Die Nacht des 15. Tages im zweiten Vikentori, 488 nach Gründung Mechanika – 21:00 Uhr
"Wie du also hörst, laufen die Vorbereitungen für die große Premiere in die heiße Endphase, lieber Trevor! Die letzten Requisiten werden geschliffen, die Kostüme geflickt – Um mich herum herrscht ein allseits geschäftiges Treiben; doch eines kann ich unseren treuen Hörern versichern! Ich blicke in lachende Gesichter, denn jeder der Beteiligten weiß: Die Aufführung zählt zu den spannensten Ereignissen in diesem Jahr... Und sie werden unsere Erwartungen bei weitem übertreffen!
Ladies und Gentlemen, verpassen sie nicht – am 22. ist es soweit, 'Die Eiserne' von Charles Buquett, in den Hauptrollen Isamu Tanaka, Frederik Blonquist und Marguerite Gaston!
... Und damit wieder zurück ins Studio, mein Name ist Marie Soleil, live aus Neu Bezoa; nur für sie – Radio Canal 3!"
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Tiefe Furchen der Reue zeichneten seine Stirn, als er durch den alten, antiken Spiegel in sein eigenes Antlitz starrte. Er vermied es aus Scham, sich selbst in die Augen zu blicken. Mit zitternden Händen schloss er den letzten Knopf seines ehemaligen Marinehemdes und streifte den Stoff am Rande der goldenen Manschetten glatt. Nein... Für Wehmut war es nun zu spät. Es gab kein Zurück mehr.
Langsam wanderten die, vom alter gefleckten Hände zu seiner Kehle... Tasteten nach der samt-blauen Kravatte und zupften den Armeeknoten gerade. Er atmete tief durch und konzentrierte sich.
"... Nun, verehrte Hörerinnen und Hörer, möchte ich euch einen besonderen Gast in unserer heutigen Diskussionsrunde vorstellen. Er ist nicht nur Autor, Philantroph und Mit-Herausgeber des Argylle Advertisers, sondern seit kurzem auch Acquisitor! Ladies und Gentlemen, ich begrüße Sir Barnabas van Kremp!
Dankesehr, Mister Phile, sehr liebenswürdig.
Ich bitte sie, nennen sie mich Trevor!
Trevor also, ehh... Sehr erfreut, sehr erfreut. Wohl war.
Sagen sie mir, Barnabas, ich darf sie doch so nennen? Beantworten sie unseren Zuhörern doch eine Frage, die uns alle in heutiger Zeit sofort in den Kopf schnellt, wenn wir den Namen Van Kremp in großen, geschwungenen Lettern auf unserer Morgenlektüre lesen. Wie kamen sie dazu, hinter die Mauer zu gehen?
Nun ehh... Mister Phil- ich meine Trevor. Verstehen sie mich bitte nicht falsch, ehh, ich hatte mein Leben lang nie wirklich einen Grund dazu, nach draußen ehh, sagen wir, zu blicken... Noch war es die, nun, die gemeine Wanderlust, die mich getroffen hat. Doch ein Mann, ehh, in meiner Position, nun... Wie soll ich sagen, ehh, ich bin einfach an einem Punkt in meinem Leben angelangt, ehh, da habe ich aus dem Fenster gesehen und mich gefragt, was sich dort, ehh, nun, was sich dort hinter unserem steinernen Horziont wirklich verbirgt. Auf dem Schoß die morgige Ausgabe des Advertisers, voll von Intrigen, Verrat, Krawall und Todschlag... Nun, ehh... Ich habe mich einfach gefragt, ob das hier Alles ist... Ehh, vielleicht wollte ich einfach die Not mit eigenen Augen sehen, die uns an diesem Ort häl-
Haha! Aber, aber, Barnabas – Sind sie sicher, dass es nicht doch der grause Geck, ich will sagen Wanderlust war, die euch diesen Schabernack eingeflüstert hat? Erlauben sie mir diesen Scherz, Barnie, wenn ich darf, ich darf doch od-"
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Er fixierte das Radiophon, mit seinem geschwungenen, blechernen Lautsprecher. Immer wieder hatte Agatha ihm geraten, das alte Teil doch durch eines der neuen Modelle zu ersetzen. So eines, wie jenes, welches sie bei den McBougles im Salon damals begutatchtet hatten. Das beständige Knistern trieb sie zur Weißglut. Doch er hatte bis zuletzt darauf bestanden. 'Sein Arbeitszimmer, seine Regeln' hatte er geschmunzelt.
Langsam wandte er sich um und betrachtete den erkalteten Leichnam seiner Frau auf dem samten, scharlachroten Sofa, auf dem sie so gerne gelesen hatte, während er 'seine Nase in Arbeit vergrub', wie sie immer zu sagen pflegte.
Ihr Gesicht von Entsetzen verzerrt; der Ausdruck für immer in erstarrten Muskeln festgehalten.
"-verstehen es nicht, glaube ich, Mister Trevor, ehh, ich meine Trevor. Ich habe mich einer formidablen Gesellschaft an Freiheitsläufern angeschlossen und bin, ehh, so wahr ich hier sitze, mit diesen Füßen hinaus. In den Staub, der alten Welt. Nun, ehh... Um zu verstehen.
Und was, Barnie, war das Beeindruckendste, das FURCHTERREGENDSTE, was sie erblickten?
Nun... Ich will meinen Schrecken nicht unter den Tisch kehren, ehh, der mich überkam, als ich die gigantischen Furchen gesehen habe, die unseren Mauergürtel von außen zieren. Und den Schauer, der mich kalt erwischte, als ich erkannte, ehh, dass es Klauenabdrücke waren!"
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Er schmeckte das dickflüssige Öl, welches in dicken Striemen von seinem Haupt tropfte und sich über seine Uniform ergoß... Roch den scharfen Duft des Nitroglycerins, welches das erhabene Bild seines alten, in dunklen Eichentönen gehaltene Arbeitszimmers benetzte.
Es musste das Feuer sein. Sein Körper musste vernichtet werden.
Es war der einzige Weg, dass seine Seele IHM nicht in die Hände fallen würde.
Denn ER war hierher unterwegs... Und schon bald würde die Stadt an ihrem eigenen Blut ertrinken.
"... Nun, ehh – Aber das war noch nicht mal das Grauenvollste! Trevor... Sie wollen wahrlich wissen, was die furchtbarste Entdeckung war, welche ich dort draußen, jenseits unserer Mauern, mit meinen eigenen Augen erblickt hatte?
Es war die eine Erkenntnis. Und die brennende Traurigkeit, welche sie, ehh, sprichwörtlich begleitete.
Denn Trevor; liebe Zuhörer: Ja. Es ist wahrlich Alles. Und es ist an uns, sich damit abzufinden.-"
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Die Flammen griffen um sich. Er schrie und weinte; klammerte sich an Agatha und küsste sie.
Das alte Radiophon begann unter der Hitze zu schmelzen.
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"Es ist unmöglich. Wir... Wir können nicht hinaus."