Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 05:03 Uhr - Place Blanche (Montmartre)
Der weiße Platz
[1] war inzwischen ruhig, doch seinen Namen hatte er schon längst nicht mehr verdient. Seit einigen Jahren war der Gipsabbau der wichtigste Zweig des Arbeiterviertels Montmartre
[2] gewesen. Der Grund lag darin, dass die Mieten für Pariser Wohnungen seit geraumer Zeit immer teurer wurden und die Bevölkerung in den Arbeitervierteln wie Montmarte und dem erst vor einigen Jahren eingemeindeten Belleville
[3] dadurch ständig stiegen. Es wäre aber falsch gedacht, dass es nur die Armen und Bildungsschwachen in diese Viertel getrieben hätte. Der Montmartre war gleichzeitig die höchste Erhebung der Stadt Paris und das machte diesen Hügel ideal für die Befestigung. Die Nationalgarde wachte hier in diesem Viertel und auch an sich auf dem weißen Platz, der wegen des Gipsabbaus eben jenen Namen trug. Jetzt, da der morgendliche Nebel über den dunklen, nur von flackernden Laternen beleuchteten waberte, und die dort noch Liegenden oder Verletzten immer wieder verschluckte und doch wieder freigab, hätte man ihn auch roter Platz nennen können.
Männer des Projektes Exodus waren an diesem feuchten Morgen, an dem die Temperaturen für einen März jedoch schon recht angenehm waren, schon auf der Place Blanche unterwegs. Hätte an einem gewöhnlichen Tag die Armenfürsorge die Mitglieder in Anspruch genommen, war es heute die medizinische Versorgung. Vier Männer hatten sich in der Dunkelheit, noch etwa eine Stunde vom Sonnenaufgang entfernt, eingefunden, unter ihnen auch der geistige Führer dieser kleinen, in Paris als Sekte bezeichneten Gruppe, Paul Zeidler. Und das alleine hätte ein Zeichen sein können, dass sich etwas verändert haben musste, warum der weiße Platz jetzt ein roter Platz war. Die Regierungstruppen, meist alarmiert durch besorgte Zeitungsleser oder konkurrierenden Interessensgruppen, duldeten den Aufenthalt des Projekt Exodus nur an guten Tagen auf dem Place Blanche für längere Zeit. An diesem Morgen war dies anders. Es gab hier keine Regierungstruppen, welche hätten die Mitglieder des Projektes vom Platz treiben können. Und wenn Männer in Armeeuniform auf dem Platz waren, lagen sie schwer verwundet oder tot nieder, wie die Generale Claude-Martin Lecomte
[4] oder Jacques Léon Clément-Thomas
[5], welche beide im Laufe des letzten Tages füsiliert wurden. So erging es auch dem ein oder anderen Soldaten auf dem weißen Platz, aber auch eine Vielzahl anderer Verletzungen gab es. Quetschungen, Prellungen, gebrochene Glieder. Verletzungen, wie sie für die Massenaufläufe von Menschen nicht ungewöhnlich waren, wenn die Menge außer Kontrolle zu geraten drohte oder panisch wurde, oder wenn der Mordgeifer an den Lefzen sich in der Masse erstarkender Menschen hinablief.
Auch Sébastien Moreau war an diesem Morgen noch auf dem Platz. Er und François Durand saßen an einer der unzähligen, hellen Hauswände am Rande des Platzes, direkt am Boulevard de Clichy
[6], welche tief in das Herz Montmartres hineinführte. Sie saßen dort jetzt still zusammen, der Weinbrand wärmte sie zumindest gefühlt und half gegen die feuchte Kälte des Morgens. François hatte sich inzwischen beruhigt und saß dort schweigend, seinen rechten Arm, der schlaff am Körper hing festhaltend. Seine Nase war von dem Gewehrkolben eines Füsiliers
[7] gebrochen wurden und stand zu weit nach rechts. Blut tropfte aber nur noch selten heraus. An seiner rechten Augenbraue hatte er eine Platzwunde von einem heftigen linken Haken und sein linkes Auge war noch immer zugeschwollen. Seine zerrissenes Hemd und die vielen Kratzspuren auf seinem sichtbaren Oberkörper zeugten von einem harten Kampf, der mit allen Bandagen ausgefochten wurde. Auch Sébastien hatte sich letzte Nacht bewähren müssen
[8].
Eigentlich war es unglaublich gewesen, wie schnell alles ging. Sébastien erinnerte sich, dass sie noch im Krieg, als die Deutschen bei der Belagerung von Paris eine Befestigung nach der nächsten schleiften, in einem Coup 227 Kanonen retten und in den Besitz der Nationalgarden bringen konnten. Die Preußen ließen den Nationalgarden
[9] ihre Waffen, während sie die reguläre Armee entwaffneten. Die Nationalgarden, will sagen Milizen, waren deshalb in einer besonderen Position. Sie waren eine bedeutende, bewaffnete Macht geworden und die Bestrebungen in Paris, andere Wege einzuschlagen waren konkreter geworden. Im Februar hatte sich das Zentralkomitee der Nationalgarden gebildet und obwohl sich politisch noch uneins, fürchtete die neue Regierung die Vorgänge innerhalb des Zentralkomitees. Gestern waren Regierungstruppen nach Montmartre marschiert und versuchten die Kanonen zu requirieren. Als das Volk sich jedoch erhob, passierte das Unerwartete. Die anwesenden Generale oder einen von ihnen, soll den Befehl gegeben haben, auf die aufgebrachte Menge zu schießen, um sie auseinanderzutreiben. Doch die Soldaten verweigerten die Befehlsausführung und fraternisierten mit der aufgebrachten Bevölkerung von Paris. Die beiden Generale wurden festgesetzt und noch in Montmartre füsiliert. Ein chaotischer Tag brach an, denn das Erschießen der Generale brachte keine Abkühlung, sondern die Wut auf die Regierung um Alphonse Thiers
[10] war ungebrochen. Barrikaden wurden errichtet und die Nationalgarden beschlossen den Spuk durch der Regierung in Paris ein Ende zu machen. Von Montmartre und Belleville aus zogen die Nationalgarden - und zwar jene, welche vor allem in den Arbeitervierteln lebten und mit sozialistischen Strömungen verbunden waren - in das Stadtzentrum. Die anderen Nationalgarden - das heißt jene konservativen oder bürgerlichen - hielten still und es schien ein blutiger Tag zu werden, doch Thiers gab den Befehl zur Evakuierung und brachte alle Offiziellen, die sich retten konnten und die Regierung nach Versailles. Und dort warteten sie nun, während auch Sébastien und François eigentlich darauf warteten, dass die Nationalgarden jetzt auch nach Versailles aufbrachen. Aber der Tag war worüber, François verwundet und die erste Kraft der Nationalgarden schien aufgebraucht. Auch kein Polizist wagte es, auf dem Place Blanche aufzutauchen. François lächelte zufrieden mit seinem so jungenhaften und doch jetzt zerschlagenen Gesicht, als sei er ein Lausbub, der gerade etwas Streichhaftes getan hatte und zufrieden mit seinem Werk war. Aber er schwieg weiter. Eigentlich wusste keiner so recht, was jetzt passieren würde. Die Regierung war geflohen, wahrscheinlich bedeutete dies, das dem Zentralkomitee der Nationalgarden jetzt eine besondere Rolle zukam. Wie diese aussah war schwer zu sagen. Das würde der morgige Tag zeigen, doch erstmal musste Sébastien jemanden finden, der François wieder zusammenflickte. Dessen Schulter war mindestens ausgekugelt, weshalb der Arm herabhing. Seine Nase brauchte auch eine Versorgung und auch wenn François vor sich hingrinste und schwieg, war nicht auszuschließen, dass die harten Schläge eines sich wehrenden Soldaten mit dem Gewehrkolben nicht doch innere Verletzungen zurückgelassen hatten. Wenn François Speichel ausspuckte, glaubte Sébastien auch in dieser nur von flackernden Laternen beleuchteten Straße Blut im Speichel seines besten Freundes zu sehen.
Vielleicht waren noch fünfzig Männer und Frauen auf den Straßen unterwegs. Sogar die Frauen hatten sich sehr offensiv an den Barrikaden des Tages beteiligt und noch immer bewachten vier oder fünf die Barrikade am Boulevard de Clichy. Viele Bürger von Paris ließen sich aber selbst von diesem Abend nicht beeindrucken und besuchten, als wäre nichts ungewöhnliches passiert, die vielen Tanzlokale, Kabaretts und Trinkstuben, welche in Montmartre und am Place Blanche auch an einem frühen Sonntag noch die Türen offen hatten. Die Stimmung war trotz mancher Verletzter gut, viele junge Männer waren noch immer voller Adrenalin und Energie und versuchten sie jetzt in Wein zu ertrinken oder sich an willigen Damen zu erschöpfen. Die Musik, meist Chansons
[11], die von vielen Leuten gesungen wurden, drang nur gedämpft über den Platz, der sonst im Nebel der Ungewissheit versank.
Paul Zeidler erreichte zwei junge Männer, die an einer Hauswand saßen und miteinander einträchtig schwiegen, obwohl sie beide geschwollene Gesichter haben mochten. Einer von ihnen, er sah etwas jünger aus und trug keinen Bart, hatte sich scheinbar eine Schulter ausgekugelt und sah aus, als sei er ziemlich traktiert wurden. Er würde Hilfe brauchen, würde er keine bleibenden Schäden davontragen wollen. Es war ein merkwürdiger Morgen in Paris, ein Morgen, an dem manche feierten, als wäre es nie anders gewesen, manche feierten, als gäbe es keinen Morgen und dann gab es noch jene, welche trotz ihrer Verwundungen einfach ignoriert wurden, obwohl sie diese Art der ausgelassenen Feier erst ermöglicht hatten. Von irgendwo drang der Ruf
"Vive la révolution!" an die Ohren von Paul, Sébastien und François. Wie immer war er alsbald von den Leitbildern einer jeden Revolution in den letzten 80 Jahren begleitet.
"Liberté, Égalité et Fraternité!" Es waren Ideale und Worte, mehr noch nicht, auch wenn der letzte Tag wohl recht nahe dran war...