Auf der Reise hatte Simue sich bemüht, sich mit allen Gefährten zu unterhalten. Es fiel ihr immer noch schwer, aber sie hatte verstanden, dass sie sich anderen öffnen musste. Noch immer löste jeder verärgerte Blick, jede heftige Bewegung und sogar jeder Moment der Stille eine heftige Angst in ihr aus, aber sie lernte allmählich, diese Gefühle hinzunehmen und sie nicht allzu deutlich zu zeigen.
Dennoch verbrachte sie die meiste Zeit mit Ishaia. Sie versuchte, aus ihm etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren, doch er war der Überzeugung, dass sie sich von alleine erinnern müsste. "Du hast diese Dinge vergessen, weil du sie nicht ertragen hast. Aber die Erinnerungen sind immer noch in dir. Wenn du bereit für sie bist, werden sie wiederkommen. Bis dahin... sie sind jedenfalls nicht verloren. Es ist wie ein Teil in dir, der sich im Verborgenen hält und die Erinnerungen behütet."
Dieser "Teil in ihr" war es wohl auch, der für die manchmal vorkommenden Erinnerungslücken in ihrer Zeit auf der Schmugglerinsel verantwortlich war. Ishaia berichtete ihr, dass sie ihn manchmal ganz bewusst gerufen hatte, und sich mit ihm unterhalten hatte, wissend, wer er war. Sie konnte es selbst kaum glauben, aber es passte zu den Erzählungen, die ihre Gefährten über sie berichtet hatten. Allerdings gab es da noch diesen anderen Teil... den, der sich dem Geisterkapitän und auch den Kannibalen entgegen gestellt hatte. Er war stark, aber er schien auch grausam oder zumindest etwas gefühllos zu sein. Selbst Ishaia wusste nicht, was es damit auf sich hatte. Das war ein Rätsel, das es noch zu lösen galt. Simue hoffte nur, dass sie nicht doch besessen war... und am Ende etwas Schlimmes geschah, das sie nicht unter Kontrolle hatte.
Aber obwohl das durchaus ausgereicht hätte, um sie die ganze Schiffsreise über zu beschäftigen, gab es noch ein anderes Thema, das sie umtrieb. Sie hatte immer daran geglaubt, dass Sargava ihr Ziel war. Nun hatte Ishaia ihr berichtet, dass sie dorthin nur wollte, um von ihrer Familie wegzukommen. Auf eine Akademie, mit der Erlaubnis ihres offenbar tyrannischen Vaters, und doch weit, weit weg von ihm. Das war ihre Hoffnung gewesen, als sie noch bei ihrer Familie gelebt hatte. Was auch immer das für eine Familie gewesen war...
Jetzt aber war sie von dort geflohen. Sargava hatte an Bedeutung verloren. Und damit hatte sie weder ein Ziel, noch ein Zuhause. Sie war frei, ja, aber auch verloren. Ohne ein früheres Leben, aber auch ohne eine Zukunft. Alles, was sie noch hatte, waren ihre Gefährten.
Doch auch von denen hatte sie die meisten verloren. Einige waren der Insel zum Opfer gefallen. Ischiro, der erste Mensch, dem sie nach ihrer Flucht wieder erstes Vertrauen geschenkt hatte, war auf der Insel geblieben. Ebenso wie Kwazeel, der ihr so sehr geholfen und bei dem sie Verständnis gefunden hatte. Sie vermisste ihn, sehr sogar. Und auch andere waren dort geblieben. Und Halas... sie fragte sich, was das für ein Weg war, den der alte Griesgram eingeschlagen hatte. So wenig sie ihn anfangs gemocht hatte, so sehr hatte er sich zuletzt zum Guten gewandelt. Sie wünschte ihm alles Gute... und irgendwie hoffte sie darauf, ihn vielleicht, eines Tages, wiederzusehen.
Dan, für den sie, aus Gründen, die sie selbst nicht erklären konnte, sehr viel Sympathie empfand (und auch eine seltsame Art von Sehnsucht, die sie nicht einordnen konnte), war mit an Bord gekommen. Und doch ahnte sie schon, dass er eine Entscheidung treffen würde. Sie hatte ihn beobachtet, hier auf dem Schiff. Das Meer war sein Zuhause, und dort würde er bleiben. Als sie schließlich in Eleder ankamen, überraschte es sie daher nicht, dass er bei dem Kapitän anheuerte. Bei ihrem Abschied umarmte sie ihn kurz - es war eine große Überwindung für sie, so viel Nähe zuzulassen, aber sie zwang sich dazu - und wünschte ihm alles Gute.
Gelik war verrückt wie eh und je - und vielleicht sogar noch ein bisschen verrückter -, dennoch wünschte sie auch ihm alles Gute. Besonders traurig über seinen Abschied war sie aber nicht: Sie war mit dem etwas egomanischen Gnom nie wirklich klar gekommen.
Tolkwys Ziel war klar: Er musste zu einem Heiler, und lernen, wie er mit nur einem Bein klarkommen würde. Von allen Überlebenden hatte die Insel ihn wohl am deutlichsten gezeichnet. Sie verstand Jask, dass er ihn begleiten und ihm zur Seite stehen wollte. Sie hatte sogar selbst ein wenig das Verlangen danach, aber Jask würde sich gut um den Krieger kümmern, und sie spürte, dass dies nicht ihr Weg war.
Bei ihrem Abschied sprach sie noch kurz unter vier Augen mit ihm. "Ich habe bisher nur Kwazeel davon erzählt... etwas in meiner Vergangenheit ist geschehen, das dazu geführt hat, dass ich mich nicht an meine Vergangenheit erinnere. Sie ist nicht ganz verloren, eher... irgendwo vergraben. Trotzdem fühlt es sich für mich an, als wäre mein früheres Leben von mir... nun ja, abgeschnitten." Sie lächelte unsicher. "Ich bin trotzdem immer noch ich selbst. Vielleicht sogar mehr, als ich es früher jemals war. Ich bin sicher, dass ihr einen Weg finden werdet, zu alter Stärke zurückzukehren. Vielleicht findet ihr sogar einen Weg, aus eurer Situation einen Vorteil zu schlagen. Viele werden euch unterschätzen. Wie auch immer euer Weg sein wird, für mich werdet ihr immer einer der größten Krieger sein, die ich kennenlernen durfte."
Sie hatte einen Kloß im Hals, als sie sprach - die Angst, diese verfluchte, immerwährende Angst -, aber sie hatte sich lange vorher genau überlegt, was sie sagen wollte, und so kamen ihr die Worte zumindest flüssig über die Lippen. Danach umarmte sie ihn noch einmal herzlich, und wandte sich dann an Jask. "Passt gut auf ihn auf. Und auf euch selbst auch. Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann wieder."
Dann wollte sie sich Kaspian zuwenden. Er war der einzige, der noch keine Pläne geäußert hatte. Der einzige, bei dem sie - obwohl sie sich irgendwie unwohl fühlte in seiner Nähe - darauf hoffte, noch etwas Zeit mit ihm verbringen zu können. Vielleicht sogar den weiteren Weg gemeinsam zu beschreiten. Denn sie hatte sich überlegt...
Er war weg.
Wieder einmal war er einfach verschwunden. Sie biss die Zähne aufeinander. Nein, sie würde sich jetzt nicht aufregen, und sie würde jetzt auch nicht weinen. Dennoch war ihr die Enttäuschung deutlich anzusehen.
Sie legte ihre Hand auf Xerxes' Kopf, und tätschelte ihn. Einen Moment später ertönte ein Quaken von unterhalb ihres Hemds. "Wenigstens seid ihr noch da. Und Ishaia, wenn ich ihn rufe."
Und doch fühlte sie sich allein, und verloren...
Sie sah den übrigen Gefährten nach, wie sie langsam den Hafen hinter sich ließen. Dann lag es wohl einzig und allein an ihr. Es kam ihr absurd vor, falsch. Sie war doch keine... sie war den anderen immer nur gefolgt, hatte sich bei allem, was zu tun war, darauf verlassen, dass die anderen die richtigen Entscheidungen treffen würden. Und jetzt sollte sie...
Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht hätte sie einfach aufgegeben. Aber es gab keinen Ort, an den sie gehen konnte, kein anderes Ziel, dass es zu verfolgen galt. Das einzige, woran sie sich im Moment noch festhalten konnte, waren die Ereignisse auf der Schmugglerinsel. Die Ereignisse und ihre... Folgen.
Denn Simue ahnte, dass das, was dort geschehen war, noch nicht vollends vorbei war. Sie hatte mit Zustimmung der anderen Yarzoth's Aufzeichnungen an sich genommen. Sie würde sie studieren, und versuchen, diese Stadt zu finden, von der die anderen gesprochen hatten. Saventh Yhi.
Wenn von dort noch einmal eine solche Gefahr drohte, wie es auf der Schmugglerinsel der Fall war, konnte sie nicht einfach die Augen verschließen. Sie würde den Weg fortsetzen, den sie auf der Schmugglerinsel begonnen hatten. Doch war sie dort kaum mehr als ein Anhängsel einer großen, schlagkräftigen Gruppe gewesen, war sie nun auf sich gestellt. Aber sie war auch stärker geworden. Es wäre übertrieben zu sagen, dass sie stark war, aber zumindest... etwas weniger schwach. Etwas weniger hilflos. Und sie hatte Ishaia. Und... sie würde noch stärker werden. Jedes Gespräch, jede Begegnung war für sie eine Gelegenheit, zu lernen, zu wachsen. Sie zitterte fast, bei dem Gedanken an die Herausforderungen, die vor ihr lagen. Aber sie würde nicht aufgeben.
Simue schluckte schwer. Dann, als schließlich auch Jask und Tolkwy aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren, wandte sie sich dem Kapitän zu. Nun hatte sie doch Tränen in den Augen.
Sie wischte sie fort, und lächelte ihrem Retter dann entgegen. Dass sie aufgewühlt war, war offensichtlich, aber sie würde zumindest nicht die ganze Tiefe ihrer Gefühle und deren Gründe offenbaren. Für ihn sah es vermutlich so aus, als würde der Abschied von den Gefährten sie so aufwühlen. Das war in Ordnung.
"Was habt ihr denn Gutes?" fragte sie ihn dann mit Blick auf sein Angebot.