Dana war etwas entnervt, auch wenn sie versuchte, sich das nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Ichabod Crane, ihrem Exmann, nun, etwas mehr als drei Monate nach ihrer Trennung, wieder so nahe zu sein, ließ sie beim besten Willen nicht kalt, auch wenn sie dies natürlich nie offen zugegeben hätte.
Auch wenn drei Monate eine nicht zu verachtende Zeitspanne darstellten, war es dennoch so gewesen als wäre kein Tag seit ihrem letzten Aufeinandertreffen (und das im wahrsten Sinn) vergangen, als Ichabods dürre Gestalt im diesigen Wetter von Marian Leigh aufgetaucht war.
Auf erneuten Streit hatte es Dana aber nicht angelegt. Das hatte sie nie, wenn sie ehrlich zu sich war – jedoch wäre sie unehrlich zu sich gewesen, wenn sie mit Entschlossenheit geleugnet hätte, dass sie in gewissen Situationen vielleicht und eventuell einen Mangel an Diplomatie zur Schau gestellt haben könnte. Dennoch: Ichabod hatte sie stets auf irgendeine Art und Weise provoziert, so war es gewesen, sie hatte kaum eine Wahl gehabt. Das Ende ihrer Beziehung war absehbar gewesen. Die ständigen Streitereien hatten an den Nerven und an ihrer Liebe zueinander gezerrt.
Und nun… nun hatte das Schicksal es nicht gut gemeint und Dana mit besagtem Exmann in eine enge, stickigen Wagen eingepfercht. Den Weg nach Ravengro in diesem vermaledeiten Gespann, dessen Kutscher es offenbar darauf angelegt hatte, jede Bodenwelle oder sonstige Unebenheit mitzunehmen, die auf den Straßen quer durch Ustalav zu finden war, hatte Dana sich etwas anders vorgestellt.
Dieses „etwas“ vermochte sie genau zu definieren. Mit den Unannehmlichkeiten dieser Art des Reisens war sie durchaus vertraut und auch damit, dass Postkutschen nicht selten Passagiere statt nur Briefe transportierten. Aber insgeheim hatte sie darauf gehofft, erst auf ihren ehemaligen Göttergatten zu treffen, wenn die Beerdigungszeremonie des seligen Professors beginnen würde – auch wenn die Hoffnung gering und erwartungsgemäß enttäuscht worden war. Immerhin führten nicht allzu viele Wege nach Ravengro. Jedoch wäre es ihr, wenn das Glück ihr hold gewesen wäre, auf jeden Fall erspart geblieben, demonstrativ gleichgültig Blicken auszuweichen, Augenkontakt sowieso zu vermeiden, oder aber gegensätzlich zurückzustarren, wenn sie bemerkte, dass die seinen auf ihr ruhten. Dabei galt es, den Drang zu unterdrücken, vor Langeweile doch noch ein Gespräch mit ihrem Gegenüber anzufangen.
Unterhaltungsmangel war schon immer einer Danas größter Feinde gewesen. Zuerst hatte sie noch versucht, wann immer sich die Gelegenheit bot, dass zögerliches Sonnenlicht sich ihrer erbarmte, Journal und Füller zu ziehen, ihre Niederschriften zu lesen und sich hier und dort Randnotizen zu machen, da sie ohnehin nichts Besseres zu tun hatte. Stur wie sie war, ließ sie sich von zumeist dämmrigen und eigentlich ungenügendem Licht im Kutscheninnereren und dem unbequemen Holpern des Wagens nicht irritieren, auch wenn sie unwillkürlich die Augen zusammenkneifen und die Stirn runzeln musste – und die Umstände allgemein ihrer sonst ordentlichen Handschrift nicht gerade zuträglich waren. Im Grunde ging es ihr nicht darum, produktiv zu sein, denn das war ihr von unkontrollierten Ausschlägen unterbrochenes Gekritzel mit Sicherheit nicht, sondern wenigstens einen für kleinen Teil der Reise beschäftigt zu scheinen und sich nicht dazu hinreißen zu lassen, sich näher mit Ichabod zu befassen.
Aber ganz umhin, ihn zu mustern, kam Dana nicht. Seinem Äußeren nach zu urteilen, hatte ihrem Exmann die Zeit, die vergangen war, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten, nicht gut getan. Dass jedes seiner Haare in Anbetracht der Unannehmlichkeiten dieser Reise beinahe schon absurder Perfektion dort saß, wo es hingehörte, überraschte wenig – schließlich kannte sie dies nicht anders. Jedoch wirkte der Rest von ihm etwas… schäbiger als Dana es in Erinnerung hatte. Der Gehstock war allerdings neu. Zumindest an ihrem Exmann, denn das Stück selbst sah alles andere als das aus. Zusammen mit dem schwachen Gestank nach Tod, der an seiner schlammbespritzten Kleidung haftete wie ein aufdringliches Parfüm, war die einzige Erklärung dafür, dass Ichabod nach der Trennung in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, wie auch Dana in die ihre.
Dennoch musste sie ihm zugestehen, dass er die Ausstrahlung, die sie selbst einst in den Bann gezogen hatte, wie eh und je besaß. Ein Umstand, der Dana ihrer eigenen Gefühle wegen ärgerte. Vielleicht hasste sie ihren Exmann in diesem Augenblick sogar ein kleines bisschen dafür. Es war tatsächlich nicht leicht für sie, dass Ichabod ihr allein durch seine Anwesenheit ihre gemeinsame Vergangenheit unter die Nase rieb. Dass er allerdings ihren Ehering trotz der Trennung noch am Finger trug, fiel ihr nicht sofort auf. Doch als es soweit war, wusste sie nicht so recht, was sie davon halten sollte. In gewisser Weise hätte sie sie sich geschmeichelt fühlen können, wäre da nicht der eigene, tief sitzende Groll und der leise Verdacht gewesen, dass Ichabod sich damit über sie lustig machen wollte. Schließlich quittierte Dana ihre Entdeckung, indem sie nicht ganz ohne Spott eine Augenbraue hochzog und danach wieder schweigend in die Gegend starrte, döste, sich mit unmotiviertem Desinteressiere mit den eigenen, ringlosen Fingern beschäftigte, indem sie geistesabwesend Rhythmen auf der Bank oder ihrem Oberschenkel trommelte…
Die Zeit verging erbarmungslos zäh. Sie war schon etwas länger unterwegs, die Reise zusammen mit Ichabod dauerte jedoch lange anderthalb Tage.
Entsprechend erleichtert war Dana, als die Postkutsche am 2. Eidestag des Rova gegen Mittag ihr Ziel erreichte. Kaum kam das Gespann zum Stehen, trat sie auch schon regelrecht die Flucht an. Ihr eigener Stolz hatte sie davor bewahrt, in Ichabods Anwesenheit einer Art Lagerkoller anheimzufallen, doch nun ergriff sie sofort die Chance, sich zumindest von dem gezwungenen, beklemmend schweigsamen Zusammensein zu befreien – und das noch bevor ihr Exmann auch nur Anstalten machen konnte, ihr aus der Kutsche zu helfen, hätte dieser das denn in Erwägung gezogen.
Dana stieg vom Wagen und setzte ihre zuvor noch recht sauberen Stiefel in schlammbraunen Matsch. Nicht begeistert, aber diesen Umstand hinnehmend, spannte sie ihren Regenschirm auf, um sich vor unnötiger Bewässerung zu bewahren. Zimperlich durfte man in einer Gegend wie dieser nicht sein, aber es wäre dennoch unangenehm, sich nach der anstrengenden Anreise auch noch vom Regen durchnässen zu lassen, der schon zuvor als beinahe ständiger Begleiter für melancholische Trübsinnigkeit gesorgt hatte. Auch wenn die feuchte Luft ihr tatsächlich etwas zu schaffen machte, war diese hier draußen erheblich besser als im Inneren der Kutsche, sodass Dana erst einmal mit tiefen Atemzügen ihre Lungen erfrischte.
Ichabod und sie waren nicht die einzigen, die gerade erst auf dem Dorfplatz angekommen waren. Dana machte drei Männer aus, die scheinbar mit einer anderen Postkutsche angereist waren (Dana grüßte sie mit einem ihrer schönsten Lächeln, als auch sie erblickt wurde, und stellte sich ihnen mit dem Namen „Dana Gray“ vor), und auch einige Dörfler hatten sich schon mehr oder minder aus Interesse, wohl eher aber aus vor allem typisch ländlichem Misstrauen gegenüber Fremden, zusammengefunden.
Ein herzliches Willkommen brauchten sie nicht erwarten und Dana war nicht enttäuscht, da sie auch nicht damit gerechnet hatte. Dennoch wagte sich schließlich eine betagte Frau vor, um die Neuankömmlinge zu empfangen – auf ihre eigene Weise. Trotzdem die Dörflerin wirklich nicht sonderlich begeistert klang, Fremde in Ravengro zu sehen, wenn nicht sogar abweisend wirkte, war Dana im Gegenzug bedacht, höflich zu sein, als sie das Wort ergriff.
„Seid gegrüßt“, erwiderte Dana und schenkte auch der Alten ein kurzes Lächeln, welches dann aber, als sie den Grund ihrer Anwesenheit in Ravengro erklärte, wieder aus ihrem Gesicht wich.
„Wir erhielten die traurige Kunde vom Tod Professor Lorrimors und wurden eingeladen, ihm das letzte Geleit zu geben. Wir werden vermutlich bereits von seiner Tochter Kendra erwartet.“
Davon ging Dana aus – und auch davon, dass die alte Frau wusste, wovon sie da redete.
„Wäret Ihr so gut, uns den Weg zu weisen?“, ergriff sie dann einfach die Initiative. Sie hatte keine Lust, im Regen herumzustehen und sich angaffen zu lassen, wenn es sich vermeiden ließ.