Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:14 Uhr - Place Blanche (Montmartre)
Das eilige Gedränge wurde unübersichtlicher, je mehr Sekunden nicht nur rasend, sondern auch in Raserei vergingen. Sébastien spürte ein Gedränge, ein Geschubse, irgendwo im Rücken streifte ihn, schmerzlos, ein Ellenbogen, der sich seinen Weg in das Gesicht eines Widersachers bahnte. Ellbogenschläge waren, so sie gemeistert wurden, ein hervorragendes Mittel, um mit wenig Aufwand Blutungen und Narben im Gesicht des Widersachers zu hinterlassen. Ein solcher Schlag, wenn nicht gerade mit der Spitze des Ellenbogens ausgeführt, war häufig mehr auf moralischen Effekt denn auch den entscheidenden Schlag ausgelegt, wenngleich er auch als solcher geführt werden konnte.
Die Schlachtlinien, wenn man zu diesen Übertreibungen neigte, waren nicht mehr so klar zu erkennen. Sébastien wähnte Verbündete neben sich, aber nun auch vor sich, während Feinde sich dazwischen drängten, nicht anders als hätte man ein Gefäß, in dem Öl und Wasser übereinander lagen, für einen Moment heftig geschüttelt, sodass es merkwürdig durcheinander und doch nicht zusammengehörig aussah. Einer der jungen Männer, der dem Mann mit dem Tischbein zu Diensten war, drängte - oder wurde gedrängt von der sich keilenden Masse - sich langsam in Sébastiens Rücken.
Der junge Mann mit dem Tischbein sah den Schlag Sébastiens auf sich zukommen. Es war einer dieser unheilvollen Momente, wenn man sich völlig bewusst darüber war, was dort auf ein eindrang, einprasselte, was einen verletzen würde. Seinem Gesicht war die Hilflosigkeit darüber anzusehen, der kleine Schrecken, der verriet, dass seine Fäuste nicht annähernd so viel Erfahrung hatten wie die des jungen Moreau. Er ahnte, dass der Schlag kommen würde und das er mit einer Kraft kommen würde, der er wenig entgegenzusetzen hatte. Er war erfahren genug, um zu sehen, wie das Bein Sébastiens kurz mit dem vollen Gewicht belastet wurde, wie die Hüfte wirbelte und dabei leicht einknickte, um allen Schwung und alles Belastungsgewicht in die Faust zu legen, wie die Schulter sich erst leicht zurückbewegte, um noch mehr Impuls zu generieren. Simultan handelte der junge Mann mit dem Tischbein, zog einen beliebigen, älteren Mann einfach aus dem Schubsen mit einem jüngeren Blanquisten, wollte ihn vor sich in Stellung bringen
[1]. Der ältere Mann wehrte sich, und gab doch wenige Zentimeter nach, erschrocken von der plötzlichen Richtungsänderung, gerade genug um in den Schlag von Sébastien geschoben werden zu können. Doch die Faust war schon unterwegs, Sébastien spürte, wie jetzt seinerseits sein Ellenbogen den Rücken eines anderen, des älteren Liberalen, streifte, wohl nicht schmerzlos. Der Schlag wurde abgelenkt, der Mann fiel von oben auf den ausschlagenden Ellenbogen des jungen Kommunisten, also wurde er nach unten abgelenkt. Das Gesicht des Mannes mit dem Tischbein lag damit außer Reichweite, er riss dennoch halbherzig den rechten Arm hoch, um sein Kinn zu schützen. Ein Fehler, dessen Kommunisten Schlag war unausweichlich. Sébastien traf den Körper auf der ungedeckten, rechten Seite knapp unter dem Rippenbogen. Ein schmerzhafter Leberhaken, der den jungen Mann mit dem geraden Rücken einen lauten Schmerzenslaut ausschreien, ihn wild zusammenzucken und ihn kauern ließ. Dieser spuckte wütend aus, während er sich nur unter großen Schmerzen wieder aufrichtete
[2].
Sébastien sah jetzt, wie der Hüne beinahe alleine in der Menge stand. Seine Gefährten hatte ihm gewaltsam Platz gemacht. Während Sébastien in Verteidigungshaltung gehen wollte oder gar den nächsten Schlag ansetzte, spürte er, wie ein Körper gegen den seinen prallte. Er kam etwas aus dem Gleichgewicht, stolperte einen Schritt nach rechts. Der ältere Herr, den Sébastien mit seinem Ellenbogen gestreift hatte, versuchte einfach nach einem jungen Widersacher vor sich zu schlagen, wurde auch geschubst. Wieder wurde Sébastien unvorbereitet getroffen. Diesmal drohte er sein Gleichgewicht ganz zu verlieren. Er spürte, wie seine Füße auf dem nassen Kopfsteinpflaster nachgaben und wegzurutschen drohten. Aus dem Augenwinkel konnte Sébastien immerhin sehen, wie einer der jungen Aufwiegler zu Boden ging. François traf ihn genau am Kinn, als der junge Aufwiegler selbst durch die heftigen Bewegungen der um sich schlagenden Masse aus dem Gleichgewicht kam. Ein Fehler, den der junge Mann mit der Besinnungslosigkeit bezahlte. Innerhalb der Masse ging er zu Boden. Ein anderer trat gleich versehentlich auf den Bewusstlosen und geriet ins Stolpern, genau in Sébastiens Richtung, und just in diesem Moment, sah Sébastien mit Schrecken, dass ein Tischbein mit brutaler Gewalt nach ihm geschlagen wurde
[3].
Carl von Lütjenburg sah die schnelle, rabiate Natur einer großen Schlägerei. Bereits nach wenigen Sekunden, es mochten vielleicht nicht mehr als zwanzig Sekunden vergangen sein, sah er die ersten Schwellungen in den Gesichtern einiger Beteiligter, blutende Nasen, und einen, der bereits bewusstlos geworden war. Er sah, wie zwei gedrungene Männer einen der jungen Offiziere aus der keilenden Mitte zogen, damit er nicht in diesem Furor zu Tode getrampelt wurde. Achtlos wurde er an den Rand geschleift, im Rinnstein liegen gelassen, während er aus dem Mund blutete. Die zwei Männer gingen zurück an ihr blutiges, wütendes Werk. Der junge Mann lag jetzt da, wie Paul noch halb in den Armen des preußischen Offiziers lag. Bewusstlos, wohl aber übler zugerichtet als der ältere Herr, doch keine zehn Meter von Carl entfernt.
In der Ferne erkannte jedoch Carl noch etwas anderes. Zwei, drei Männer verließen den Platz in nördliche Richtung, laut rufend, was sich dort auf dem Place Blanche zutrug. Es schein Carl, dass sie nun aufbrachen, um ein paar Nationalgardisten zu informieren über die blutige Schlägerei, welche den weißen Platz wieder in einen roten zu tauchen drohte...