Alaric gab sich alle Mühe, den Worten Lord Nashers zu folgen. Zunächst verstand er auch noch einigermaßen, worum es diesem ging. Bei den Worten 'Am Anfang denkt man, dass man den Mut aufbringen muss, zu kämpfen' nickte Alaric. Ja, das kannte er. Das erste Attentat... fast hätte er es nicht durchgezogen. Jeder einzelne Schritt, von der Planung bis zu dem Augenblick, als er dem Badenden von hinten mit dem Messer über die Kehle fuhr, hatte Alaric unendlich viel Mut abverlangt. Und Mut zur Verantwortung, hatte er den nicht bewiesen, indem er sich Lord Nasher aus freien Stücken gestellt hat?
Doch dann verlor Alaric den Faden der fürstlichen Gedanken, nämlich an der Stelle: 'Ginge es nur um Ordnung und Disziplin, so würde die Welt im Chaos versinken.' Wieso das? Wenn überall Ordnung und Disziplin herrschte und jeder an der Verbesserung seiner Selbst arbeitete statt sich um die vermeintlichen Charakterschwächen der anderen zu kümmern, wie sollte da Chaos entstehen? Und worauf bezog Lord Nasher sich, als er meinte revidieren zu müssen, was er vorhin sagte?
Die Verwirrung stand Alaric kurzzeitig ins Gesicht geschrieben, bis er den Faden wiederfand. Mehr sein wollen als ein Henker, ja, zu diesem Schluss war er im Turmverlies doch auch gekommen. Aber er hatte Sorge, dass es dazu zu spät sein könnte. Die Worte Moral, Güte und Gnade sagten ihm nämlich gar nichts, das hieß, er wusste natürlich, was sie bedeuteten und dass sie allgemein als erstrebenswert erachtet wurden, aber er spürte nicht den Widerhall, den sie eigentlich im Herzen eines guten Wesens erzeugen müssten—und dass, obwohl er sich in die Hand Lord Nashers begeben hatte, auf Sühne und Vergebung hoffend: also auf dessen Güte und Gnade!
Alaric presste die Hand auf sein Herz, doch auch jetzt spürte er nur Leere. Er konnte sich noch gut erinnern—und während einer besonders gelungenen Meditation sogar für einige Augenblicke fühlen!—wie heiß das Feuer einst in seinem Herzen gebrannt hatte. Die Geschwister, was hatte er sie innig geliebt! Den Vater, wie hatte er ihn gehasst, bis Hals und Herz im Leib ihm brannten!
Ein freier Mann war er eigentlich nie gewesen. Um Freiheit zu verstehen, musste man sie fühlen können.
Als Lord Nasher geendet hatte, dachte Alaric lange über seine Frage nach. Was er vorhatte? Schwierig. Er, der sonst für jede Eventualität im Voraus plante, der für jeden Plan einen Plan B schmiedete, hatte diesmal nicht weiter vorausgedacht als bis zu seiner Audienz beim Fürsten.
"Ich möchte herausfinden, wer hinter dem... Auftragsmord steckt", wiederholte er unsicher sein ursprüngliches Gesuch, wobei seine Zunge gehörig über das Wort 'Auftragsmord' stolperte. "Es wird der Familie nicht viel Trost sein, die Wahrheit zu erfahren, aber vielleicht doch ein wenig. Und dann... wenn es danach noch ein 'dann' gibt... dann... dann weiß ich nicht, ob ich allein weiterkomme", gestand er kleinlaut. "Zwar habe ich meinem Gott schon Besserung gelobt und auch zwei Gelübde abgelegt, um meine Reue und Demut zu bezeugen, aber ist das genug?
Zum einen glaube ich, dass nicht alles Mitgefühl tot in mir ist, denn auch wenn Ihr mich gewissenlos nennt, so weiß ich genau, dass es mein Gewissen war, das mich zur Beichte hierher getrieben hat. Zum anderen aber höre ich Eure Worte und verstehe sie auch, doch spüre ich sie nicht. Wenn Ihr von Moral, Güte und Gnade redet, reagiert nur mein Verstand, nicht mein Herz."
Er klopfte mit der Faust auf das nutzlose Organ, das offenbar zu nichts anderem taugte, als Blut durch seinen Körper zu pumpen.
"Vielleicht..." Er hielt erschrocken inne ob der wagemutigen Idee, die ihm gerade kam. "Ihr sagt, Ihr hättet das alles auch über die Jahre und auf die harte Tour lernen müssen. Vielleicht könnte ich es von Euch lernen, wenn Ihr mich in Eure Dienste nähmet. Wenn Ihr es mich lehren würdet..."
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da schoss ihm heiß die Schamesröte ins Gesicht. Wie lächerlich musste dieser Gedanke in Lord Nashers Ohren klingen. Was, um einen Gefallen bittet der dreiste Mordbube mich auch noch? Zeit und Mühe soll ich in den Kerl investieren?
"Ihr werdet mich wohl kaum der Mühe werthalten", korrigierte er sich schnell. "Vergesst, dass ich es vorschlug!"