Doch schon nach kurzer Zeit wurde Alaric unruhig.
Sitzen. Das fängt ja gut an. Ist das meine erste Lektion? Wenn ja, was soll ich dabei lernen? Und warum fällt es mir so schwer? Geduld haben mir die Brüder vom Singenden Stein[1] doch wahrlich genauso gründlich eingehämmert wie den Gehorsam. Oder nicht? War meine Geduld niemals Geduld, sondern nur Gleichgültigkeit? Und weil mir nicht mehr alles gleichgültig ist, da ist's auch gleich mit meiner Geduld vorbei?Er versuchte zu meditieren, doch es wollte ihm nicht gelingen. Normalerweise tat er es nämlich in Bewegung, bis seine Gedanken sich im Einklang mit seinen Gesten drehten und wendeten, bis Geist und Körper vereint waren durch den langsamen Tanz, das Spiel mit dem Schatten, bis er sich in der Schwebe befand, im perfekten Gleichgewicht.
Er war einfach zu aufgewühlt. Und von allen Dingen, die heute passiert waren und von denen er die Hälfte nicht so recht kapiert hatte, geschweige denn sich eine Meinung dazu gebildet, plagte ihn ein Gedanke am meisten: der Pater hatte sein Stirnrunzeln missverstanden. Der Mann glaubte tatsächlich, Alaric hätte Anstoß an seinem Lachen genommen. Nun, ehrlicherweise hatte Alaric das auch—beim ersten Mal, als der Mann ihm schallend ins Gesicht lachte, wo Alaric doch mit gar so klammem Herzen daherkam, obwohl auch dies im Nachhinein erklärbar war, wenn Lord Nasher in seinem Schreiben versäumt hatte, Alarics Verbrechen zu erwähnen...
Verflixt! So unordentlich wie heute waren Alarics Gedanken noch niemals gewesen, verirren musste man sich darin! Es schien, als würden seine Gedanken die ihm zur wahren Balance fehlende Bewegung ausgleichen wollen, indem sie selbst wild durcheinander rasten. Wo war ihm der Faden verloren gegangen? Hatte er den Satz überhaupt richtig beendet?
Also, das Stirnrunzeln jedenfalls, das stört mich, dass der Pater dies auf sein Lachen bezogen hat, wenn es doch nur mir selbst galt. Das Lachen gefällt mir doch eigentlich ganz gut an ihm. Vor allem die zweite Art; die, mit der er die ihm auf den ersten Blick vielleicht absurd erscheinende Aufgabe akzeptiert hat, einem vierfachen Mörder die Bedeutung von Moral, Güte und Gnade beizubringen; mit der er dem Schicksal ins Gesicht lachte, aber nicht mir; mit der er zu sagen scheinen wollte: Ha, dann packen wir's an! Und die folgende Erklärung, die gefällt mir auch. Lachen, wenn einem die Worte im Halse stecken bleiben, wenn einem die Kehle zum Atmen zu eng wird, die Brust zum Heben zu schwer. Lachen soll man dann!Alaric versuchte es, doch es wurde nur ein spöttisches Schnaufen daraus. Also gut, auf Anhieb schaffte man so etwas natürlich nicht. Da würde er lange üben müssen.
Und noch immer saß er da. Gerade einmal später Nachmittag war es. Immer wieder kamen Leute vorbei.
[2] Einige grüßten ihn mit einem Nicken oder knappen Worten, andere sahen sich neugierig nach ihm um, wieder andere—die jüngeren zumeist, welche dieselben schlammgelben Roben trugen wie er selbst—blieben bei ihm stehen und versuchten, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Einen davon bat Alaric um einen Stift, damit er etwas in seiner "heiligen Schrift" notieren könne (welche sich als leeres Heft herausgestellt hatte); man half ihm bereitwillig aus. Und so notierte er, während drei Novizen ihm dabei zusahen, die Worte des Paters zum Lachen, so gut er es aus der Erinnerung vermochte, und dachte auch noch eine Weile darüber nach.
Die Sonne zog langsam ihre Bahn. Je länger die Schatten wurden, desto schwerer fiel Alaric das Sitzen. Eigentlich wäre jetzt Zeit für sein Abendtraining. Er war es gewohnt, dreimal am Tag zwei Stunden lang zu trainieren, obwohl er das Mittagstraining auf Reisen meist ausfallen ließ. Aber der Pater hatte ihm eine klare Anweisung gegeben, die einen Sinn haben musste, auch wenn dieser sich Alarics Verständnis entzog.
Die Zeit verging einfach nicht. Seine Muskeln begannen zu zittern und zu verkrampfen. Er versuchte die verschiedensten Sitzpositionen aus, sowohl auf der Bank als auch auf dem Boden, es half alles nichts. Da, endlich! Ein rötlicher Schimmer am Horizont. Bald wäre die Qual vorbei.
Was ihn wohl morgen beim Unterricht erwartete? Unterricht worin? Bei wem? Wer würde noch dabei sein? Würde er Pater Johannes morgen wiedersehen? Dann wollte er die Sache mit dem Stirnrunzeln und dem Lachen aufklären. Obwohl... wahrscheinlich würde der gute Mann die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und ein Dutzend Mal seinen Gott anrufen:
"Was, ich soll diesem Menschen auch noch das Lachen beibringen? Grundgütiger Ilmater! So fest ist mein Glaube nicht, da such dir lieber einen anderen Knecht, das schaff ich nicht!"Endlich verschwand die Sonne hinter den Hausdächern. Alaric wartete noch etwas, bis er ganz gewiss war, dass man dies nun mit bestem Gewissen "Einbruch der Nacht" nennen durfte, und machte sich auf den Weg in seine Schlafkammer. Dort angekommen, stellte er fest, dass jemand inzwischen seine Sachen aus der Herberge geholt hatte. Die Waffen fehlten—das hatte er nicht anders erwartet—aber sonst schien alles da. Also zog Alaric sich aus, vollführte die kürzeste Form seiner Bewegungsmeditation und davon auch nur einen Durchgang—schwierig genug in der Enge seiner Kammer—bevor er sich wusch und zu Bett begab. Trotz dieser Vorbereitungen verfolgten ihn die Gedanken auch hinter geschlossenen Lidern.
Warum hatte der Pater ihm mit der Nachricht an Lord Nasher nicht helfen wollen? Für ihn wäre es ein einfaches gewesen! Wie sollte Alaric es nur bewerkstelligen? Einen Brief schreiben und dann? Wem konnte er einen solchen anvertrauen? Niemandem. Er würde doch selbst gehen müssen. Aber man würde ihn nicht vorlassen, dessen war er sich sicher. Für den Fürsten war die Sache erst einmal abgehakt. Es lebten noch achttausend weitere Bürger in seiner Stadt, um die er sich kümmern musste, allesamt ehrenwerter und beschützenswerter als Alaric.
Überhaupt, Lord Nashers Schreiben! Wie seltsam, dass er nichts von Alarics Verbrechen erwähnt hatte. Um einen Kranken zu kurieren, musste man doch erst einmal wissen, an was er litt! Daher bedauerte Alaric nicht, es dem Pater gesagt zu haben. Irgendwie schien er dessen Ehrgeiz dadurch ja sogar beflügelt zu haben. Und vielleicht erhöhte es Alarics Chance, hier tatsächlich etwas zu erreichen.
Und der Pater hatte ihn nicht so angesehen, wie er befürchtet hatte.
Irgendwann, von ihm selbst unbemerkt, glitt er in den Schlaf hinab. Es war noch dunkel, als man ihn weckte. Er fühlte sich seltsam frisch und erholt. Noch seltsamer aber war das fremde Gefühl, das er erst nach einigem Herumrätseln erkannte und benennen konnte: Neugier! Kaum konnte Alaric es fassen. Zum ersten Mal seit... er erinnerte sich beim besten Willen nicht seit wann... war er neugierig auf den Tag, der vor ihm lag. Was mochte dieser ihm bringen?