Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:16 Uhr - Place Blanche (Montmartre)
"Ich werde deinen Kopf bekommen!", brüllte der Mann mit der fisteligen Stimme, als sich Sébastien seinem Zugriff entwand und mit der sich rasch auflösenden Menge verschwand. Zu viele Schutzschilde, zu viele Menschen, mal Freund, mal Feind, die zwischen Sébastien und dem Tischbein auftauchten und so ein Niederkeulen unmöglich machten. Wütend schmetterte er das fein gedrechselte Tischbein auf das Straßenpflaster, welches auf den zugeschlagenen und festgetretenen Stein ächzend zerbrach. Er ließ die Bruchstücke fallen und blickte zu den Gardisten, die ihn nicht weiter beachteten. Eine kleine Gruppe tollkühner Blanquisten fanden nicht so schnell das Ende des Streites und rissen an ein paar Männern, die sich vereinzelt wehrten oder gerade die Hände erheben wollten, um den Streit aufzugeben unter dem Druck von Bayonetten, Prügeln und geladenen Gewehren. Sechs streitende Männer waren es noch. Während Sébastien und sein bester Freund sich mit der sich auflösenden Menge vom Ort der Schlägerei davonmachten, hörten sie die Rufe des autoritären Mannes. Er wiederholte seine vorher gebrauchten Worte der Warnung und des Einhalts, doch die drei jungen Blanquisten - Sébastien hatte ihre jungen Gesichter noch nicht gesehen. Sie hätten genauso gut tollende Jugendliche sein, die sich lediglich die Hörner abstoßen wollten - hörten nicht darauf. Einer von ihnen, ein Junge mit weiblichen, sanften Zügen und lockigen, von Schweiß verklebten dunklenblonden Haaren, machte dann den entscheidenen Fehler. Sébastien sah, wie er nach dem Prügel eines Gardisten griff. Überrascht von dem schnellen Zugriff ließ der Gardist, ein kleiner, verwirrt dreinblickender, dunkelhaariger Mann mit schiefer Mütze, den Prügel los. Wütend, von seinem Adrenalin getragen, führte den Junge mit einem seitwärts geschwungenen Schlag wider den Gardisten. Ein Schrei. Der Gardist sackte wie vom Blitz getroffen zusammen, der Schlegel hatte ihm eine klaffende Wunde am Auge beschert. Ein Knall, ein Schallschlag, ein Schuss. Ein faustgroßes Loch klaffte an jener Stelle, an der Sébastien eben noch smaragdgrüne Auge gesehen hatte. Leblos sackte der Junge zusammen. Schreie aus Angst, aus Wut, aus Hilflosigkeit erklangen aus vierlei Kehlen. Eine Frau hielt sich verkrampft an ihrem Gewehr fest, leichter Rauch stieg aus dem Lauf auf. Sie zitterte wie wild, sie hatte die Nerven verloren. Sébastien erkannte nicht viel von ihr, außer dass sie recht kräftig war und ein fülliges Gesicht hatte. François riss seinen Freund an der Schulter und zog ihn in die engen Straßenschluchten Montmatres.
"Wir müssen weg!", sprach er jenes aus, was den beiden so oder so bewusst war. Ein windschiefes Haus mit roten Ziegeln und geplatzten, weißen Putz unterbrach ihren Blick auf das Chaos des weißen Platzes. Ein zweiter Schuss ertönte. Sie hörten weiter die Schreie, sie waren kaum zuzuordnen. Auch den Hünen mit dem Tischbein hatten sie aus den Augen verloren.
"Lass uns trennen und in zwei Stunden im Haus treffen." Das Haus meinte eine Wohnung, in der man die Blanquisten vielleicht nicht erwartete. Sie lag in der Rue des Saules, dieser berühmten Straße, in der die Bohème ihrem Lebensstil fröhnte. Diese Straße, die von Paul Cézanne
[1], verewigt wurde. Hier lag das kleine Atelier eines kleinen, lokalen und wenig erfolgreichen Bildhauers. Achille Petit war ein einfacher Mann, der nicht den Willen besaß, die Stadt, geschweige denn das Land verändern zu wollen. Aber er sympathisierte mit den Blanquisten und immer wieder stellte er seine Werkstatt und das kleine zum Hinterhof hinausgehende Lager für die konspirativen Sitzungen oder für den einen oder anderen Umtrunk zur Verfügung. Da ein Guinguette
[2] direkt neben dem kleinen Atelier lag, fielen die Blanquisten im Tagbetrieb auch nicht weiter auf. Und diesen Ort wollte François nun aufsuchen. Sébastien erinnerte sich, dass sie bereits den einen oder anderen Plan zwischen den furchterregenden, fratzenhaftigen Plastiken des armen Bildhauers geschmiedet hatten.
"Und ruh dich aus. Du siehst ein bisschen mitgenommen aus.", sagte François mit einem Schmunzeln und deutete dabei auf seine Nase und lachte dann. Er umarmte Sébastien zum Abschied und verschwand weiter zwischen die engen Gassen. Irgendwo hinter sich hörte er die Gardisten und verschwand auch in der Stadt.
Donnerstag, 23. März 1871 - Vormittag - 10:30 Uhr - Rue des Saules (Montmartre)
Es waren Fratzen, furcherregende Fratzen, die in der Werkstatt standen. Es roch nach steinigem Staub, aber auch nach Metall und Rost. Es war unangenehm warm im Atelier. Hinter halbfertigen Büsten brannte ein kleines Kohlenfeuer auf einem schweren Metalltisch und wurde von einem kleinen Blasebalg angefeuert. Ein Mann mit grau mellierten, langem Haar hatte ein russchwarzes Gesicht, fettige Flecke von den schweren, verrusten Lederhandschuhen, welche eine Zange hielten. Er erhitzte ein Stück Metall und formte es mit immer wieder mit Zwingen. Seine Augen waren von einer primitiven Brille geschützte, der Handschuh war alt. Es roch furchtbar nach rusigem Eisen. Es war Achille, ein schmaler, drahtiger Mann mit eingesackten Schultern und fliehendem Kinn, der zumindest physisch nicht an seinen berühtem Namensvettern
[3] erinnerte. Soweit Sébastien wusste, war er auch psychisch kein Achill. Seine Pläne zur Veränderung der Welt waren im Jugendalter auf der Strecke geblieben. Er war nun im mittleren Alter. Es wusste keiner der Blanquisten so genau. Achille sprach nicht viel über sich. Er war alt genug, um an der Februarrevolution 1848
[4] teilgenommen zu haben und das hatte er auch. Aber er sprach auch darüber wenig. Reste seiner Verbundenheit waren noch vorhanden, das Atelier war Zeuge dessen.
Sébastien umrundete die Büsten reicher Bürger, die sich hatten abbilden lassen und jene verzerrten Ebenbilder lokaler und berühmter Politiker. Sie waren nicht sehr realistisch dargestellt. Ihre Gesichtszüge waren verzogen und überzeichnet. Sie erinnerte an eine Symbiose aus menschlichen Antlitz und tierischer Fratze. Manche betrachteten es als Kunst, viele ließen ihre Büsten in seinem Atelier oder seiner Galerie stehen, weil sie sich anderes vorstellten und dann nicht bezahlten. Achille war in dem Ruf, dass er die Gesichter umso mehr entmenschlichte, umso unfreundlicher und unmenschlicher er einen Menschen wahrnahm. Seiner Meinung nach hatte nur ein Mensch
[5] das Recht, ein realistisches Ebenbild seiner selbst zu sehen. Er behauptete, dass er keinen solchen Menschen getroffen hätte, andere behaupteten, dass er dies als Ausrede benutzte, weil er nicht in der Fähigkeit stand, seine Büsten mit Realismus zu segnen. Der Feuilleton stritt nur kurz über seine Kunstfertigkeit oder vielmehr Kunstunfertigkeit, dann war Achille Petit wieder vergessen. Er war für die Pariser Kunstszene nicht exzentrisch genug, sein Werk nicht provozierend genug. Einen Paul Cézanne verspottete man jedenfalls noch unter Zeitgenossen, doch einen Achille Petit? Die Geschäfte liefen schlecht und man sah es dem Atelier an. Es war schmutzig und verfiel. Der Putz verabschiedete sich, im Galerieraum roch es feucht und unter dem Schaufenster setzte der berühmte Gießkannenschimmel
[6] an. Es fühlt sich entweder klamm oder zu heiß an. François hatte bereits gemutmaßt, dass Achille schon eine Weile die Miete nicht mehr zahlen konnte. Wahrscheinlich würde es ihr letztes Treffen im Atelier werden.
François wartete am Ende des Lagers und stand in der offenen Holztür, eine Zigarette im Mundwinkel und die Taschenuhr in der Hand. Er blickte sich lächelnd um, als Sébastien sich durch die lagernden Werke kämpfte und mehr als einmal gegen am Boden liegende Metallreste stieß. Sein bester Freund war nicht alleine. Auf der anderen Seite der Tür stand ein Pfaffe, wenn Sébastien es richtig sah. Er hatte die Arme in seinen Ärmel verborgen, als hätte er eine Kutte an, auch wenn er ein einfaches, schwarzes Sakko trug. Er trug eine schwarze Manchesterhose
[7] mit den berühmten Längsrippen. Sie war abgewetzt, aber Sébastien wusste, dass es ein Pfaffe war. Nicodème Bouthillier, wenn Sébastien sich recht erinnerte, war ein Pfarrer einer der nahegelegenen Kirche und ein Freund der Sozialisten. Wahrscheinlich sollte er einen Zugang zu Darboy ermöglichen oder zumindest mit Expertise über innere Angelegenheiten glänzen. François lächelte und schlug Sébastien auf die Schulter.
"Darf ich vorstellen? Sébastien - Nicodème, Nicodéme - Sébastien. Ich habe mir erlaubt, unsere Unterredung etwas vorzuziehen. Falls das jemand auf dem Platz in den falschen Hals bekommen hat und irgendeinen Gardisten anzusetzen wagt, nicht wahr?", François lächelte so, als hätte er dem Gesetz ein Schnippchen geschlagen, auch wenn die Nationalgardisten ihnen näherstanden als sie den Republikanern wohlgesinnt waren. Der Pfarrer in seiner Zivilkleidung wirkte beinahe leger, seine tiefbraunen Augen musterten Sébastien Moreau aufmerksam, aber nicht unfreudlich. Sie waren von ausgeprägten Krähenfüßen eingerahmt, wie auch sein Mundwinkel von tiefen Falten eingerahmt waren. Ein Gesicht, welches das Lachen gewohnt war. Er passte gar nicht in diese so ernste, tierische Galerie. Er war groß gewachsen und von hagerer Gestalt mit einem sympathischen Aussehen. Seine krumme Nase und sein unregelmäßiges Kinn bestimmten ein nicht schönes, aber eben offenes und markantes Gesicht. Er nahm seine etwas kleine Baskenmütze ab und nahm sie vor die Brust und deutete eine Verbeugung an.
"Sehr erfreut.", setzte er hinterher. Die sonore Stimme eines Mannes, der Worte gewohnt war.
"Wir müssen noch auf die Familie Lavalle warten.", erinnerte François und blickte kritisch auf seine Taschenuhr und blickte nach draußen.
"Allerdings habe ich sie kurzfristig informiert, sie dürften sich also ein paar Minuten Zeit lassen."Ein Moment der Stille folgte und der Pfarrer setzte die Baskenmütze wieder auf. Sein glattrasierte Gesicht lag in seiner rechten Hand. Er rieb sich die Wangen und dachte nach. Er blickte über seine Schulter. Etwas wie Nervosität lag in seinem Blicke.
"Meine Herren, dann erlauben Sie mir, die Zeit so zu füllen, dass ich Sie ausdrücklich warnen möchte. Die Familie Lavalle, wie Sie sie nennen, sind vielleicht nicht die beste Gesellschaft. Monsieur Durand, ich weiß, dass Sie dieses Themas überdrüssig sind und nicht mehr darüber verhandeln wollten. Erlauben Sie mir, dass ich vor Ihrem besten Freund nochmal an Ihre Vernunft appelliere." Schuldbewusst blickte er zu Sébastien, weil er diesen in den Disput mit einbezog. François schnaufte verächtlich wie ein Kind, dass man zum zehnten Male belehren wollte, dass man nicht mit dem Feuerzeug spielte. Aber er intervenierte nicht.
"Die Lavalles stehen im Unstern der Infamie und der Käuflichkeit, Monsieur. Ich habe einige Befürchtungen Ihres Planes bezüglich, denn der Fisch stinkt immer vom Kopfe her und wenn sie denn Herrn Darboy als Austausch für ihren Herrn Blanqui planen und zum Kopf ihrer Pläne die Lavalles machen... Die Lavalles haben ein Renommee für Gewalt, wissen Sie, Monsieur Durand. Nicht jene Form der Gewalt, die wir unter befreiende oder notwendige, oder zumindest gerechte Gewalt verstehen. Ich rede von ungerechtfertigten Übergriffen und Gewaltausbrüchen, von Zeter und Mordio. Ich wünschte, ich könnte Ihnen Beweise für meine Worte anvertrauen. Aber ich habe Sie nicht bei mir. Ich habe sie nicht, aber ich weiß es. Und wenn Sie zwar den Darboy nehmen wollen - denken Sie an unsere Abmachung, dass ihm dann nicht passieren soll - dann muss ich darauf bestehen, dass Sie mir helfen, dass keinem Klerikalen etwas passiert. Es ist schon ein brüchiger Kompromiß, aber machen Sie es mir nicht noch schwerer."Hilfesuchend, wenn auch nicht verzweifelt, blickte der Pfarrer in Zivil zu Sébastien.
"Oder was ist Ihre Meinung? Sie denken doch auch, dass wir von der Gewalt wenn möglich Abstand gewinnen sollten, nicht wahr? Ich meine, haben Sie von den Unruhen heute Morgen auf dem Place Blanche gehört? Die Nationalgarde soll hart gegen eine kleine Gruppe Aufständischer durchgegriffen haben. Ich habe die Befürchtung, dass wenn wir von der Gewalt zu sehr Gebrauch machen, dass es uns nicht zum Ziele von Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit bringen wird, sondern nur auf das Schafott, ehe wir uns vor Gott nochmal auf den Schuldstuhl setzen müssen." François blickte ebenfalls zu Sébastien, gespannt auf dessen Antwort. Ein kühler Luftzug drängte sich durch die Tür, im rückwärtigen Teil der Werkstatt begann derweil ein kurzes, schnelles Hämmern. Achille arbeitete an seinem nächsten Werk, welches in diesem Lager verrosten würde.