Dass Louis Blanc dem am Nachbartisch sitzenden Alfred Nobel ins Gespräch einband, überrasche Sébastien, doch er ließ die Männer wortlos gewähren und harrte einfach der Worte, die noch kamen. Tatsächlich war es eine ungewohnte Situation für den Arbeiter, einem Fabrikanten von Angesicht zu Angesicht gegenüberzusitzen und sich mit diesem zu unterhalten. Wenn ein „kleiner“ Arbeiter die Gelegenheit bekam, mit dem Vorstand eines Großunternehmens zu sprechen, war dies (vermutlich) meist nicht aus erfreulichem Anlass. Sébastien war unschlüssig, ob dieser aktuelle Anlass erfreulich für ihn war. Ihm schmeckte es nicht, sich hier als Blancs Spielfigur zu fühlen.
Dennoch begrüßte er den Fabrikanten erwidernd und hörte dessen Ausführungen aufmerksam zu. Die drei Schlagworte der Revolution im Kontext der Prinzipien des Unternehmertums zu hören, war etwas gewöhnungsbedürftig für Sébastien. Nobels Darlegung hörte sich schlüssig an, aber klang es in den Ohren eines Tischlers, der die Sorgen hatte, die Blanc zuvor aufgeführt hatte, dennoch etwas realitätsfern. Alles in Allem entging Sébastien jedoch nicht die Kritik, die bei Nobels Worten mitschwang. Er ließ den Mann ausreden. Und lachte dann leise auf, als er Blanc wieder mit einbezog. Sébastien ignorierte diese neue Situation einfach, sondern setzte einfach seinerseits nun zu einer Antwort auf all das Gesagte an.
„Wissen Sie“, setzte er nun selbst mit eher etwas zynischem Unterton an, „während Sie“, er meinte Louis Blanc, weswegen er dieses ansah, „mir vorhalten, wie die Situation aussieht, und Sie“, sein Blick wechselte zu Alfred Nobel, „wie einfach die Welt auch für die Fabrikanten wäre, wenn sie Umsicht zeigen und uns Arbeiter anständig behandeln würden, weiß ich immer noch nicht, warum Sie sich mich als Gesicht für Ihre politischen Wege wollen, mit denen ich bisher nichts zu tun gehabt habe. Würde ich mich bereits für Ihre Sache engagieren, könnte ich nachvollziehen, warum Sie mich fördern wollen, aber so…“
Sébastien ließ diesen Gedankengang offen, den er durchaus für relevant hielt und formulierte es anders.
„Bin ich hier das Ziel Ihres Strebens oder das Mittel zum Zweck?, frage ich mich. Wir kennen uns nicht, Sie hätten, wenn Ihnen danach gewesen wäre, jeden anderen vor diese Wahl stellen können, vor die Sie mich immer noch stellen, egal, in welche Worten und angeblichen Absichten Sie es verpacken. Warum gerade ich?, frage ich mich. Sie hätten jeden anderen Arbeiter dazu bringen können, für Sie zur Wahl anzutreten. Vielleicht hat Archille Sie gebeten, mit anderen Mitteln dort anzusetzen, wo er scheiterte, mich von meinem Vorhaben abzubringen“, spekulierte er. „Vielleicht fürchten Sie aber auch das, was ich bewirken könnte, wenn ich mein Vorhaben in die Tat umsetze, also wollen Sie mich vorher bekehren. Ist es so?“
Er musterte Blanc, ließ diesem aber keine Gelegenheit, zu antworten.
„Ich habe den Verdacht, dass es Ihnen darum geht, Blanqui dort zu lassen, wo man ihn momentan festhält. Sie fühlen Ihre Ideale durch die seinen bedroht und wissen, dass er die Arbeiter vereinen wird, sobald er dazu in der Lage ist. Sie wissen, wenn Blanqui freikommt, wird es möglicherweise, wenn nicht sogar wahrscheinlich, zu spät sein, Ihren behutsamen Weg zu gehen. Deswegen haben Sie mir diese hübsch durchdachte Falle gestellt, lassen mir die Wahl, das Geld anzunehmen und dafür meine Freunde zu hintergehen, oder mich für meine Freunde zu entscheiden und damit meiner Familie die Chance auf ein besseres Leben dank Ihrer Finanzierung zu verwehren. Die Lösung für mein Problem scheint klar zu sein:“
Der Zynismus war aus seiner Stimme nicht verschwunden, wurde nun sogar etwas deutlicher.
„Ich nehme Ihr Angebot an und überzeuge meine Freunde, umzudenken, denn wenn Sie mit mir Ihre Meinung ändern, begehe ich keinen Verrat an ihnen. Danach werde ich meine politische Laufbahn nach Ihren Wünschen gestalten, weil Sie es sind, der mich bezahlen. Aber was passiert, wenn ich nicht gewählt werde? Werde ich dann keinen Nutzen für Sie mehr haben?“
„Vielleicht unterstelle ich Ihnen nun zu Unrecht eine gewisse Hinterlist“, eigentlich war es, ihn hierherzulocken und ihn in ein moralisches Dilemma zu bringen, ziemlich hinterlistig, „aber anders als mit Misstrauen kann ich dem, was Sie mir anbieten, nicht begegnen. Womöglich bin ich einfach geprägt vom ausnutzenden Umgang kurzsichtiger Fabrikanten mit der Arbeiterschaft“, griff er Alfred Nobels Ausführung noch einmal auf, „denn die Lage der Tischler, die Sie, Monsieur Blanc, vorhin beschrieben haben, ist auch die Lage aller anderen Arbeiter – und diese sieht nun einmal so aus, wie sie ist, weil Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit nicht die Maxime der Pariser Arbeitgeber ist. Vielleicht vereinzelt, doch in ihrer Ganzheit gewiss nicht. Recht ist Ihnen alles, was in ihrem Interesse liegt und, hauptsächlich, Gewinn bringt. Weil das die Arbeiter unzufrieden stimmt, müsste ein Fabrikant nun, um das Gleichgewicht herzustellen, das wichtig ist, wie Sie sagen, Monsieur Nobel, auf Teile seines Gewinns verzichten, nicht wahr? Warum sollte er das tun? Da Freiheit herrscht, kann er sich aussuchen, dass er Arbeiter einstellt, die dankbar für geringen Lohn sind, anstatt sich darüber zu beschweren, weil sie sonst überhaupt keine Arbeit finden und verhungern.“
Möglicherweise lag es in Sébastiens Natur, alles skeptisch zu sehen, was man ihm vorsetzte, aber was sollte er schon denken, wenn jemand ihn mit Geld zu locken versuchte, seine Einstellung zu überdenken und eine andere anzunehmen, ihm dabei aufzeigte, was an der Welt der Industrie nicht stimmte, während ein anderer sich als Positivbeispiel der „Feindesseite“ darstellte, um zu offenbaren, dass es auch anders funktionierte?
„Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Monsieur Nobel.“
Tatsächlich glaubte Sébastien dies zu durchschauen (die Männer wollten ihm, so ahnte er, insgesamt eine Richtung zeigen, in die sich die Situation der Gesellschaft, die Politik entwickeln sollte).
„In der Theorie mag das ja auch funktionieren, aber nur weil Sie anständig und vernünftig sind und Ihre Grundprinzipien des erfolgreichen Unternehmertums befolgen, nehme ich an, bedeutet das nicht, dass sich andere Fabrikanten so einfach davon überzeugen lassen. Das Bild von verantwortungslosen Fabrikanten besteht nicht ohne Grund. Die Welt ist voller kurzsichtiger Tölpel, das ist das Problem. Auf beiden Seiten dieses Streits zwischen Fabrikanten und Arbeitern. Am Ende geht es allen um Geld, wenn auch aus verschiedenen Beweggründen. Mir ebenfalls, weswegen Sie es auch schaffen, mich mit Ihrem Angebot in einen Gewissenskonflikt zu bringen, Monsieur Blanc.“
Sébastien ließ sich nun zu einem verdrießlichen Lächeln hinreißen.
„Sie halten auch mich für kurzsichtig. Vielleicht bin ich nicht der Richtige für das, was Sie mir zutrauen“, sagte er seinen Gesprächspartnern.
Nein, er hielt schnelle Änderung, notfalls mit Gewalt, für effektiv. Gewalt oder die Angst davor war ein überzeugenderes Argument als Streik… oder Politik. Blanc mochte Recht haben, Nobel dachte dies vermutlich auch: Ein schneller Umsturz würde zwar zu sofortigen Änderungen führen, diese würden nicht unbedingt von langer Dauer sein. Doch Politik konnte scheitern. Und was dann? Dann wäre die Chance vertan, möglicherweise, die sich den Arbeitern nun bot.
Sébastien war unentschlossen, was er tun sollte, vielleicht diskutierte er deswegen so ausgiebig mit diesen Männern.
„Ich möchte niemanden verletzen, das nicht“, wirklich nicht, obwohl der Gedanke an Straßenkämpfe auf Barrikaden, Seite an Seite mit seinen Freunden und Brüdern im Geiste, natürlich etwas Verheißendes, Heldenhaftes, Lockendes an sich hatte, „aber warum sollte ich von meinem Weg abweichen, weil zwei Fremde mir das schmackhaft machen wollen?“
Blanc und Nobel mochten ihm gut zureden wollen, aber die Meinung dieser beiden war Sébastien, wenn er ehrlich zu sich war, nicht besonders wichtig. Blanc war für den jungen Arbeiter momentan der Mann, der ihn in einer gewissen Form drängte, wenn nicht sogar erpresste, und Nobel in seiner Form ein Idealist, zwischen dem und Sébastien selbst eine Distanz bestand – die einfach dadurch existierte, weil Blanc Nobel „Fabrikant“ genannt hatte. In so kurzer Zeit damit warm zu werden, gestaltete sich für Sébastien etwas schwierig.
Sébastien war hier, weil ein Freund ihn darum gebeten hatte. Ein Freund, der seit ihrer Begrüßung schwieg und schuldig bis beschämt seinem Blick auswich.
„Archille, hast du hierzu nichts zu sagen?“, interessierte Sébastien zu wissen. Es missfiel ihm, dass der Künstler sich aus dem Gespräch heraushielt. Bisher hatte sich der Künstler vielleicht nicht in der Lage gesehen, sich dazu zu äußern, Sébastien sprach seinen Freund aber nun bewusst direkt an, um ihn aus der Reserve zu locken. Archille hatte diese gesamte Situation angezettelt. Archille hatte Blanc das abendliche Vorhaben mit Darboy verraten. Achille verließ sich auf Blanc, welcher Archille zu ignorieren schien.
Archilles Meinung war Sébastien allerdings wichtig. Und er wollte sie aus Archilles Mund hören.