Schnüffler
Schnüffler war schon wütend, bevor er das Zimmer des Boss' im vierten Obergeschoss eines gewöhnlichen Stadthauses betrat. Fast zwei Stunden hatte man ihn hier warten lassen – die erste Strafe, wie Schnüffler durchaus klar war.
Er war beautragt worden, eine Angelegenheit zu regeln, und die Sache war nicht gut gelaufen. Im Ergebnis war eine Bar verwüstet und ein rivalisierendes Bandenmitglied schwer verletzt worden. In Windeseile war die Sache bekannt worden, so dass die Stadtgarde gar nicht anders konnte, als die Sache zu untersuchen. Es würde den Boss ein paar Gefallen kosten, die Angelegenheit zu bereinigen. Schnüffler war wütend, dass die Sache so gelaufen war, und dass er auch selbst nun eine abbekommen würde. Der Boss konnte bei solchen Sachen sehr kreativ werden. „Schöne Scheiße!“, fluchte Schnüffler in sich hinein. „Wenn ich nur ein scheiß Grinsen in Franks Gesicht sehe, dann hau' ich ihm eine rein!“, schwor sich Schnüffler. Frank war die rechte Hand vom Boss. Er mochte Schnüffler nicht, doch das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
Wie zu erwarten war, war der Boss nicht gut drauf. Er schimpfte und zeterte und machte Schnüffler herunter. Was für ein Schwachkopf und Idiot er doch sei, dass er nicht einmal die einfachsten Aufträge erledigen konnte, dass er für alles bezahlen würde, doppelt und dreifach... und so weiter. Schnüffler wurde immer wütender und wütender. Er hasste es, dass jemand so mit ihm umsprang. „Wenn ich Dich in einer dunklen Gasse erwischen würde, dann würde sich zeigen, was für ein kleiner, armseliger Wurm Du doch eigentlich bist.“, dachte sich Schnüffler, doch er sagte nichts. Was konnte er auch tun? Der Boss hatte ihn voll und ganz in der Hand. Darum verbiss sich Schnüffler jeden Kommentar und ballte die Fäuste in den Taschen. Seine Kiefer mahlten aufeinander.
„Und was ist jetzt, was guckst Du so dumm? Jetzt sag endlich 'was zu Deiner Dummheit, Deiner vollständigen Unfähigkeit. Was wirst Du tun, um mir den Schaden auszugleichen?“, fragte ihn der Boss mit hochrotem Gesicht und drohte ihm mit der Faust.
Just in diesem Moment klopfte es an der Tür, nein, es polterte an die Tür. Es klang, als ob etwas Schweres dagegen gefallen war. „Verdammt, was ist jetzt schon wieder? Bin ich nur von Schwachköpfen umgeben?“, rief der Boss wütend. „Schnüffler, sieh' nach, wer da ist!“, befahl der Boss. Doch dazu kam es nicht, Splitter flogen durch die Luft und die Tür schwang auf. Ein Hühne von einem Mann stand in der Tür, die Weste ganz zerrissen und mit Blut besudelt. Er stand etwas schräg und schien das eine Bein hinterher zu ziehen. Unartikuliertes Brabbeln kam aus seinem Mund. Ein scheußlicher Anblick.
Bevor einer verstand, was da eigentlich vor sich ging, stürmte der Hühne schon auf Schnüffler los, versuchte ihn umzurennen und zu packen. Instinktiv trat Schnüffler zur Seite, griff aber den Hühnen an Kleidung und Haaren und schleuderte ihn in einer halbkreisförmigen Bewegung mitten in den Raum. Der Hühne geriet ins Straucheln und Stolpern und fiel direkt vor dem Boss auf den Boden. Der Boss glotzte unverständig auf den sich schon wieder regenden Körper. „Wer ist das? Und wie ist er an meinen Männern vorbei gekommen?“, stammelte er.
„Raus hier!“, rief Schnüffler und wandte sich zur Tür. Erst jetzt bemerkte er die Hitze und den dicken, schwarzen Rauch, die ihm aus dem Gang entgegen kamen. Schnüffler verstand, dass das Haus in Flammen stehen musste. Doch er wusste, dass es sonst keinen Ausweg aus dem Haus gab. Es gab keine Alternative zu den Treppen. Also weiter. „Hoffentlich warten sie nicht schon draußen auf uns.“, dachte Schnüffler, als er den Gang hinuntereilte. Er sah links und rechts die Körper seiner Bandenmitglieder liegen. Hinter ihm hörte er seinen Boss, der ihm hinterher eilte.
Der Rauch wurde immer dichter und die Luft immer heißer. „Das Erdgeschoss brennt und das Feuer breitet sich nach oben hin aus.“, dachte sich Schnüffler. Sie nahmen eine Treppe hinunter in das dritte Erdgeschoss. Man konnte hier kaum etwas sehen. Der Boss war dicht hinter Schnüffler. „Was zur Hölle geht hier vor sich?“, rief dieser. Deutlich war die Angst in seiner Stimme zu hören.
Da tat es einen Schlag und mit einem Krachen fiel ein Teil des Hauses ein. Vor Schnüffler war der Boden eingebrochen. Helle Flammen schlugen zur Decke. Schnüffler wich zurück. Hinter ihm hörte er das Geräusch berstenden Holzes und einen erstickten Schrei. Er blickte hinter sich und sah seinen Boss, wie dieser auf dem Boden lag. Seine Beine waren von einem Berg Trümmer zerschlagen worden.
„SCHNÜFFLER! Hilf mir!“, rief der Boss.
„Wo sind meine Sachen?“, entgegnete Schnüffler.
„Was...? Was zur Hölle sagst du?“
„Ich will meine verdammten Sachen haben, habe ich gesagt.“, befahl Schnüffler.
„Bist Du verrückt? Verflucht, das Haus brennt!“, rief der Boss panisch. „Oben, in der Kammer, in einer Truhe.“, gab er dann schließlich zurück.
Schnüffler rannte am Boss vorbei, wieder in den vierten Stock. Wenn man ihn später fragte, so konnte er nicht sagen, warum, doch – verdammt – er wollte jetzt sein Zeug haben. Er sah den Gang hinunter, auf die toten Körper – und sah dort den Hünen, der sich darüber beugte. Es war als... ob er... sie aß. Er riss große Stücke Fleisch aus ihnen heraus und stopfte sie sich in den Mund. Schnüffler schauderte, doch er blieb auch nicht stehen. Er stieß die Tür der Kammer auf. Er öffnete die Truhe, die dort stand und fand dort seinen alten Rucksack.
Schnüffler schnappte sich seinen Rucksack und rannte wieder in den dritten Stock.
„SCHNÜFFLER! HILF MIR!“, rief der Boss.
Schnüffler blieb stehen und betrachtete den Boss, der dort vor ihm auf dem Boden lag. Er konnte sich nicht retten; seine Beine waren zerschmettert. Er war komplett hilflos. Schnüffler blickte tief in die Augen des Boss' und sagte dann „Nein!“. Dann rannte er am Boss vorbei. Er hatte kein Mitleid.
Schnüffler stürzte die Treppen herunter und wich brennenden Balken und fallenden Trümmern aus – und stand schließlich auf der Straße.
Schnüffler blickte sich um und orientierte sich. Keine Meute von bis an die Zähne bewaffneten Bandenmitgliedern stand vor dem Haus. Überhaupt war die Straße sehr leer. In der Ferne sah er einige Leute davonlaufen. Es waren Schreie zu hören. Auch viele der anderen Häuser brannten.
„Was ist hier eigentlich los?“, murmelte Schnüffler vor sich hin und versuchte die wahnsinnige Zerstörung zu verstehen und konnte es nicht.
Da sah er direkt vor sich, mitten auf der Straße, ein kleines Menschenmädchen stehen. Sie war ganz allein. Ganz unbewegt stand sie da und blickte auf das brennende Haus, aus dem Schnüffler gerade gekommen war. Nein, eigentlich blickte sie direkt Schnüffler an. Irgendetwas an dieser Situation ließ Schnüffler erschaudern. Der Blick des Mädchens war so leer... Das Mädchen war noch so klein...
Schnüffler hatte das Gefühl, eine Entscheidung treffen zu müssen. Er musste von hier weg. Irgendetwas war hier nicht in Ordnung, auch wenn er nicht wusste, was es war. Und Schnüffler wusste, dass das gespenstische Mädchen sterben würde, wenn er es hier stehen ließ. „Es hat auf mich gewartet..., dachte er unwillkürlich. Was für ein seltsamer Gedanke.
Schnüffler lief auf das Mädchen zu, packte es bei der Hand und lief die Straße herab. Welche Richtung einschlagen? Egal, einfach geradeaus...