Also nahm Harry seinen Stecken und führte sie abermals durch die Häuserschluchten, aber diesmal über normale Wege. Allerdings boten die Straßen hier auch nicht die einheitliche Fassade wie am Lake Shore, wo die beiden sich getroffen hatten. Es war immer auch mal ein kleineres oder schäbigeres dazwischen, ein Parkplatz, eine Kirche, oder ein Supermarkt. Dann machte Harry auch schon vor einem älteren, vierstöckigem Gebäude, das zwischen zwei dreimal so hohen Nachbarn eingezwängt stand, halt.
Eine Treppe führte zum Eingang ins Souterrain hinab. Erst wer unten stand konnte das Schild "MacClelland's Public House" lesen. Eine Frau und ein Mann kamen ihnen entgegen. Der Mann war elegant in Schwarz mit weißem Hemd, die Frau dagegen trug ein rotes, enganliegendes, bodenlanges Kleid, das nicht verbarg, obwohl es bis zum Hals geschlossen war.
"Why, Harry!" rief sie freudig.
"Good to see you! How's life treating you? You're looking good. Say, who's your little friend?""None of your business, Auntie Trish", erwiderte Harry gänzlich ungalant. Er versuchte, um die beiden herum zur Tür zu gelangen, doch es war nicht genug Platz.
'Auntie Trish' (die eigentlich nicht alt genug aussah, um Harrys Tante sein zu können) schien keinesfalls brüskiert. Noch immer lächelnd betrachtete sie Henry von Kopf bis Fuß, wobei ihr Blick auch immer wieder zu Harry hinüberwechselte, als amüsierte sie sich köstlich über den Größenunterschied. Ziemlich frech war das eigentlich schon. Henry dagegen konnte nur zu ihr aufblicken und staunen, wie groß diese Frau war; ihren Begleiter überragte sie um einen Kopf, mit Harry aber befand sie sich auf Augenhöhe.
"Or is he a client?" fragte sie Harry, doch gab ihm gar keine Gelegenheit zu antworten.
"Client, of course. You don't have any friends. Well, I do hope your business goes well." Und zu Henry sagte sie:
"Don't let him overcharge you. And don't fall for his 'I need the money, I'm such a pauper' routine; in truth, he's loaded. Or could be, if he wanted to."Bevor Henry etwas erwidern konnte, bedachte die Tante ihren Neffen mit einem recht giftigen Blick, dann zupfte sie ihrem Begleiter am Ärmel, worauf die beiden sich zwischen Henry und Harry hindurchschoben und lautlos die Treppe hinaufglitten.
"Das war Eure Tante?"[1] fragte Henry.
"Seid Ihr in Eurer Familie alle so groß?""Größenwahnsinnig vielleicht", sagte Harry. Gemeinsam traten die beiden ein.
Wenn Henry nicht noch so geschockt gewesen wäre, hätte er sich bei MacClelland's auf Anhieb heimisch gefühlt. Der für diese Stunde überraschend gut besuchte Schankraum hätte fast genau so, wie er war, daheim und in seinem Jahrhundert existieren können. Alles war hier aus dunklem Holz. Die Decke war so niedrig, dass Harry sich immer mal wieder ducken musste, um nicht mit dem Kopf gegen einen Balken zu stoßen. Für Henry dagegen war es genau richtig. In Harrys Officegebäude hatte er sich fast wie in seine Kindheit zurück versetzt gefühlt, hier passte endlich wieder alles.
Es gab einen langen Tresen, die Stühle gut zur Hälfte besetzt, ein Dutzend Tische zumeist in gemütlichen Nischen, und eine blondhaarige, vollbusige Schankmaid, die acht volle Humpen Ale auf einmal ihrer Bestimmung zutrug. Zwar schienen auch hier die Lampen an Decke und den Wänden ohne Feuer zu brennen und drei wagenradgroße, windmühlenähnliche Gebilde, deren Zweck Henry sich nicht erklären konnte, hingen von der Decke und zwangen die beiden, Harrys Kopf zuliebe, zu Umwegen, aber mit dem Rest der Einrichtung war Henry bestens vertraut. Besonders verlockend erschien ihm die Zapfanlage: er zählte sechs verschiedene Hähne!
Harry marschierte denn auch (so gut es ging geradewegs) auf den Tresen zu. Die Klientele in diesem Laden sah irgendwie auch anders aus als die Menschen draußen. Viele trugen, ähnlich wie Harry, eine dunkle, zusammengewürfelte Kleidung, oft verknittert und nicht ganz so sauber; die meisten versteckten, wie Harry, ihre Gesichter ganz oder zum Teil hinter Hutkrempen, Halstüchern oder gar Masken.
An einem Tisch in der Mitte saßen drei Männer und eine Frau—unmaskiert—die jeder einen Gürtel mit Schwert über der Stuhllehne hängen hatten. Mit diesen tauschte Harry ein vorsichtiges—sehr vorsichtiges—Begrüßungsnicken.
"Das sind Wächter", raunte er Henry zu, als sie den Tresen erreicht hatten.
"Die passen auf, dass Leute wie Ihr und ich uns an die Gesetze halten. Also, an unsere Gesetze." Das Wort 'unsere' betonte er seltsam.
"Wenn man eins von den sieben obersten Gesetzen bricht, fackeln die nicht lang, dann ist der Kopf ab. Ich wünschte wirklich, die würden ihr Feierabendbier woanders trinken. Na, wenigstens sind um diese Uhrzeit keine Touristen da. Morgen, Pete!" begrüßte er den Mann hinter dem Tresen, als dieser sich ihnen zuwandte. Dann zu Henry:
"Ist es Euch recht, wenn ich bestelle?" Nach Henrys Nicken wieder zu Pete:
"Gut, also zwei cooked breakfast bitte, mit allem, dazu zwei Irish Coffee und zwei Murphy's Stout. Und wenn ich dann noch nicht bei 21 Dollar und 73 Cent bin, schickst du uns noch zwei Whiskey hinterher."Bei diesen Worten kramte Harry seine Brieftasche hervor und leerte den gesamten Inhalt des Geldfaches auf den Tresen: zwei Zehndollarscheine, ein Einer, zwei klimpernde Quarter, zwei Dime, und...
"Korrigiere, 77 cent! Den Rest darfst du behalten.""Ungh", sagte Pete. Es schien zustimmend gemeint zu sein.
Als Harry daraufhin den letzten freien Nischentisch ansteuerte, fielen Henry drei Dinge auf, die ihm Sorge bereiteten—als hätte er davon nicht schon genügend.
Erstens verfolgten drei der vier Wächter Harrys Weg durch den Raum mit argwöhnischen Blicken, schienen angespannt und fast wie auf dem Sprung, als erwarteten sie, dass Harry gleich etwas täte, das sie zum sofortigen Eingreifen zwänge.
Zweitens fiel ihm auf, dass der Mann am Tresen, und auch keiner der Gäste, ihm oder Harry in die Augen sahen. Und, wenn Henry es recht bedachte, war Harry seinem Blick auch noch nicht länger als einen halben Atemzug lang begegnet.
Drittens war nahezu alles in diesem Raum dreizehn Mal vorhanden. Dreizehn Stühle am Tresen. Dreizehn Tische. Dreizehn Lampen an der Wand. Dreizehn Leuchter an der Decke, diese mit je dreizehn Kerzen. Dreizehn Holzpfeiler stützten die Decke. Fenster gab es zwar nur sieben, aber dazwischen waren sechs an die Wand gemalt.
Harry saß bereits und schien Henrys plötzliche Unruhe nicht bemerkt zu haben. Kaum hatte dieser sich dazu gesetzt, da stellte die Schankmaid auch schon zwei Gläser mit dunklem Ale und zwei Whiskey auf den Tisch.
"Ich hoffe, Ihr mögt Ale", sagte Harry.
"Sonst nehm ich die beiden Ales und Ihr könnt die beiden Whiskeys haben. Davon vertrag ich eh nicht soviel... Sláinte!"Und nach dem ersten Schluck fügte er noch hinzu:
"Ich muss mich übrigens für meine Tante entschuldigen. Für ihre freche Anspielung auf Eure Größe. Egal, wie sehr die Benimmregeln sich seit damals geändert haben mögen: solche Bemerkungen sind auch heute nicht die feine Art. Glaubt mir bitte, dass ich so etwas nicht einmal denken würde."[2]