Aria zögerte nicht, und reagierte sofort auf Harrys Bitte. Sie sah sich noch mehrmals um - vor allem nach Henry -, verzögerte ihren Schritt dabei jedoch nicht.
Von einer Sekunde auf die andere änderte sich der Gesichtsausdruck des Mannes. War er gerade noch ernst, schien er plötzlich - entsetzt? Verzweifelt?
"Ich... es tut mir leid! Ich kann mich nicht dagegen wehren, er ist stärker als ich. Er ist der Prophet der N'kyuash, und ich..." Er sah zu Boden, atmete tief durch. Als er seinen Blick wieder erhob, war sein Gesicht erneut ernst.
"Ihr in eurer Überheblichkeit! Dachtet, es sei klar, wer Ross und wer der Reiter sei? Nur zehntausend Jahre ist es her, dass die Sterblichen uns besiegt haben, und nur ein Funken unserer Macht ist wieder freigesetzt. Und noch immer habt ihr keinen Respekt vor ihnen und Ihrer Stärke? Glaubt, ihr wärt ihnen so unendlich überlegen?"
Wieder breitete er die Hände aus - und mit einem Mal breitete sich ein knisterndes Geräusch in der Bibliothek aus. Die Regale brannten! Einige der Schriften in den Regalen hatten Feuer gefangen, das sich rasend schnell ausbreitete.
"Eure Macht über sie entspringt einzig ihrer Unwissenheit," wechselte er nun wieder in die Allgemeinsprache,
"doch ich werde die Waagschale ausgleichen. Und ihr! Sucht nach dem heiligen Boden, und erkennt nicht, dass etwas davon bereits mitten unter euch ist. Nur fünfzig Jahre brauchten die Sterblichen, uns zu besiegen, nachdem sie uns erkannt hatten. Glaubt ihr, in zehntausend würde ihr Wirken den heiligen Boden nicht mehr verändern?"Er zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Jurij.
"Teile, was du hast!"Plötzlich... spürte Jurij etwas. Etwas, das durch sein Blut rann, durch seine Haut, durch jede seiner Zellen. Es war nicht körperlich. Nichts, was in seinem wissenschaftlichen Verstand verankert war, konnte diese Energie erklären. Der Gedanke an Chakrapunkte raste durch sein Hirn,
Kundalini, doch all das traf es nicht, war zu schwach, zu
gewöhnlich. Der einzige Begriff, der zumindest im Ansatz beschrieb, was er fühlte, war:
MystischDann traf es ihn wie ein Schlag. Er riss die Arme nach hinten, streckte den Rücken durch, als habe ihn eine unsichtbare Kraft von hinten getroffen, und ein helles Licht umgab ihn. Und im gleichen Moment schossen Lichtstrahlen von ihm zu den Anderen, und erfüllten auch sie mit der mystischen Energie.
"Er ist noch immer machtvoll, doch das meiste davon hat seine Prägung verloren. Die Wüste von einst? Es gibt sie noch, einen kleinen Rest, und sie kann das Fundament unserer Rückkehr werden. Doch was ihr hier findet, dieser heilige Boden, er ist empfänglich für das Wirken aller. Er kann sein, was er einst war, oder infernalisch werden, oder himmlisch, oder alles dazwischen! Eure Sterblichen haben genug Macht, um ihn mit ihren Überzeugungen und ihrem Glauben neu zu prägen. Und genau das wird passieren."Jurij, von dem die seltsame Kraft ausging, spürte es als Erster. Es war, als hätte er für einen kurzen Moment Einblick in das Netz bekommen, das die Welt zusammenhielt.
Alles ist verbunden! Und so verbanden sich die Dinge in seinem Geist, Eindrücke, Erinnerungen, Gelerntes fügte sich zusammen... er
begriff.
Für Harry war es ähnlich, und doch ganz anders. Er hatte das Gefühl, zu fallen, tief in sich selbst hinein zu stürzen, und mit einem Mal stand er wieder inmitten der Traumwelt, die sein Drachen-Gegenstück ihm bereits mehrfach gezeigt hatte. Doch diesmal betrachtete er sie anders. Alles hier waren
Metaphern. Die brodelnden Quellen? Nichts als die Kraft in seinem eigenen Inneren! Er
spürte sie, wie er sie nie zuvor gespürt hatte. Unbändig. Unkontrolliert. Gefährlich. Es wäre leicht, sich von dieser Kraft durchfluten zu lassen. Doch halt, das tat er! Hatte er immer getan! Nur
kontrollierte sie ihn nicht, sondern er die Kraft. Er hatte einen guten Lehrmeister gehabt, und einen starken Willen. Ohne eines von beidem - wäre er wohl geworden wie der Rest seiner Familie.
Doch das war er nicht. Er spürte die Kraft, konnte sie durch sein eigenes Selbst leiten, konnte durch sie wachsen... und so manche Lehre, die er gelesen oder von seinem Großvater gelernt hatte, machte nun plötzlich Sinn.
Henrys Erfahrung hingegen war eine völlig andere. Auch er spürte die Energie, doch er spürte noch etwas anderes. Fernab von allen Zweifeln, von seiner inneren Zerrissenheit, fernab von Angst, an einem Punkt seines Herzens, der von nichts anderem erfüllt war als von Liebe und von Glaube. Und die Energie, die ihn durchfloss, strömte an diesen einen Punkt, und erfüllte ihn mit der Kraft seines Herrn. Was auch immer der Dämon vor ihm gesagt oder getan hatte, für Henry gab es keinen Zweifel, dass er etwas wahrhaft heiliges gespürt hatte.
Rillfarsell wiederum erfüllte ein seltsames Gefühl von...
Heimat. Er spürte eine Verbundenheit, wie er sie schon lange nicht mehr wahrgenommen hatte. Und sein Geist und sein Herz füllten sich mit Liedern und mit Magie und mit Erinnerungen an unzählige Freunde, die er in seiner Heimat zurück gelassen hatte.
Was Kara hingegen spürte, war etwas, das sie zuletzt vor langer Zeit gespürt hatte. Bevor die Götter auf Faerun gewandelt waren, bevor... ihr Gott gestorben war. Sie erfüllte eine machtvolle, heilige Energie. Doch sie
wusste, es war nicht ihr Gott, den sie hier spürte. Es war ihre eigene Kraft. Das Göttliche in ihr selbst, und in der Welt um sie herum. Die Quelle all ihrer Kraft...
Doch neben all dem, den Erkenntnissen, der Kraft des Glaubens, der inneren Harmonie, war da noch etwas. Etwas sehr viel konkreteres. Eine neue, spürbare Kraft, die sich in jedem von ihnen verankert hatte, geformt aus ihrem innersten Sein und den eigenen Sehnsüchten und Überzeugungen.
[1]Für Kara war es schon seit langem ein großer Wunsch, sich selbst zu verändern. Und sie erkannte, dass es einzig in ihrer Hand lag, dies zu tun. Doch die neu gefundene Macht würde ihr dies auf eine Weise erlauben, die sie nie für möglich gehalten hätte...
[2]Henrys neu gefundene Macht war für ihn eine direkte Konsequenz aus dem gerade Erlebten. Er hatte die heilige Macht des Herrn gespürt... und dabei etwas in sich selbst gefunden. Etwas, dem kein gewöhnlicher Dämon sich würde entgegen stellen können. Doch selbst gegen die N'kyuash würde diese heilige Kraft ihre Wirkung zeigen.
[3]Ähnlich wie für Henry war für Rillfarsell die neue Kraft eine direkte Schlussfolgerung aus dem gerade Erlebten. Er hatte eine Verbindung zu seiner Heimat gespürt - und er wusste, er würde diese Verbindung immer wieder herstellen können!
[4]Harry betrachtete noch seine innere Traumwelt, als er plötzlich etwas an sich bemerkte. Er... veränderte sich. Sein Körper wuchs, zog sich in die Länge. Gleichzeitig schien er an
Körperlichkeit zu verlieren. War dies ein
Astralkörper? Harry hatte Theorien dazu gelesen... aber in keiner davon waren dem Betreffenden gewaltige Flügel gewachsen! Instinktiv schlug er sie, und hob ab. Im gleichen Moment befand er sich nicht mehr in der Traumwelt, sondern in der Bibliothek...
über seinem eigenen Körper! Doch der gewaltige Schlag seiner Flügel trieb ihn weiter nach oben, durch Decken und Dächer hindurch, bis in den freien Himmel, von wo aus er über die Stadt blicken konnte. Er war ein Drache, und er konnte fliegen!
[5]Von all diesen spektakulären und mystischen Erfahrungen bekam Jurij nichts mit. Überflutet von den Erkenntnissen, hatte er sich ganz sich selbst zugewandt, in sein Innerstes geblickt. Und dort, so klar wie nie zuvor, die Präsenz des Dämons wahrgenommen. Doch dieses Mal sah er nicht weg. Sein Blick blieb standhaft, und er tauchte ein in die fremde Seele, die sich in seinen Körper eingenistet hatte, wagte es, die Grenze zu überschreiten und in den Dämon selbst einzutauchen.
Dabei fiel ihm wieder ein, was die Priesterin ihm gesagt hatte. Es gab Ähnlichkeiten zwischen ihm und seinem ungebetenen Gast. Er erinnerte sich an seine Traumvision, hervorgeholt durch den abscheulichen Trank. Die beherrschenden Gefühle waren Einsamkeit und Überlebensangst gewesen, emotional nicht zu erhalten, was er zum Überleben brauchte. Intuitiv spürte er, dass er auf dem richtigen Weg war. Er sah nicht in die Dunkelheit, in Chaos und Gewalt - und davon gab es reichlich! -, sondern folgte nur diesem einen Gefühl, und erkannte, dass es eben dieses war, das den Dämon in seinem Inneren ausmachte.
Er würde sich holen, was ihm zustand. Was er zum Leben brauchte, zum Wachsen, zum Reifen. Die Welt, nein, das ganze götterverdammte Multiversum war es ihm schuldig! erinnerte er sich an die Gefühle der Traumvision. Und er begriff: Auch Obayifo war einst ein Sterblicher gewesen, eine abgelehnte Seele, dich sich das, was sie zum Überleben brauchte, woanders geholt hatte. Doch Obayifos Entscheidungen hatten ihn auf einen anderen Weg geführt als Jurij. Er hatte entschieden, niemandem mehr zu vertrauen, und sicherzustellen, dass er die Macht hatte, sich stets zu nehmen, was er brauchte.
All das war nicht wirklich klar; Jurij konnte nicht in die Vergangenheit Obayifos sehen. Doch er spürte, dass es wahr war. Aus einer verzweifelten Seele war eine böse Seele geworden, und in Millionen und Abermillionen Jahren war aus einer bösen Seele ein schrecklicher, machtvoller Dämon geworden. Doch in all diesen Äonen war der Kern Obayifos gleich geblieben. Er wollte
überleben.
Jurij begriff noch etwas anderes: Obayifos übermächtiger Wunsch, zu überleben, hatte ihn zu einem Meister des Lebens werden lassen. Nicht nur metaphorisch, sondern ganz konkret: Er hatte gelernt, die Ströme des Lebens selbst, ihre Energien und auch das Gegenstück - den Tod - zu begreifen. Und für einen kurzen Moment erhielt auch Jurij einen winzigen Einblick in dieses Wissen.
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