser kleine Mißstand war einem städtischen Beamten aufgefallen, der Sebastian damit konfrontiert hatte. Es gelang ihm mit Engelszungen, den Beamten davon zu überzeugen, dass es nicht der Stempel war, der falsch war, sondern das Geburtsjahr nicht stimme; zwei Jahre später hätte der Stempel gepasst.
Sebastian Grünfeld hatte auf dieses Detail nie geachtet, würde sich aber gleich um eine Korrektur kümmern, und machte sich daher auf die Reise in seine Heimat. Er kam nie wieder nach Amberg zurück. Stattdessen nahm wenige Tage später ein gewisser Paul Schlossanger die Arbeit im Amt von Würzburg auf, begierig darauf, alles über die Feinheiten der Bürokratie zu lernen…
14. März 1849 (Anzeigen)Der Student Charlton Dean Brown hatte sich dem Studium der Gesellschaft und der Staatswissenschaften in der Metropole Londons verschrieben. Es war der 14. März 1849, als er in London ankam – seine Eltern hatten ihn aus Dover hergeschickt – und sich an der Universität einschrieb. Sein größtes Bestreben war, zu verstehen, wie die Gesellschaft den Einzelnen formte, und wie der Einzelne wiederum Einfluss auf die Gesellschaft nehmen konnte.
Es war tatsächlich eben dieses Bestreben, das Viktor nach London getrieben hatte. Er wollte die Welt aus einer anderen als der gewohnten Sicht wahrnehmen, wollte aus den ihm bekannten Strukturen seiner deutschen Heimat ausbrechen, um sich selbst einen vollständigen Wechsel der Perspektive zu ermöglichen.
Mit Eifer studierte er, aber mit eben solchem Eifer diskutierte er auch. So wurde ein gewisser Lévi Butler auf ihn aufmerksam, ein Mitstudent und Begründer eines, wie er es nannte, „alchemistischen Zirkels“. Der Zirkel war ganz der Förderung der geistigen Freiheit und dem Wohle der Gesellschaft untergeordnet, und so traf man sich Abend für Abend, um zu reden, gedankliche Experimente durchzusprechen, sich vollkommen neuen Themen zu öffnen und Wege zu diskutieren, wie man die Welt verbessern könne.
Dies jedenfalls war die oberflächliche Betrachtung. Lévi, ein junger Mann nur wenig älter als Viktor, betrachtete den Zirkel als „seine“ Gruppe, und sich als ihren geistigen Führer. Was in den ersten Monaten noch anregend und begeisternd war, entwickelte sich mehr und mehr zu einer eingeschworenen Gruppe, überzeugt, die schlechte Welt ließe sich nur durch eine verborgene Revolution verbessern. Und natürlich wären die Mitglieder eben dieser Gruppe die geeignetsten neuen Machthaber, denn offensichtlich hatte ja niemand die Probleme der Welt so sehr verstanden wie sie.
Der Prozess war schleichend, und so begriff Viktor viel zu spät, auf was er sich da eingelassen hatte. Zudem beschäftigte sich die Gruppe immer mehr mit mystischen, ja sogar magischen Themen; Lévi selbst war letztlich ganz versessen darauf, die Mysterien der Magie zu entschlüsseln, und versuchte sich gleichermaßen am Brauen von Tränken wie auch an magischer Symbolik und Beschwörungsformeln. Natürlich – zumindest nach allem, was Viktor damals wusste – ohne jeden Erfolg, und so wurden alltägliche Ereignisse mystifiziert, um den Status Lévis innerhalb der Gruppe nicht zu gefährden.
Es war vielmehr diese Mystifizierung als das direkte Streben nach Macht, die Viktor aufwachen ließ. Es war der 09. September, ein regnerischer Morgen, als er aus dem Fenster sah und die Tropfen an der Scheibe seines Zimmers betrachtete, als ihm die Mechanismen klar wurden, die Lévi anwandte. Vermutlich war er sich ihrer selbst nicht ganz bewusst; doch von einem Moment auf den anderen hatte Viktor sie durchschaut.
Alles andere war nur die logische Schlussfolgerung. Lévis Streben nach magischer und gesellschaftlicher Macht, das Verlangen nach Anführer-Status innerhalb der Gruppe, die Unterwerfung der übrigen Gruppenmitglieder unter seinen Willen, all dies entblätterte sich vor Viktor wie ein gezinktes Kartenspiel, dessen verbogene Ecken er plötzlich bemerkte.
Hatte er doch eigentlich nach Freiheit gesucht, nach Befreiung sogar, hatte er sich stattdessen freien Willens in eine irrsinnige Sklaverei begeben, wie sie schlimmer kaum sein konnte. Am gleichen Tag suchte er den „alchemistischen Zirkel“ auf, und teilte den Anderen seine Entscheidung mit, die Gruppe zu verlassen. In einer hitzigen Rede klagte er Lévi an, versuchte, auch die anderen von seinen Erkenntnissen zu überzeugen – und machte sie sich so zu erbitterten Feinden.
Sie begegneten sich weiterhin an der Universität, doch mehr als boshafte Blicke tauschten sie nicht aus. Doch es verbreiteten sich Gerüchte über Viktor, oder genauer über Charlton Dean Brown, und bald mieden ihn nicht nur die Mitglieder des Zirkels, sondern auch seine anderen Kommilitonen und sogar einige Dozenten. Doch damit nicht genug: Merkwürdige Zufälle ereigneten sich. Viktor stolperte über einen Backstein, von dem er überzeugt war, dass dieser eine Sekunde zuvor noch nicht auf dem Gehweg gelegen hatte; in einer verschlossenen Flasche Wein war wie durch Zauberhand ein gefährliches Insekt gefangen – und überlebte dort ganze drei Tage; und ein brutaler Schläger verwechselte ihn mit dem Geliebten von dessen Ex-Freundin.
So folgte ein Unglück dem Anderen, bis Viktor dämmerte, dass Lévi vielleicht doch mehr Zauberkunst erlangt hatte, als er geglaubt hatte. Aus seiner Zeit im Zirkel erinnerte er sich an eine ältere Frau, Madame de Loup-Agneau, wie sie sich selbst nannte, eine kuriose „Priesterin“, auch wenn er nie herausgefunden hatte, von was sie eine Priesterin sein wollte. In jedem Fall aber hatte Lévi viele seiner Bücher bei ihr erstanden, ohne aber eine besondere Beziehung zu ihr zu haben. Und so suchte Viktor sie auf, und bat sie um Hilfe.
Sie zeigte ihm, wie man einen Zauber erkennen konnte, der auf einen gewirkt worden war, und nach welchen Dingen er suchen sollte. Und so fand er schließlich im Keller des Hauses, in dem er eingemietet war, ein magisches Fluch-Symbol. Nach den Anweisungen der Madame zerstörte er es, und mit einem Mal endeten die Unglücksfälle.
Einen Tag später verschwand Charlton Dean Brown, als habe er nie existiert. Lévi, der zusammen mit zwei anderen Mitgliedern des Zirkels in die Wohnung eingedrungen war, um das Fluchsymbol an anderer Stelle zu erneuern, fand lediglich ein einziges Buch, mit dem Titel „Das große Portal“. Die Seiten des Buches jedoch waren vollständig leer, wie ausgelöscht. Lévi wusste nicht, dass die Seiten nie beschriftet waren, und Viktor den Umschlag des Buches eigenhändig angefertigt hatte. Und so blieb das Verschwinden Charlton Deans ein großes Mysterium für den Zirkel: Offenbar hatte er Zugang zu magischen Sphären gefunden, die selbst dem großen Anführer Lévi verborgen geblieben waren. Dieser erste Bruch in Lévis unangetasteter Autorität war der Auslöser für das Zerbrechen des Zirkels ein gutes halbes Jahr später.
Viktor zog unterdessen zurück nach Deutschland – der Perspektivwechsel, den er bekommen hatte, genügte ihm. Die nächsten Monate schlug er sich unter dem Namen Harald Becker mit Gelegenheitsarbeiten durch, um in Ruhe zu verarbeiten und zu verstehen, was er in London erlebt hatte.
03. September 1847 (Anzeigen)Calibro war ein Künstler, ein Freidenker, und Teil der fahrenden Schaustellertruppe „Die Löwen von Persien“. Natürlich war keiner der Schausteller ein Perser, genau genommen hatte keiner von ihnen jemals deutsche Lande verlassen. Doch ein wenig Schminke und gute Verkleidung, gepaart mit großen Worten, machten den fehlenden Hintergrund wieder Wett.
Viktor war den Schaustellern begegnet, als er in seine Heimatstadt zurückgekehrt war. Wochenlang hatte er mit sich gerungen. Wollte er nach seinem Weggang noch einmal zu seinen Eltern zurück kehren? Mit ihnen sprechen und versuchen, zu klären, was schief gelaufen war?
Einige Tage hatte er sie aus der Ferne beobachtet. Sie schienen nicht unglücklich. Auch nicht glücklich, natürlich, aber so hatten sie noch nie gewirkt. Er versteckte sich gelegentlich in ihrer Nähe, lauschte ihren Gesprächen. Über mehrere Tage hin kamen seine Eltern nie auf ihn zu sprechen. Sie sagten die gleichen Dinge, die sie schon früher gesagt hatten, gaben die gleichen Überzeugungen und Weltsichten von sich, wie er sie nur zu gut kannte. Vielleicht waren sie sogar noch etwas schärfer geworden.
Dann sah er die Schausteller. Er sah sich ihre Vorstellung an, blieb abends beim Lagerfeuer bei ihnen, sprach mit ihnen und stellte sich vor als Botho Eichmann – was sogleich den Kommentar (und anschließendes Gelächter) zu Tage förderte, er möge sich doch einen besseren Vornamen zulegen.
Was er an diesem Abend spürte, war Freiheit, vollkommene und ungebundene Freiheit. Und so legte er sich tatsächlich einen neuen Namen zu, wurde Calibro, der Poet (oder genauer: Darsteller der Poesie anderer) und Assistent des großen Baptiste, Anführer der „Löwen“.
Über ein Jahr zog er mit ihnen durch Deutschland, lernte viel von ihrem Handwerk und davon, wie man die Zuschauer in die Irre führte, bis die Freiheit zu Routine wurde, das aufregende Bühnenspiel zur täglichen Arbeit. Die Liebelei mit der Sängern Ann-Katherine hielt ihn noch einige Zeit bei der Gruppe, doch schließlich hielt er es nicht mehr aus. Immer wieder kehrten seine Gedanken zurück zu seinen Eltern und dem, was er gesehen hatte. Und er entschloss sich, zu verstehen, wie seine Eltern zu dem geworden waren, was sie eben geworden waren. Also machte sich Viktor auf den Weg nach London.
19. April 1845 (Anzeigen)Der Ingenieur Ernst Alban, ursprünglich von einem gewissen Karl Gustav Himly zum Mediziner ausgebildet, hatte im Laufe seines Lebens nicht nur einige großartige Erfindungen geschaffen, sondern auch gut florierende Fabriken aufgebaut. In einer dieser Fabriken, der Anlage zur Dampfmaschinen-Produktion in Plau, arbeitete der Lehrling Jonas Rottermund. Er war keinesfalls der einzige Lehrling, doch bei weitem der begabteste. Was die Meister sagten, verstand er sofort; er begriff, ohne zu lernen und half nach einiger Zeit sogar, die Entwürfe neuer Maschinen vor und während des Baus zu verbessern.
Es war eine anstrengende Arbeit, doch sie half Jonas – und eben auch Viktor – dabei, die Zusammenhänge der Natur, Physik und Chemie, zu verstehen. Das Wissen fiel ihm regelrecht in den Schoß; er las etwas, und verstand es.
Doch war es im Grunde weniger die Begeisterung für die Wissenschaften, die ihn zu dieser Arbeit gebracht hatten, als die Abkehr vom Glauben, vom Religiösen. Viele Jahre hatte er sich bereits gegen seine Eltern und deren moralische Sicht der Welt gewehrt, doch es war in den ersten Monaten des Jahres 1845, als Viktor erkannte, dass die Stütze, die Rechtfertigung all dieser Dinge die Religion war.
Hatte er zuvor noch eine lose Verbundenheit zur Religion gespürt, schwor er ihr nun ab, und entschied sich, mit aller Leidenschaft die Naturwissenschaften zu erforschen – ein Ziel, das er verfolgte, bis er tatsächlich keinen Gedanken mehr an die Religion verschwendete.
Als er dies bemerkte, stellte er sich die Frage, ob er seinen Eltern noch einmal gegenübertreten könnte. Hatte sich seine Sicht auf sie durch die Abkehr von der Religion geändert? Würde er sie unabhängig davon sehen können? Oder würde er das, was er sah, nur umso mehr verabscheuen? Jonas Rottermund verließ Plau, und Viktor machte sich auf den Weg nach Hause…