An dieser Stelle setze der grauhaarige Mann den Stift ab, rieb sich die Augen und setzte seinen Zwicker wieder auf, jenen Zwicker, der zu seinem Markenzeichen geworden war und der für ihn und für andere seine eigene Bildung, seinen historischen Forschungsdrang und seine politischen Leitlinien symbolisierte. Jenen Zwicker, den er in all den Wirren der Zeit getragen hatte, durch die er Leid und Freude, Sieg und Niederlage gesehen hatte, und durch die er sie zu beschreiben gedachte. Er blickte auf die knittrigen Schmierzettel vor sich, die Gedächtniskrücken waren und die wahren Geschehnisse beinhalteten, die kalten und nackten Fakten. Talleyrand
[1], sein Förderer, hatte ihm zwei Dinge gelehrt. Dass Geschichten immer besser im Menschen wirkten als Fakten, und dass Verrat nur eine Frage der Zeit sei. Der Gedanke an den zweiten Satz ließ den grauhaarigen Mann zu dem Geschriebenen greifen und es erweckte Unmut in ihm. Am liebsten hätte er es zerrissen und in den kleinen, gegossenen Werkstattofen geworfen, der ihm an diesen regnerischen Tagen den Pelz wärmte.
Aber er tat es nicht, da er wusste, dass er beobachtet wurde.
"Wieso schreibst du an dieser Geschichte? Solltest du nicht deine Korrespondenzen für Monsieur Lévys[2] Occupation et libération du territoire, 1871–1873 fertigstellen?" Wie immer wirkte die Stimme der Vernunft im Hintergrund, und sie hatte wie so häufig einen weiblichen, oder wenn er wütend war, weibischen Klang. Seine Frau war jedoch eine treue Seele, und sie hatte recht, an diesem Tag wirkte ihre Stimme weiblich. Er nahm den Zwicker kurz ab, um sich die Hand müde durch das Gesicht zu führen.
"Adolphe, kräme dich nicht, diese Geschichte heute nicht zuende zu schreiben.", sagte die sanfte Stimme, deren Gestalt er nicht wahrnahm, weil sie am Türrahmen stand und Adolphe sich zu müde fühlte, sich überhaupt umzudrehen.
"Ich weiß, der Stachel sitzt tief. Ich weiß, du willst verstehen, warum deine Feinde dazu kamen, so eine Sicht auf dich entwickelt zu haben, und dass du ihre Lebenslinien verschwimmen und in spannende Prosa setzen willst. Aber du bist ein Mann der Fakten und deine Partei braucht dich. Sie warten auf dich seit Patrice[3] gescheitert ist." Adolphe seufzte laut genug, dass seine Ehegattin das hören konnte, als wäre er dieser Diskussion müde. Diese setzte jedoch ungerührt fort.
"Was willst du ihnen beweisen? Den Arbeitern? Den Adligen? Den Liberalen? Den Sozialisten? Den Monarchisten? Du brauchst nichts beweisen. Kein anderer Mann Frankreichs kann von sich sagen, als Sohn eines Schlossers angefangen zu haben und alle Geschichte Frankreichs seit den großen Revolutionen über die kleinen Revolutionen erlebt zu haben, fast alles davon mitgeprägt zu haben, als Historiker und als Mensch in der Zeit. Du bist es schon, und eines Tages wird man deinen Rang in der Geschichte als Ikone des 19. Jahrhunderts anerkennen, als jemand, der die großen Ideen der großen Revolution endlich umsetzte und Frankreich endgültig in die Republik führte! Aber dieses Mannes wird man sich wegen seiner Taten und seiner historischen Werke erinnern, und nicht aufgrund pseudo-realer Geschichtchen in der Zeit der Pariser Kommune, in der mein Mann versucht auf spielerische Weise mit seinen Feinden abzurechnen...Komm, Adolphe. Deine Freunde warten unten. Sie wollen reden. Noch ein Wahlkampf, Adolphe. Zeig Frankreich noch einmal, dass du seine prägende Figur bist!"Adolphe seufzte abermals, und setzte dann seinen Zwicker auf. Er war irgendwie müde. Müder als sonst und irgendwas in seinen Knochen sagte ihm, dass wenn er jetzt nicht die Geschichte um Carl von Lütjenburg, Alfred Nobel, Paul Zeidler und Sébastien Moreau fortsetzte, dass er sie möglicherweise nie wieder anrühren würde, weil das Leben anderes plante. Er war immerhin 80 Jahre alt. Wie lange würde ihm sein Körper nach lassen. War es da nicht besser, doch den Worten seiner Frau zu folgen? Ja, Patrice war gescheitert. Auf den Straßen riefen sie seinen Namen. Jeder erinnerte sich seiner Opfer. Jeder erinnerte sich der vielen Toten in Paris im Jahre 1871. Jeder wusste, dass er es nicht gern getan hatte. Und doch...
Seine Hand griff zum Stift. Er musste es sich von der Seele schreiben, wie viele Menschen aufgrund seiner Entscheidungen drangsaliert, brutal getötet und gequält worden sind, und alles im Namen der Republik.
Der Stift tauchte in das Tintenfässchen, er löschte die übermäßige Tinte, zog die Stirn in Gedanken kraus und überlegte die erste Formulierung. Doch gerade als der Tintenstift auf das Papier traf und den ersten königsblauen Klecks hinterließ, fuhr er zusammen und stieß das Tintenfass um, als die alte, faltige Hand seiner Frau ihn am Arme berührte und sie sich beide ihres Alters bewusst wurden.
"Adolphe...", sagte sie, ihn gleichsam erinnernd und ermahnend. Adolphe Thiers beobachtete, wie die Tinte auf dem Stück Papier entlanglief und ein Teil seines Geschriebenen verdeckte und ertränkte.
Man würde sich alles an ihn erinnern, aber njcht dafür, dass er diese Geschichte zuende schrieb. Enttäuscht und sich in sein Schicksal fügend stand Adolphe auf. Wehmütig blickte er auf den königsblauen Tintensee zurück, während seine Frau ihn zu seinen Gästen führte. Jene Politiker, die sich erhofften, dass in diesem schicksalshaften Jahr Adolphe Thiers noch einmal die Kohlen für sie aus dem Feuer holte. Da konnte noch niemand ahnen, dass Adolphe Thiers nicht einmal mehr das Ende des Wahlkampfes erreichen würde.
Und so blieb die Geschichte der Pariser Kommune, um Alfred, Carl, Paul und Sébastien unvollendet, weil andere Pflichten riefen...