Kaveh Ahanger lächelte dem redseligen Mustafa nickend und aufmunternd zu, als dieser sich bedankte. Mustafa war eben jene Person, die ihm überliefert waren. Das wusste Kaveh zu respektieren, denn sie beide hatten einige Zeit ihres Lebens abseits der Zeltstädte verbracht, wenn auch mit unterschiedlichen Aufträgen. Während Mustafa die materiellen Werte für den Stamm besorgte, war es Kavehs Auftrag die ideellen Werte der Gemeinschaft zu stärken. Dies bedeutete vor allem die Niedertracht Vecors zu erkennen, aufzudecken und die Kunde und den Beweis jener Niedertracht zurück zu den Phönixfedern zu bringen. Nichts war für Kaveh wahrer als die Aussage, dass jedes Individuum eine Verantwortung gegenüber seiner Umgebung hatte, im materiellen und im sozialen Sinne und in allen Bereichen, in denen beide Gebiete sich überschnitten. Alleine deswegen verneinte Kaveh das Leben im Überfluss und genau deshalb wusste Kaveh zu schätzen, wenn jemand fernab seiner Gemeinschaft sein Leben riskierte, um die Gemeinschaft zu stärken, zu retten oder auch einfach zu ernähren. Und deshalb begegnete er Mustafa mit Respekt, so wie er jeden mit Respekt behandelte, der sich in der Art der Gemeinschaft dienstbar machte. Nichts war furchtbarer für eine Gemeinschaft als jene, die auf Kosten der Gemeinschaft nur ihr eigenes Leben zu gestalten gedachten, jene verachtete Kaveh, denn jenes war auch das Wesen der Kirche Vecors, deren Tyrannei alleine meinte, dass man sein Leben auf Kosten anderer lebte. Dass man die Schwächeren ausbluten ließ, um sich an ihrem Blut gütlich zu tun. Die Arbeit der Schwachen wurde zum Lohn der Reichen. Kaveh hoffte, dass keiner der anderen anfällig war für solch ein lotterhaftes, lasterhaftes Leben, denn es würde den Aufenthalt in Vecors Stolz gefährlich machen.
Abermals verneigte sich Kaveh vor Khassindra, als jene sie aufforderte, nun einzutreten. Doch Kaveh blieb schweigsam, denn seine Gedanken rasten. Sie drehten sich um das, was er hören mochte und ein dunkler Schatten legte sich über jene Gedanken.
Was ist, wenn ich nur für eine Kleinigkeit zu Vecors Stolz reisen muss? Kaveh dachte an das Testament, welches er bereits geschrieben hatte. All sein Vermögen, außer jenes, was er nur am Körper trug, hatte er bereits anderen hinterlassen, viel den Inquisitoren, doch auch einiges den Armen und Schwachen der Gemeinschaft, vor allem jene, welche durch Angriffe von Vecorianer verkrüppelt wurden an Geist und Leib. Er hatte ihnen zwar nicht gesagt, was er tun würde und noch wussten sie nicht von dem Testament, aber was würde er jetzt tun, wenn er nur eine Botschaft überbrachte oder wie ein Viehdieb ein paar wertvolle Ressourcen stahl? Langsam wurde Kaveh nervöser. Hatte er sich all die Glorie und die eruptive Zerstörung nur eingebildet? Hatten die Dämonen seiner eigenen Besessenheit von der großen Reinigung lediglich eine süße Illusion geschaffen und ihn glauben lassen, dass der große Tag heute gekommen sei? Aber wozu dann der Rauch, dieses Ritual? Schweigend betrat Kaveh das Zelt.
Der dunkelhaarige Inquistor betrachtete das Ritualopfer. Gab es Zeichen, dass ein Vecorianer war? Er hatte von den Befragungen gehört, von dem Vecorianer, den man gefangen genommen hatte. War das Herz also ein Opfer für den Schutzzauber oder der Glaube, dass man die Wahrheit am besten mit dem Herzen erkannte? Kaveh blickte an dem Opfer vorbei, denn er sah ungerne Leid und zerborstene Körper und blickte sich weiter im Raum um. Vielleicht gab es weitere Auffälligkeiten, die erst auf dem zweiten Blick zu erkennen waren. Es war eine alte Angewohnheit Kavehs, sich sorgfältig umzuschauen, um nicht überrascht zu werden. Eine Angewohnheit, die er auch in den Wänden eines Freundes nicht ablegte
[1].
Er verneigte sich wieder mit überkreuzten Armen, doch nun ganz tief und er ging dabei auf ein Knie vor seinem Herrscher, seinem Haupt.
"Ich, Kaveh Ahanger, grüße euch!", sagte er mit fester Stimme und hielt den Kopf geneigt. Es geziemte sich nicht, den eigenen Herrscher anzustarren. Während Kaveh die Beine Jamals anschaute, fiel ihm wieder ein, wie sehr er das Wort Häuptling verachtete. Die Konnotation der Wortendung gab es nur in abfälligen Worten oder in verniedlichenden Worten, wie Schreiberling, Jüngling, Wüstling oder als neutraler Ausdruck in Objekten, doch ihr Haupt war weder ein Objekt, noch etwas Negatives, etwas zu Verneinendes. Nur Vecorianer würden ihn Häuptling nennen und das Primitive, welches diesem abwertenden Wort anhängt, betonen. Kaveh verstand, dass manchmal die abwertenden Worte des Feindes übernommen wurden, um eine trotzige Identifkation mit den eigenen Werten zu schaffen, doch bei dieser Position verachtete er diese Wortwahl noch immer, weshalb Kaveh es vermied, dieses Wort jemals zu nutzen.
Während Jamal sprach, rekapitulierte der Inquisitor alles, was er über die Kunst des Taarof
[2] gelernt hatte. Eine Form der diplomatischen Kommunikation, wie sie unter den Inquisitoren, von denen Kaveh ausgebildet wurde, üblich war. Doch das Gespräch entwickelte sich nicht so, dass es von Nutzen war. Weiterhin der knienden Stellung gab Kaveh als erstes seine Antwort zu Mustafa al'Jaali.
"Großer Jamal. Der Nutzen eines so erfahrenen Mannes, obgleich seine Körpergröße uns häufig täuschen mag, ist von uns Unerfahrenen kaum zu messen.", begann Kaveh in der Bescheidenheit, die den Inquisitoren in der Sprache, aber nicht im Denken, gegeben war.
"So kann mein Mund nur äußern, was mein Herz, mein Auge und mein Geist sehen. Sie sehen einen Mann, der aufgrund seiner Größe der Gruppe von Menschen, die ihr ins Vertrauen zieht, nicht ins Gewicht fallen wird. Seine geringe Körpergröße, die wir erst unterschätzen mögen, sorgt dafür und auch sonst ist sie im Gewirr von engen Marktgassen und festen Mauern mehr von Nutzen als es so mancher Minotaure in seinem Labyrinth ist. Sie spüren sein Gespür für die richtigen Orten und eine Gläubigkeit an unseren Herren. Sie hören von seiner Erfahrung. Und Herz, Auge und Geist erkennen seinen Scharfsinn, diese Versammlung ohne Einladung zu finden und seinen Mut, sich Herausforderungen und Konsequenzen zu stellen, die schwer vorherzusehen sind ohne das Wissen, was es genau sein wird, was wir tun werden. Einzig mag der von Verfolgung geplagte Geist gegen Mustafa al'Jaali vorbringen, dass er Sorge um dessen Ehrlichkeit hat, ist er doch alleine viele Tage in der Wüste unterwegs und seine Selbsteinladung wie geleitet. Der von Verfolgung geplagte Geist mag in seiner Höflichkeit Spiel entdecken wollen, doch der von Verfolgung geplagte Geist bildet sich viele Feinde ein, überall, und doch ist es dieses Geistes Irrsinn, es solange zu tun, bis er einmal Recht behält und sich in seinem Wahn bestätigt fühlt. Ich, großer Jamal, bin kein solcher Geist."Kaveh spürte, dass er noch immer nervös war. Er spürte, dass seine Handflächen leicht schwitzten und der Haaransatz an seiner Stirn feucht war. Dazu die stickige Luft des Zeltes und der nun Herzlose unweit von ihm, dessen Herz sich unablässig drehte. Kaveh glaubte gar die Drehbewegung zu hören. Aber was es auch war, was er in Vecors Stolz tun sollte, es war seine Pflicht diesem zuzustimmen.
"Der Wille meiner Person ist geleitet vom Willen der Gemeinschaft und vom Willen des Vulkanherren. Meine eigenen Sorgen spielen keine Rolle in der Bewertung der Taten, die zu vollbringen sind. Großer Jamal, ihr schickt mich im Einklang mit den Worten des Vulkanherren in die Höhle des Löwen, und ich werde gehen, selbst wenn der Balg des Löwen nur mit dessen eigenen Klauen zu zerschneiden ist." Kaveh sprach mit fester Stimme, doch seinen Kopf ließ er geneigt, nur auf die Füße seines Herrscher blickend.