6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 02:38 Uhr - Gerd's Eck
Der Mann war bereits in Gedanken und schien Donalds lobenden Worte nur am Rande wahrzunehmen, er nickte dem Schotten jedoch zu.
"Wir haben nichts zu essen, wir sind eine Kneipe.", sagte der Braunschweiger in Gedanken versunken und blickte weiter in die Leere. Die Hände hatte er unter dem Kinn zusammengelegt, er betastete jeden seiner Finger einzeln, als wolle er ihre Beweglichkeit und das Gefühl in ihnen prüfen.
"Bier können Sie trinken, so viel Sie auch immer wollen. Auch die restliche Flasche Genever[1] können Sie sich gönnen oder Wasser. Den Rest brechen Sie bitte nicht an."Der Braunschweiger griff in die Tasche und holte einen, kleinen Holzstab hervor, aus einem Regel über sich friemelte er zwischen Gewürzbehältnissen und kleinen Krügen ein kleines Tintenfässchen aus Zink hervor. Aus einer anderen Tasche zog er ein leicht feuchtes Papier, welches er notdürftig über einer roten Kerze, welche er für diesen Zweck entzündete, zu trocknen begann.
"Wenn Sie keinen Proviant mehr haben, werden Sie bis Emkendorf noch hungern müssen. Aber Sie wissen ja, sieben Bier sind auch ein Schnitzel."Mit geübter Hand steckte er eine Schreibfeder
[2] auf den kleinen Holzstab. Sorgsam begann er auf den nun etwas trockenerem Papier zu schreiben, es wurde deutlich, dass er eine Doppelstrichfeder zum Schreiben nutze. Immer wieder tauchte die Feder in die Tinte ein, mit einem Stofftuch trocknete er den Kiel vorher jedoch immer. Er hatte ein sehr hochwertiges Schriftbild, auch wenn er in einer Sprache schrieb, welcher sowohl dem Schotten als auch der Nonne fremd war, auch wenn sie die Schriftzeichen als kyrillisch identifizierten. Trotz seines schönen Schreibstiles machte die Doppelstrichfeder das Schriftbild fast unlesbar, es würde sicherlich einige Mühe bedürfen, diesen Text zu lesen.
Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, der Regen draußen hatte nachgelesen und war in ein stetiges und ungemütliches Nieseln übergegangen. Vor allem aber hatte der Wind endlich seine Kraft verloren. Donald war endlich etwas getrocknet und die Schwester hatte geduldig gewartet, der schwarze Braunschweiger legte endlich die Feder aus der Hand und hatte das Papier beidseitig beschrieben. Sorgfältig pustete er nochmal darüber und nutzte ein zweites Blatt als Löschpapier, damit die Tinte sich nicht sammelte und das Schriftbild weiter verkomplizierte, dann endlich faltete er das Blatt doppelt und faltete aus einem zweiten Papier ein Umschlag für den Brief. Er träufelte etwas Wachs auf den provisorischen Umschlagrücken und kramte einen kleinen Petschaft
[3] aus seinem unglaublichen Sammelsurium an Kleingegenständen, welche er in seiner Weste zu verstecken schien. Er drückte ein Symbol in das rote Wachs, welches grob an einen stilisierten Adler erinnerte. Er schob es Donald und Hermene zu. Sein Blick klarrte deutlich auf und er stand auch wieder auf. Er erklärte sich zunächst nicht, sondern säuberte seine Materialien und verstaute sie dann wieder in seiner Weste. Das Tintenfass stellte er wieder auf das Regal.
"Sobald einer von Ihnen beiden die Gelegenheit hat, wer auch immer diesen Brief übergeben will, reiche er dieses Schriftstück Emil Nobel. Achten Sie darauf, dass es nur dann geschieht, wenn ich weit von diesen Ereignissen entfernt bin. Öffnen Sie dieses Schriftstück nicht und versuchen Sie es nicht, das Schriftstück durch eine Kerze zu lesen. Kommt es in einem Stück an und ungelesen, wird es von höchstem Nutzen sein."Mehr erklärte der Braunschweiger nicht und wimmelte auch alle Nachfragen brüsk ab, sollten sie gestellt werden. Stattdessen verwies er darauf, dass sie eine anstregende Reise durch die kalte, holsteinische Nacht vor sich hatten. Er nahm einen langen, schwarzen Militärmantel von der Garderobe und löschte alle Lichter der Kneipe, dann geleitete er Donald und Hermene nach draußen und verschloss den Laden.
"Wohl wissend, dass Sich noch ausrüsten müssen, werte Schwester, werden wir Ihren Stift besuchen."Gemeinsam brachen sie, schweigend, zum Treffpunkt auf und holten Hermenes Ausrüstung aus dem Stift.
6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 02:50 Uhr - Am Lazarett
Eine ganze Weile hatte die Besprechung der Studenten gedauert, die Unterredung darüber, wie man nun zu verfahren hatte und man hatte zumindest einen Konsens ganz gewiss finden können. Dieses omninöse Schriftstück hatte eine Brisanz, welche jeden gemeinen Mann in Ehrfurcht und Stammeln warf und vielleicht war es bei den Herren Nobel, von Lütjenburg, Schreiber und Rosenstock nicht anders gewesen, als sie sich gewahrten, was sie dort in ihrem Händen hielten. Eine ganze Reihe unschuldiger Männer hatte das Leben für dieses Schriftstück gelassen. Ein Schicksal, welches schwer auf dem jungen Emil lasten würde. Doch das war etwas, um das sich Alfred Nobel später zu kümmern hatte. Nachdem sie sich auf ein Vorgehen geeinigt hatten, ging es daran, sich ausreichend vorzubereiten. Man sprach sich ab, dass man gemeinsam zur Kutsche gehen würde. Carl bestand aus Sicherheitsgründen darauf, gerade da Alfred Nobel noch ein paar Worte mit dem Braunschweiger wechseln wollte, um etwas Zeit zu schinden. Wer wusste schon, mit welchen Brackwassern
[4] der Braunschweiger nicht alles gewaschen war. Nicht, dass er Alfred und seinen bettlägrigen Bruder bedrohte und entführte.
Schnell waren die Studenten in alle Winde verstreut und sammelten ihre Habe und ihre Bewaffnung zusammen, denn nichts erschien wichtiger, als nicht zu unvorbereitet in die Begegnung mit seiner Durchlaucht zu gehen. Und auch Alfred nutzte die Zeit und fragte, während er Doktor Kern zusätzliche Medikamente zukommen ließ, herum. Der Doktor dankte Alfred überschwänglich, schließlich waren die Medikamente sehr gefragt und doch verbanden sich damit auch grausames Nachrichten. An Verkühlungen und Verwundungen, Entkräftung, Verbrennungen und Verätzungen waren noch weitere fünf Patienten innerhalb des Lazaretts verstorben. Siebenundzwanzig hatte man aus dem Wasser geborgen und damit, Alfred musste schlucken, hatten 124 Passagiere und Schiffsbesatzung den Tod im Meer oder durch die Explosionen gefunden. Der Schaden war horrend und Alfred hatte die komplette Ladung verloren und sein Bruder schien zumindest eine Art Schuld daran zu tragen oder zumindest eine gewisse Verantwortung, hatte er doch dieses unheilsame Schriftstück bei sich.
Alfred hatte einen bestimmten Zauber im Kopf gehabt, als er sich nach Möglichkeiten der Dokumentverwahrung erkundigte. Es wunderte keinen, dass ein Geschäftsmann, der sein Schiff verloren hatte, nach Möglichkeiten der Sicherung der restlichen Bestände fragte. Doktor Kern legte ihm die Sparkasse der Stadt Kiel nahe, welche jedoch erst am Montag wieder gegen 9 Uhr geöffnet haben würde. Auch weitere Geschäfte, von denen Alfred hörte würden erst wieder am Monat geöffnet haben. So hörte er von einem alten Schiffsfahrts- und Krämerlader, dessen Besitzer allerlei magisches Grimsgrams von seinen Reisen über die Meere mitbrachte, als auch von einem selbstständigen Mediziner, der allerlei magisches Zeug angesammelt hätte, aber von den Ärzten der Stadt eher als Scharlatan abgestempelt wurde. In Molfsee sollte es einen Druiden geben, der Relikte sammelte und ein sonderbares Interesse an Schriftrollen besaß. Aber, so musste Alfred erkennen, kristallierte sich als größtes Problem heraus, dass der heutige Tag ein Sonntag war. Es war ein Kirchen- und kein Krämertag. Es war beinahe zum Mäuse melken, denn so viel Zeit zu schinden, das würde beinahe unmöglich sein.
Als Alfred zu seinem Bruder zurückkehrte und die Suche beinahe aufgegeben hatte, fragte er schon fast zynisch, seit wann es an einem Sonntag in einem protestantischen Land nur noch die Kirche gäbe. Es war ein merkwürdige Entwicklung gewesen, war ein Kirchentag, ein Messentag, im Mittelalter noch ein Tag und ein Treffen höchster Geschäftligkeit, brachte man heute die Zeit damit zu, dass man dem Priester lauschte, was zwar manchmal erhellend war, aber Alfred in dieser Situation kaum weiterhalf. Aber ausgerechnet der Soldat hatte zumindest eine naheliegende Lösung, welche die Situation vereinfachen könnte.
Am nächsten Morgen, nach dem Gottesdienst, würde Oberstwachtmeister Widdendorp mit ein paar Soldaten eine Inventur der Lagerbestände machen, vielleicht könnte Alfred dort mitwirken und das Notwendige finden? Ohne dass Alfred das Gespräch in eine solche Richtung gelenkt hätte, sondern eher allgemein gefragt hatte, glaubte der Soldat sich daran erinnert zu haben, dass alle Diplomaten Preußens und Österreichs Geheimhaltungszauber auf Reisen mitnahmen und jede Garnison deswegen Schriftrollen bereithalten müsse. Das war zumindest die schnellste Chance, von der Alfred hörte. Für alle anderen müsste er zumindest die Sonntagsruhe der Besitzer stören. Damit Alfred über Emil wachen konnte, erklärte sich der Soldat sogar bereit, Alfreds Anliegen - an einem Sonntag magische Gegenstände zu erwerben
[5] - dem Oberstwachtmeister vorzutragen.
Kurz darauf trudelten auch die Studenten wieder ein. Jene Studenten, welche sich gegen ein heißes Bad und ein kühles Bier im Unteroffiziersheim entschieden hatte. Jene Studenten, welche dem Schicksal noch nicht genug in den Schlund geschaut hatten, als sie auf dem Meer zwischen Tod und Feuer auf den Wellen ritten, um Menschenleben zu retten. Jene Studenten sahen bereits, dass auf dem Vorplatz eine große, schwarze Kutsche stand. Ein Monstrum von einem Gefährt, welches mindestens acht Passagiere fasste und von sechs, gut eingepackten, Schimmeln gezogen wurde. Sie war weitesgehend schnörkellos und zeigte keine besonderen Verzierungen oder Besitzmarken. Lediglich der silberne Totenkopf an der Tür verwies darauf, dass diese Kutsche im Privatbesitz des Braunschweigers oder im Besitz seiner alten Einheit war. Sie waren inzwischen bewaffnet und gewaschen, wieder ordentlich gekleidet. Es nieselte nur noch und der Wind war nur noch eine leichte, wenn auch kalte, Brise. Zusammen bewegten sie sich entschlossen auf die Kutsche zu.
6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 02:59 Uhr - Am Hafen
Der schwarze Braunschweiger war auch nicht alleine gekommen. Die merkwürdige, schattenumwobene Nonne, welche die Versammlung der Studenten gestört und sich mit Marius gestritten hatte, war beim Braunschweiger. Eine merkwürdige Entwicklung, wenn man bedachte, dass sie im Lärm der Kanonenschläge zuletzt in die Richtung des Altenstifts verschwunden war und vorher um Ruhe für die alten Menschen im Stift gezankt hatte. Neben ihr saß ein Schotte in einem typischen Kilt, er sah von Wind und Wetter inzwischen gegerbt und etwas mitgenommen aus, auf einem Pferd. Ein zusätzlicher Reiter, um die Kutsche abzusichern? Aber warum ein Schotte?
Der Braunschweiger ging wortlos an die Kutschentür und öffnete sie und verbeugte sich vor den Ankommenden. Er machte keinen Hehl daraus, dass er scheinbar mit einem gemeinsamen Erscheinen der Studenten und Alfred Nobels gerechnet hatte. Und man sah sofort, dass er unzufrieden war, sah er doch nicht alle Personen, an denen er ein ausgereiftes Interesse hatte.
In der Nähe standen mehrere Personen, vielleicht zehn, welche definitiv nicht den holsteiner Soldaten zuzuordnen waren und scheinbar zur Absicherung des Braunschweigers hier waren. Hermene erkannte einen besonders großen und furchtbaren Mann wieder. Es war Peter, der Mariner mit den unglaublich ungeformten Muskelbergen, welcher mit seiner bloßen Gestalt größte Grobschlächtigkeit annehmen ließ. Viel grobschlächtiger als die Studenten Paul empfanden. Die anderen waren schwer zu sehen, standen relativ weit abseits und in den Schatten, der inzwischen wieder entflammten Laternen, welche den Hafen nun etwas besser ausleuchteten. Die Kutsche stand unter solch einer Laterne.
"Bedauerlicherweise bemerke ich eine krumme Zahl. Es ist unserem letzten Gast doch hoffentlich nichts zugestoßen?", fragte der Braunschweiger, während er sich von der Tür entfernte und ein paar Schritte auf die Studenten und Alfred zuging.
"Darf ich vorstellen?" Er schnipste mit den Finger und zeigte auf die Nonne und den Schotten.
"Schwester Hermene und Donald Munro. Ihre Reisegefährten für die Fahrt nach Emkendorf."Er begann süffisant zu lächeln, als er sah, dass die Studenten inzwischen bewaffnet waren. Ihm schien ein Gedanken zu kommen.
"Sehr interessant. Halten Sie, werte Studenten, Ihre Bewaffung für Ihr Ehrenrepertoir oder darf ich annehmen, dass Sie an Ihrer Unversehrtheit zweifeln? Oder wollen sie Zeichen setzen und zeigen, dass Ihre Unterwerfung von solcher Bedeutung ist, dass sie Ihre Waffen vor seiner Durchlaucht niederlegen, statt nur die Parlamentärsflagge[6] der Freundschaft zu schwenken?"Er deutete auf die Tür und deute abermals eine Verbeugung an.
"Aber zuerst werden Sie mir natürlich erklären, warum Sie nicht vollzählig sind, nicht wahr?" Es war eine schwere Situation, auch für ihn, schließlich stand er jetzt relativ ungeschützt, nur nahe seiner Kutsche, zwischen potentiellen Feinden. Menschen, deren Zugehörigkeit er nicht genau kannte. Er hatte dennoch eine beneidenswerte Selbstsicherheit, die er an den Tag legte, als würde er wissen, dass alle Reisegefährten selbst nicht wussten, wie sie zueinander standen. Sein Blick gewann etwas Ernstes, als würde er mit allem rechnen, auch mit einem Angriff.