Harry dagegen befand sich, kaum dass er Henrys Blick begegnet war, in einer kleinen, gemütlichen Hütte. Die Wände waren aus grauen, grob gehauenen Steinblöcken errichtet worden. Zur rechten war ein Kamin, in welchem ein behagliches Feuer brannte. An einem eisernen Haken hing ein großer Kessel, aus welchem nach Lamm und Minze riechender Dampf kam. Vor dem Kamin standen zwei Stühle mit breiten Armlehnen, die zum Sitzen einluden, auf dem Boden daneben eine Flasche und einige Gläser. An der Wand lehnte ein altertümliches Saiteninstrument. Außerdem waren da noch zwei Regalbretter an der Wand befestigt. Das eine enthielt nur zwei Bücher, die in der niedrigen Stube überdimensioniert wirkten. Harry betrachtete die beiden Bücher. Es waren „The Holy Bible“ und „The Book of Common Prayer“. Beide wiesen massive Gebrauchsspuren auf. Auf dem anderen Regalbrett hatte jemand ordentlich Gegenstände aufgereiht. Harry erkannte einen zerbrochenen Steinguttopf mit Brotkrümmeln, ein blutiges Taschentuch, den Totenschädel eines Schafs und eine kleine Stickerei von einer blauen Kornblume. Diese Dinge waren zwar geordnet, aber von einer dicken Staubschicht überzogen. Darunter las Harry die Inschrift: "
And I will give unto thee the keys of the kingdom of heaven: and whatsoever thou shalt bind on earth shall be bound in heaven: and whatsoever thou shalt loose on earth shall be loosed in heaven."
[1] Offensichtlich symbolisierten diese Gegenstände die Sünden, welche Henry gelassen—und gebunden—waren.
Harry setzte seine Detektivbrille auf und betrachtete diese Sünden eine nach der anderen und aus der Nähe. Sein erster Gedanke war: Aha. Henry hat also einmal Mutters besten Steinguttopf zerdeppert, dem Nachbarjungen eine blutige Nase verpasst, beim Schafhüten nicht aufgepasst—wahrscheinlich, weil er sich mit dem hübschen Schäfermädel, der die Stickerei gehörte, hinter den Büschen vergnügt hat—und deshalb hat der Wolf sich eins der Schafe geschnappt.
Sein zweiter Gedanke war, dass Henry als erwachsener Mann solch Bubenstreiche wohl kaum noch für Sünden halten würde. Es musste also mehr dahinter stecken.
[2]Harry untersuchte die vier Gegenstände aus der Nähe. Aha, der Steinguttopf war mit Absicht zerdeppert worden, sonst wäre er wohl kaum in so viele kleine Teilchen—Staub teilweise!—zersprungen. Das Blut auf dem Taschentuch stammte aus verschiedenen Zeiten und hatte den Stoff völlig durchtränkt—da hat es mehr als nur eine blutige Nase gegeben. Und das Schaf, nun, das arme und offenbar weibliche Tier war ermordet—genauer: erdolcht—worden. Diese Erkenntnisse schienen Harry nicht sehr hilfreich, da er den Täter ja bereits kannte: Henry. Warum sollte Henry ein Schaf erdolchen? Warum sollte es eine Rolle spielen, ob dieses männlich oder weiblich war? Was war so sündhaft daran, wenn's bei einer Prügelei mal ne blutige Nase gab? Und der Steinguttopf war vielleicht das rätselhafteste. Was sollten die Brotkrümel darin?
Du bist doch der Detektiv, Harry, sag Du's mir!Als Harry sich genauer umsah, fand er überall im Raum verteilt weitere Inschriften. "
I will bless the LORD at all times: his praise shall continually be in my mouth." und
"I sought the LORD, and he heard me, and delivered me from all my fears." und dann war da noch "
Come, ye children, hearken unto me: I will teach you the fear of the LORD. What man is he that desireth life, and loveth many days, that he may see good? Keep thy tongue from evil, and thy lips from speaking guile. Depart from evil, and do good; seek peace, and pursue it.
[3]Neben den ganzen Bibelzitaten fand Harry aber auch Zitate von Shakespeare. Offensichtlich mochte Henry Shakespeare sehr. "
Be just, and fear not: Let all the ends thou aim'st at be thy country's, Thy God's, and truth's", stand über dem Rüstungsständer. "
Let me have men about me that are fat, Sleek-headed men, and such as sleep o' nights", stand über dem Kamin. Neben einem Bild, das wohl Henrys Vater darstellte, stand: "
That deep torture may be called a hell, When more is felt than one hath power to tell."
Endlich etwas, das Harry verstand und sogar nachvollziehen konnte! Henry liebte also seinen Vater, sonst hätte er sein Bild nicht hier hängen. Von der Mutter gab es im ganzen Zimmer kein Bild und auch nichts, das an Irland erinnerte. Im Gegenteil: die vielen Zitate waren sehr... englisch. Und doch gab es etwas, das Henry seinem Vater gerne gesagt hätte, ihm aber niemals gesagt hatte, weil es einfach zu schwer war, in Worte zu fassen: dass seine Gefühle ihm gegenüber zwiegespalten waren. Dass es da neben der Liebe auch Anklage gab und, als Folge davon, Scham, weil es doch der Vater war, den man lieben und ehren sollte. Darauf wiederum folgte die Wut, dass der Vater ihn dazu gebracht hatte, sich wegen der berechtigten Vorwürfe zu schämen, obwohl es doch dessen Schuld war, dass man anders war als die anderen, dass man niemals und nirgendwo dazugehörte; Wut auch darüber, dass die väterliche Strenge und Unnahbarkeit es unmöglich machten, ihm diese Vorwürfe ins Gesicht zu sagen... Halt, waren das immer noch Henrys Gefühle oder längst Harrys?
Über Henrys Bett fiel Harry eine weitere Inschrift auf, die ihn nachdenklich stimmte: „
By night on my bed I sought the one who my soul loveth: I sought her, but I found her not. I will rise now, and go about the city in the streets, and in the broad ways I will seek her who my soul loveth: I sought her, but I found her not.“
[4].
Wiederum offensichtlich, zumal das Bett ein Ehebett war, aber nur auf einer Seite jemand zu schlafen schien. Auch die Sehnsucht nach einer Frau, die sein Leben teilte, kannte Harry nur zu gut, auch wenn er sich weniger poetisch ausdrücken würde und noch weniger Hoffnung als Henry hatte, in dieser Hinsicht jemals Erfüllung zu finden.
Harry sah sich weiter um und fand eine kleine Tür. Über der Tür war Psalm 22 komplett niedergeschrieben. Besonders stachen die Verse 13 bis 15 hervor, sie waren viele Male nachgefahren worden, zuletzt in blutrot: „
They gaped upon me with their mouths, as a ravening and a roaring lion. I am poured out like water, and all my bones are out of joint: my heart is like wax; it is melted in the midst of my bowels. My strength is dried up like a potsherd; and my tongue cleaveth to my jaws; and thou hast brought me into the dust of death.“
Harry trat durch die Tür – und wäre beinahe gestürzt. Vor ihm war der Boden aufgerissen und ein riesiger Abgrund tat sich auf. Der gesamte Raum war vom Abrund verschluckt worden. Doch hinter dem Abgrund, da tat sich eine prachtvolle Landschaft auf. Harry sah eine sattgrüne, hügelige Landschaft und er hatte keinen Zweifel daran, dass dies Irland war, so wie Henry es sah. Überall waren Schafe und dann vereinzelt auch Menschen, die sangen und glücklich aussahen. Niedrig hängende Wolken brachten warmen Regen und es lag der würzige Geruch von frisch gemälzter Gerste in der Luft. Die Sonne legte sich auf das Land und tauchte die Szenerie in ein dunkles rot. Es würde gleich Nacht werden – und irgendwie beunruhigte das Harry. Er wusste nicht warum, aber die aufkommende Dunkelheit machte ihn unruhig, ja, ließ sogar Angst in ihm hochkommen. Waren das die Gedanken von Henry? Oder waren es seine Gedanken?
Harry schwindelte und er trat rasch vom Abgrund zurück. Zerrissen in der Seele! Dort—unerreichbar!—die weite, sonnendurchflutete Welt der Mutter, hier die dunkle, enge Welt des Vaters: bewundernswerte Literatur, aber Strenge; trostspendender Glaube, aber bar jener sorglos lachenden Freude, die er drüben sah; Wissen, Fortschritt, Verstand, Stolz: alles hier, und dennoch sehnte das Herz sich nach dem Drüben, nach den grünen Wiesen mit den glücklichen Menschen.
Aber die Stimmung, die er da gerade gespürt hatte, sagte ihm, dass es mehr als nur Sehnsucht war, das Harry für das Irland seiner Mutter empfand; da war auch etwas dunkleres. Sie hatten ihn ausgegrenzt, die glücklichen Schäfer, als sei er ein Wolf unter ihren Schafen. Nur wegen des englischen Vaters? Oder auch wegen des Temperaments? Harry vermutete letzteres. Eigentlich war er sich dessen sicher. Wie bei ihm selbst war so etwas eben nicht ausschließlich, wie man das selbst gerne sehen würde, nur die Schuld der anderen: des Vaters, wegen dem man anders war; der Mitmenschen, die einen deshalb ausgrenzten... Aber Henry wollte sich das genausowenig eingestehen wie Harry selbst.
Nach dieser Erkenntnis untersuchte Harry abermals die vier Gegenstände auf dem Regal, welche Henrys Sünden darstellten, denn etwas glaubte er inzwischen verstanden zu haben:
Henry sieht den Dingen ungern direkt in die Augen, oder vielleicht sind wir in Amerika da heutzutage nur wegen zu vieler Jahre Psychoanalyse geschulter und, nun, vielleicht sollte man sagen: masochistischer veranlagt. Henry jedenfalls denkt ganz anders, weniger analytisch, mehr in Symbolen. Ja, für alles gibt es eine Analogie, ein passendes Bibelzitat, oder wenigstens eine Szene aus Shakespeare. Nicht einmal die eigenen Gefühle drückt Henry gern in eigenen Worten aus, vielleicht weil er Angst hat, diese könnten unzulänglich sein. Oh je, wenn ich jeden meiner Ergüsse an der Weisheit der Bibel oder Wortgewandtheit Shakespeares messen würde, ich verbrächte mein halbes Leben auf der Couch!Und deshalb erinnerte Henry sich lieber an das blutige Taschentuch als an die vielen Prügeleien, die er mit den Nachbarsjungen und später mit den jungen Männern seines Alters ausgetragen hatte, wann immer sie es wagten, ihn als nicht Irisch genug auszugrenzen. Deshalb erinnerte er sich lieber an den Tonkrug, den er im Zorn zerschlug, als an den Streit mit den Eltern. Deswegen erinnerte er sich lieber an das Schaf, das er getötet hat, weil... Ähm. Ne, an dieser Stelle kam Harry immer noch nicht weiter. Warum ein Schaf abstechen? Beim Nachbarn, aus Rache? Das konnte er sich nicht vorstellen. Nein, das musste ein Geheimnis bleiben. Mit Schafen kannte Harry sich einfach nicht aus.
Als letztes nahm er die Stickerei in die Hand. Jetzt erst sah er, dass diese als einziger der vier Gegenstände nicht verstaubt war. Eine Sünde, die nicht verjährt war, oder wie immer das theologisch korrekt hieß? Was stand da gestickt? "Denie thy Father and refuse thy name." War das Shakespeare oder die Bibel? Daraus ergäben sich zwei sehr unterschiedliche Deutungen. In jedem Fall ging es um eine Frau, doch die Frage war: Hatte Henry wegen dieser Frau, trotz der ganzen Bibelsprüche hier, sich im Herzen bereits von Gott oder zumindest seiner Kirche abgewandt und damit, so würde er sagen, Name, Ehre und Seelenheil verloren? Oder war das Zitat von Shakespeare? Romeo und Julia böte sich da an. Vergiss, dass du Sohn deines Vaters bist, lege deinen Familiennamen ab und komm zu mir?
So oder so, da steckte zuviel Gefühl in diesem Symbol, als dass es sich um eine abstrakte Liebe handeln könnte. Henry war einmal, oder vielleicht immer noch, tragisch verliebt. Entweder seine Religion oder ihre irische Familie hatten ein glückliches Ende verhindert. Ob das Mädchen zu Schaden gekommen war? Gar gestorben, wie Julia? Jedenfalls fühlte Henry sich schuldig. So schuldig, dass er sich selbst nicht vergeben konnte.
Ein letzter Gedanke jagte Harry hinterher, als das Gesehene um ihn herum schon zu verblassen begann und Henrys Gesicht dahinter wie aus dem Nebel auftauchte. Es sprach der Barde selbst: "
I could be bounded in a nutshell, and count my selfe a King of infinite space; were it not that I have bad dreames."
Und dann saß Harry da und sah Henry an und wusste nicht, was er sagen sollte. Henry war tatsächlich ein Mensch, und die Geschichte, die er Harry erzählt hatte, schien zu stimmen.
"Ähm", sagte Harry.
"Das... ähm... gerade... tut mir leid. Ich wollte nur... also... bin einfach zu oft... reingefallen auf Leute, die Hilfe zu benötigen schienen, und dann aber... na ja... und Eure Geschichte war ja auch ein wenig... schwer zu glauben, das müsst Ihr zugeben, oder? Es war jedenfalls nicht bös gemeint..."Harry biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. Die Stammelei war ja schrecklich.
"Oh verflixt, Henry, es tut mir leid, OK? Ehrlich, Mann. Das, was gerade passiert ist, passiert von allein, wann immer ich jemandem länger als eine Sekunde in die Augen blicke, also vermeide ich das meist. Aber wenn man den Leuten nicht in die Augen schauen kann, dann entgeht einem viel, dann durchschaut man sie einfach nicht. Und deshalb falle ich auf jeden rein, der mir mit einer netten Geschichte kommt und mich um Hilfe bittet. Deswegen wollte ich einfach wissen, woran ich bei Euch bin. Vergeben und vergessen?" bat er kleinlaut.