Der Brief deiner Kusine war kurz, gerade einmal eine Seite. Es fehlten Datum, Ort, sogar die Unterschrift.
Liebste Saoirse. Mir geht es gut. Du wirst mich jetzt sicherlich hassen, dafür dass ich vor drei Monaten so sang- und klanglos verschwunden bin und Dich an jenem fürchterlichen Ort allein zurückgelassen habe, obwohl Du so viel für mich getan, für mich aufgegeben hast. Aber ich habe es einfach keinen Tag länger dort ausgehalten!
Als Du-weißt-schon-wer fragte, wer von uns da heraus wollte, habe ich den Rest seiner Rede gar nicht mehr abgewartet, sondern bin vorgetreten. Und ich bereue nichts. Da, wo ich jetzt bin, ist es besser. Einige hier bezeichnen es zwar als Abgrund der Hoffnungslosigkeit, aber die wissen nicht, was Hoffnungslosigkeit bedeutet. Hier kann ich wenigstens etwas für mein Land, für uns alle tun, und werde dafür respektiert, nicht ausgegrenzt.
Bestes Beispiel: einer, der mit mir zusammen die Aufnahmezeremonie durchlebt hat, war vorher bei den Templar. Erst war das Verhältnis zwischen uns sehr angespannt; jetzt sind wir Kameraden. Warum kann das nicht in ganz Ferelden so sein? Denk Dir nur: Magier und Templar, die Seite an Seite gegen den eigentlichen Feind kämpfen, wäre das nicht was?
Doch ich muss Schluss machen. Pass bitte auf Dich auf. Und eines Tages, wenn Du kannst, verzeih mir.
Deine Freundin L.
Du hattest den Brief bereits dreimal gelesen und wusstest immer noch nicht, wie du dich fühlen solltest: erleichtert, verärgert, besorgt? Erleichtert, weil es Lyn gut ging; verärgert, weil du für den Rest deines Lebens an einem Ort festsitzen würdest, den du nur ihr zuliebe je betreten hattest, und dein Opfer nun völlig umsonst gewesen war; besorgt, weil Lyn nun zwar freier, aber wesentlich gefährlicher lebte?
Bevor du deine Gefühle ordnen konntest, klopfte es an der Tür. Einer der Neulinge, dessen Namen du dir noch nicht gemerkt hattest, steckte den Kopf herein und sagte:
"Sera Cousland, der Ordenskommandant will Euch sprechen. Sofort." ~~~~~
"Setz dich", sagte Ser Greagoir, als du kurz darauf sein Zimmer betratest.
Du gehorchtest stumm. War es endlich soweit? Wollte der Ordenskommandant mit dir die Einzelheiten deiner Abschlussprüfung besprechen? Es war ja auch höchste Zeit. Nicht, dass du so sehr darauf branntest, aber gestern hatte sogar Cullen, ein guter Freund, der ein Jahr nach dir mit der Ausbildung begonnen hatte, freudestrahlend verkündet, er werde heute der Prüfung zum Ritter unterzogen. Und überhaupt, es führte nun einmal kein Weg daran vorbei. Jedenfalls kein ehrenhafter. Da war es doch besser, wenn das alles endlich hinter dir läge.
"Ich habe einen Auftrag für dich", sagte Ser Greagoir. Er hielt einen Brief in der Hand, den er offenbar mehrmals gelesen und dann unordentlich wieder zusammengefaltet hatte, denn die Faltlinien verliefen kreuz und quer, doppelt und dreifach.
"Bannfrau Lorna aus Südtor bittet mich, in einem Örtchen namens Waldheim nach dem Rechten zu sehen. Die Bewohner dort sind der festen Überzeugung, ein Magier der Talelfen habe sie verflucht, weshalb Dorfwächter Tarl ihr einen Boten mit Bitte um Beistand sandte. Er schreibt, dass ein kleiner Zug Elfen zum Erntedankfest für einige Tage ins Dorf gekommen waren, um zu handeln, und dass es zu Handgreiflichkeiten zwischen jungen Burschen der beiden Seiten gegeben habe, worauf einer der Elfen einen fürchterlichen Fluch ausgestoßen habe. Wenige Tage, nachdem die Elfen abgezogen waren, kam es dann zu seltsamen Überfällen auf Gehöfte am Dorfrand und in der Umgegend. Zunächst wurde nur Vieh getötet oder verletzt; jetzt sind wohl zum ersten Mal Leute verschwunden. Fürchterliche Monster seien gesehen worden, obwohl die Beschreibungen der 'Augenzeugen' so weit auseinander gehen, dass Dorfwächter Tarl selbst bezweifelt, dass auch nur ein einziger davon wirklich ein Monster gesehen hat. Doch er ist sich sicher: was immer das Vieh überfällt, Wölfe waren es nicht. Ob er auch an einen Fluch glauben soll, weiß er nicht, doch er will die Möglichkeit nicht ausschließen.
Nun gibt Bannfrau Lorna zu, dass die Leute dort unten besonders abergläubisch seien, aber zum einen sind wir verpflichtet, jede mögliche Bedrohung durch Magie zu untersuchen, zum anderen befürchtet Lorna, die Dorfbewohner könnten die Sache sonst in die eigene Hand nehmen.
Es geht bei diesem Auftrag also vor allem darum, dass ein Templar dort gesehen wird, der die Sache so gründlich wie möglich untersucht und dann eine Lösung findet, mit der die Bewohner sich beruhigen lassen, ohne dass es zu Übergriffen auf die Talelfen kommt. Denn so etwas kann schnell eskalieren: die Dorfbewohner überfallen die Talelfen, diese starten eine Gegenaktion, welche wiederum einen Racheakt der Dorfbewohner nach sich zieht, dann wird der Nachbarort involviert, und zum Schluss muss König Cailan Truppen in den Wald schicken, um die Talelfen daran zu erinnern, dass sie in Ferelden nur geduldet werden, solange sie in ihrem Wald bleiben."Letzteres war nicht ganz korrekt: das zitierte Gesetz bezog sich einzig auf die Magiebegabten unter den Talelfen, und du wusstest auch genau, was Ser Greagoir von diesem Zugeständnis an die Elfen hielt: absolut nichts. Ihn wurmte es, dass es in diesem Land Magier gab, die sich seiner Kontrolle entzogen. Ihm wäre es vermutlich sogar recht, wenn der König Truppen in den Elfenwald würde schicken müssen.
"Das soll also deine Aufgabe sein: untersuchen, ob etwas an der Behauptung dran ist – in dem Fall unternimm aber nichts selbst, sondern benachrichtige mich sofort per Boten, damit ich Verstärkung schicke – und, sollte wie erwartet nichts hinter der Sache mit dem Fluch stecken, tu alles, um die Dorfbewohner zu beruhigen. Finde, wenn möglich, die wahren Schuldigen. Hast du alles verstanden?""Ja, nur... warum schickt Ihr mich?" entfuhr es dir, bevor du deine Zunge bremsen konntest.
Falls Ser Greagoir verärgert war, ließ er sich nichts anmerken.
"Weil meine Ordensritter zurzeit alle etwas besseres zu tun haben, als abergläubische Dorfbewohner zu beruhigen. Außerdem solltest du die Aufgabe als Bewährungsprobe sehen: erledige sie zu unserer Zufriedenheit, und du kannst gleich im Anschluss die Ritterprüfung ablegen. Solltest du aber scheitern... Nun, was dann mit dir passiert, hängt davon ab, wie arg du scheiterst.
Geh jetzt und bereite dich auf die Reise vor. Ser Owain weiß Bescheid, er wird dir Pferd und Ausrüstung zuweisen. Rationen lass dir in der Küche geben. Der Schöpfer sei mit dir.""Verstanden, Ser Greagoir," sagtest du, bevor du dich zur Tür wandtest.
~~~~~
Draußen im Gang machtest du dich eilends auf den Weg zu Ser Owains Amtsstube.
Der Auftrag gefiel dir. Nicht nur würde er dich aus dem Turm herausführen – wann hatte man dir das letzte Mal Ausgang gewährt? Vor drei Jahren, zum Begräbnis deiner Großmutter! – sondern er bot dir auch noch die Gelegenheit, einer abergläubischen Bevölkerung klarzumachen, dass man Magie nicht fürchten musste.
Vielleicht hat das Schicksal mich doch an den richtigen Ort verschlagen! Auch wenn Lyn mich nicht mehr braucht, so kann ich dennoch anderen helfen, die sich nichts zu Schulden haben kommen lassen, als dass sie mit einer vom Schöpfer geschenkten Gabe auf die Welt kamen.
Das ist doch ein lohnenswertes Lebensziel: zwischen Magiern und Nicht-Magiern vermitteln. Den einfachen Leuten beizubringen, dass Magier auch nicht viel anders als sie selbst sind; junge Rekruten bei den Templar dazu anhalten, die Magier menschlicher zu behandeln, sie mehr als Mitstreiter denn als Feind zu sehen; das Los der verschleppten Kinder lindern, indem ich mich dafür stark mache, die Ärmsten nicht so einzuschüchtern, nicht so plötzlich und so gewaltsam aus ihren Familien zu reißen wie man meine Kusine aus ihrer Familie gerissen hat, sondern erst zu erklären, worum es geht, was sie erwartet, sie langsam darauf vorbereiten... Träumerin! Oder nicht? Außer mir sind alle immer entweder ganz auf der einen oder ganz auf der anderen Seite! Vielleicht braucht es endlich einmal jemanden, der einen Weg der Mitte sucht!Solchermaßen von deinen Gedanken abgelenkt, pralltest du plötzlich mit jemandem zusammen, der in einer dunklen Ecke kurz hinter einem Torbogen stand.
"Cullen! Was ist? Bist du durchgefallen?" fragtest du deinen Kameraden, obwohl dir seine leichenblasse Miene bereits Antwort genug schien.
Cullen blickte einen Augenblick verdattert, dann schien er erst zu begreifen, wen er da vor sich hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf.
"Nein", sagte er.
"Ich habe Glück gehabt." Dann widerholte er mit seltsam hohler Stimme und schreckensweiten Augen:
"Grundgütiger Schöpfer, was habe ich ein Glück gehabt! Wenn Elayne schwach geworden wäre... nicht auszudenken!""Elayne?" fragtest du erstaunt.
"Was hat Elayne denn mit deiner Prüfung zum Ritter zu tun?"Elayne war eine Magiernovizin, in die Cullen sich verguckt hatte, was natürlich gegen alle Regeln war und ihm obendrein furchtbar peinlich. Nicht, dass jemals etwas passiert wäre außer schmachtenden Blicken seinerseits und oberflächlicher Flirterei ihrerseits. Wenn einer in dieser Situation hätte schwach werden können, so wäre es Cullen gewesen, sicherlich nicht Elayne!
Aber über so etwas redete Cullen nur, wenn er ein paar Bier intus hatte.
"Komm auf mein Zimmer, ich hol uns ein Bier aus der Küche. Du brauchst etwas auf den Schreck!"Cullen folgte dir willig. Drei Bier später hatte er dir allerdings noch immer nicht verraten, weshalb er so erschrocken war und was Elayne mit der Sache zu tun hatte.
"Nun stell dich nicht so an!" schaltest du.
"Ich muss die Prüfung doch auch bald machen. Als mein bester Freund und Kamerad musst du mir doch wenigstens einen kleinen Tipp geben können, was mich da erwartet, sonst schaffe ich es am Ende nicht. Dann flieg ich hier raus und wir können nicht mehr zusammen für Recht und Ordnung kämpfen, das willst du doch auch nicht!"Cullen war wie du aus Highever, doch stammte er aus einfachen Verhältnissen. Die gemeinsame Heimat hatte euch dennoch von Anfang an verbunden und Cullen war ziemlich stolz darauf, die Tochter des Teyrns seine Freundin und Kameradin nennen zu dürfen. Auch jetzt setzte er sich bei diesen Worten unwillkürlich gerader hin.
Dennoch brauchte es zwei weitere Biere, um seine Zunge zu lösen. Und während du seinem Bericht lauschtest, wurdest auch du schreckensbleich.
"Du erfährst es am Tag vorher", begann Cullen,
"aber die Novizen werden ohne Vorwarnung aus dem Bett gezerrt und in die oberste Kammer des Turms geleitet. Dort warten schon der Oberste Magister, drei seiner engsten Vertrauten, und zwei Dutzend von uns, drei davon Anwärter auf die Ritterschaft. Die Novizin, die man brachte, war Elayne. Es war ihre Abschlussprüfung so sehr wie die meine. Ihre Aufgabe war es, eine Reise durch die Geisterwelt zu bestehen – und zwar durch die tiefsten Tiefen, wo die schrecklichsten Kreaturen hausen! – ohne auf einen Dämon hereinzufallen. Meine Kameraden und ich dagegen mussten sie mit gezückten Schwertern umstellen und die ganze Zeit beobachten. Wir hatten Befehl, sie beim ersten Anzeichen einer Besessenheit zu töten: einer sollte ihr die Kehle durchschneiden, einer die Brust durchstoßen, der dritte das Schwert in den Leib rammen! Und man hatte uns nicht einmal gesagt, welcher Art 'Anzeichen' denn nun von Besessenheit zeugten."An dieser Stelle brauchte Cullen eine Pause, um sich zu fangen. Etwas ruhiger fuhr er fort.
"Weißt du, wie hoch die Erfolgsquote unter den Novizen zurzeit ist? Nur einer von vieren schafft es! Ich zähle schon seit zwei Jahren mit, ohne freilich zu wissen, was genau während den Prüfungen passiert. Ser Owain sagt, ich hätte nur eine besonders schlechte Zeit erwischt, normalerweise würde es jeder zweite schaffen..." Du warst immer wieder erstaunt, was Cullen alles zählte – seine Eltern waren Kaufleute; vermutlich hatte er das Zählen vor dem Laufen gelernt – aber in diesem Punkt erstaunte es dich fast noch mehr, dass du nicht selbst auf die Idee verfallen warst. Wenn das stimmte... und es musste stimmen, denn Cullen verzählte sich nie... Dir fehlten die Worte.
"Wenn Elayne nicht... wenn ich hätte zustechen sollen...", fuhr Cullen fort,
"ich weiß nicht, ob es es gekonnt hätte... aber es wäre nicht mehr Elayne gewesen... es hätte geheißen: ich oder der Dämon! Von uns schafft es nämlich einer von fünfen nicht: ein paar, weil sie zu früh zustoßen, die meisten aber, weil sie zu lange zögern. Und die erliegen dann oft den Wunden, die der Dämon ihnen zugefügt hat, bevor die anwesenden Ritter heraneilen und das Scheusal in Stücke hauen konnten... Das ist Absicht, erklärt man uns vorher. Echte Todesgefahr sei nötig um zu testen, ob wir das Zeug haben, um uns klarzumachen: wir oder sie, kein Kompromiss. Jedenfalls... es wäre nicht mehr Elayne gewesen."Cullen würgte. Er war jetzt ganz grün im Gesicht.
"Aber sie hat es ja geschafft!" versuchtest du ihn zu trösten.
"Alles ist gut gegangen!" Innerlich war dir aber nicht nach Trost zumute, sondern nach Schreien. Und Schlagen. Dein Zimmer. Am liebsten würdest du alles kurz und klein schlagen.
"Ja", sagte Cullen, und plötzlich schwellte seine Brust vor Stolz.
"Es heißt, so schnell und sauber hätte in den letzten zwanzig Jahren kein Novize seine Prüfung bestanden! Ich habe auch niemals an ihr gezweifelt."Warum klang seine Stimme dann so zweifelnd, als er fortfuhr:
"Es ist das kleinere von zwei Übeln. Man muss ja nur einen Blick nach Tevinter werfen, um zu sehen, was passiert, wenn man Magier schalten und walten lässt, wie sie wollen. Dämonenpakte, Menschenopfer, Blutmagie! Manchmal denke ich, ob der Schöpfer uns die Magie als Strafe für unsere Sünden geschickt hat. Ohne Magie wäre unsere Welt eine bessere! Es gäbe keine Finsterbrut! Keine Großen Seuchen, keine Wandler, keine Scheusale! Es geht nicht anders. Man muss prüfen, wer von ihnen einem Dämon widerstehen kann. Das kleinere von zwei Übeln..."Du wusstest nicht, was du darauf antworten solltest. Du musstest daran denken, wie sehr du deine Eltern angefleht hattest, zu den Templar zu dürfen. Auf deine Kusine wolltest du aufpassen, die man in den Magierturm verschleppt hatte, keine zehn Jahre war sie alt gewesen! Lyn, die nun einen Weg hier heraus gefunden hatte, während du noch immer festsaßt: nur der Tod oder aber der Verlust von Gesicht und Ehre konnte dich davon erlösen.
Das kleinere von zwei Übeln...doch welches war das kleinere? Tod oder Ehrlosigkeit?
Cullen war derweil auf deinem Bett zusammengesunken und schnarchte. Du standst auf und gingst leise zur Tür. Du musstest dich um deine Reisevorbereitungen kümmern. Diesen Auftrag würdest du in jedem Fall erledigen – wie auch immer du dich hinterher entscheiden mochtest. Nur einen Mord, das wusstest du jetzt schon, einen Mord würdest du nicht begehen. Nicht im Namen des Schöpfers; nicht im Namen der Ehre.
Vielleicht hattest du nach dem Auftrag einen klareren Kopf. Vielleicht würde dir ein rettender Einfall kommen. Vielleicht würdest du im Kampf gegen die Monster von Waldheim sterben. Dann würdest du wenigstens deine Ehre mit ins Grab nehmen.
Oder vielleicht hatte Lyn dir den Ausweg schon gezeigt? Die Grauen Wächter... Ihr Orden war offenbar genauso streng wie der Templarorden, doch Finsterbrut töten klang besser als Kinder verschleppen, Novizen die Kehle durchschneiden, oder von der Verzweiflung in die Flucht getriebene Magier zu jagen. Es wäre auch ehrenvoll. Doch wo konnte man die Grauen Wächter finden, um bei ihnen anzuheuern?
Auf der Türschwelle blicktest du noch einmal zurück. Cullen wäre der einzige, den du vermissen würdest.
Soweit dein Auftrag. Durchgesehen und korrigiert. Edit: Habe noch ein paar Tempusfehler in dem langen Gedankenabschnitt korrigiert.