Als ihr den Marktplatz des Dorfes erreicht, hat sich bereits eine recht große Menge aus einigen Dutzend Menschen versammelt. Ragnar und Manik binden ihre Pferde an einem der Pfähle am Rand des Platzes an, bevor sie in die Menschenmenge eintauchen. Die Menschen blicken allesamt zum Ratsgebäude, dass im Nordosten des Marktplatzes steht und vor seinen Toren eine hölzerne Erhöhung hat - anscheinend ein Podium für Verkündungen.
Auf dem Podium seht ihr einen Mann Ende zwanzig stehen. Er hat zwei Schnitte am rechten Oberarm. Die Wunden sind noch frisch, wie ihr an dem noch nicht ganz geronnenen Blut erkennen könnt, doch sie scheinen nicht sehr tief zu sein. Allem Anschein nach ist er aus einer der Rancher-Familien des Dorfes. Er ist sehr aufgeregt und redet eindriglich auf einen formell in ein helles Hemd und einen langen Mantel gekleideten, älteren Mann ein. Es ist wohl der Bürgermeister des Dorfes.
Etwas Abseits der beiden steht eine weitere Gestalt - eine junge Frau mit kurzem, feurig rotem, gelockten Haar - auf dem Podium. Ihr erkennt deutlich die blaue Uniform des Ek'Gakeler Heeres unter dem Silber und Braun des Kettenhemdes und der Arm- und Bein-Platten samt Lederfutter. Das brandobische "F" am Kragen der Uniform und in größerer Ausführung auf der rechten Brust weisen die Kämpferin als Unteroffizier aus.
Endlich unterbricht der Bürgermeister die Worte des Mannes neben sich und wendet sich der Menge zu. Als die Menschen weiter durcheinander reden, hebt er beide Hände und ruft "Ruhe, bitte."
Da beruhigt sich die Menge und er fährt fort: "Ihr alle wisst, das wir - unsere Farmen und Landgüter, aber auch Karawanen die nach Dorwida unterwegs waren oder von uns fort - seit einigen Wochen immer wieder von dem Kargi-Stamm im Westen angegriffen werden! Auch heute Nacht hat es wieder einen Angriff gegeben. Sindal ist hier, um euch davon zu berichten."
Mit diesen Worten überlässt der Bürgermeister das Wort dem jüngeren Mann, der sofort zu sprechen beginnt. "Ihr kennt mich! Wir Darrens haben Dorwida mit aufgebaut. Mein Vater war zwanzig Jahre lang im Dorfrat. Jetzt liegt er im Bett und muss sein Bein kurieren. Ein Bolzen von einem der Kargi hat ihn erwischt, mögen diese grünen Monster alle verflucht sein.
Aber meine Brüder, unsere Arbeiter und ich habe die Bastarde zurückgeschlagen. Als sie gesehen haben, dass wir vorbereitet sind, sind die Feiglinge geflohen!"
Wieder erhebt sich Geschrei. Aufmunterungen, aber auch Glückwünsche zum Sieg sind zu hören, aber auch Verwünschungen für die Kargi und Gelächter über deren Feigheit. Da schallt die rissige Stimme eines alten Mannes durch die Menge.
"Was?" schreit Sindal Darren. Die Menge beruhigt sich und der alte Mann wiederholt seine Worte. "Ein Kargi verliert für gewöhnlich eher sein Leben, als seine Ehre. Das sind keine Feiglinge. Seid ihr denn sicher, dass es Kargi waren, die euch angriffen?" Während er spricht, tritt die Menge um ihn herum etwas auseinander und ihr erkennt einen Mann von über fünfzig Sommern mit schlohweißem Haar und einem grauen Vollbart. Seine dunklen Augen und die markante Stirn weisen auf Dejy-Blut hin, während die hohen Wangenknochen auf brandobische Abstammung schließen lassen. Sanjan erkennt in ihm Jaresh Dorguln, den ehemaligen Bürgermeister von Dorwida, dem er vor einem Jahr geholfen hat, als seine Nichte eine hartnäckige Kehlkopfentzündung hatte.
Sindal lacht auf dem Podium laut auf. "Das darf doch nicht wahr sein! Wie verrückt bist du, Jaresh? Ich weiß nicht, wie es um dein Augenlicht steht, aber ich und meine Sippe sehen gut. Das waren Kargi - ohne Zweifel. Frag meinen Vater, der mit einem von ihren Bolzen im Bett liegt. Und sie sind geflohen, wie Feiglinge!"
Wieder beginnt die Menge zu schreien, einige verhöhnen den alten Mann, andere dagegen sagen, man soll sich zurückhalten. Da schreitet der Bürgermeister wieder mit erhobenen Händen ein und beruhigt die Menge. "Na, na, na. Halte dich zurück, Sindal. Wir alle verstehen, dass du aufgewühlt bist, aber sei nicht so respektlos gegenüber Jaresh Dorguln. Er ist ein ehrbarer Mann, der schon viel für unser Dorf getan hat." Die Worte sind gut gewählt, klingen aber sehr gönnerhaft.
"Vielen Dank, Hiram", ruft Jaresh mit nicht zu überhörendem Sarkasmus.
"Aber natürlich", fährt der Bürgermeister fort. "Ich verstehe das, Jaresh. Immerhin hast du vor mehr als fünfzehn Jahren den Friedensvertrag zwischen Dorwida und den Kargi abgeschlossen. Ich weiß, dass du deren... Fürst, oder wie heißt es bei denen?"
"Gul", hilft Jaresh aus.
"Ah, ja, Gul. Ich weiß, dass du deren Gul kennst. Da muss es dir schwer fallen, zu glauben, dass die Kargi den Friedensvertrag gebrochen haben." Der Bürgermeister unterbrich seine Worte kurz und schaut zu der Offizierin hinüber. Diese stand bis dato unbeweglich mit hinter dem Rücken zusammengenommen Händen. Nun nickt sie ihm jedoch zu und gibt mit einer Handbewegung weiteren Männern in einer Seitengasse ein Zeichen.
"Und wir müssen auch ganz sicher sein, bevor wir etwas unternehmen", fährt der Bürgermeister fort. "Aber leider, Jaresh, sind wir uns nun ganz sicher."
In diesem Moment führen zwei weitere Soldaten des Heeres einen Kargi auf die Bühne. Wieder erhebt sich Geschrei und Tumult in der Menge. Einige Frauen schreien auf und wollen weglaufen. Männer beginnen dem Kargi Verwünschungen an den Kopf zu schreien. Ein Jugendlicher wirft mit einem Stein und trifft den Kargi an der Schulter. Der Hobgoblin zeigt dabei die Zähne und versucht sich für einen Augenblick von seinen Bewachern loszureißen. Es dauert nur Sekunden, dann nimmt er wieder eine ruhige Haltung ein und bedenkt die Menge mit einem eisigen Blick. Aber diese eine Sekunde reicht schon aus, um die ängstlichsten Kinder auseinanderstoben zu lassen.
Es dauert fast eine Minute, bis der Bürgermeister die Menge wieder beruhigen kann. Dann übergibt er das Wort an die Offizierin des Heeres - Lihana Ejdarn, wie er sie vorstellt. Diese spricht ruhig und sachlich. "Als wir von dem Angriff auf das Gut der Darrens hörten, nahmen wir sofort die Verfolgung der geflohenen Angreifer auf. Wir folgten ihrer wahrscheinlichen Route nach Westen zum nördlichen Elninawald. Sichtkontakt stellten wir unweit des Flusses Avendor her. Es waren drei Reiter - Kargi - klar innerhalb des Territoriums, dass laut Vertrag als neutrale Zone gekennzechnet ist. Einer der drei war verwundet. Als wir sie aufforderten, zu halten, griffen die Kargi uns an. Einer von Ihnen starb am Ort des Kampfes. Einer konnte entkommen. Den dritten haben wir gefangengenommen."
Die Menge johlt bei den letzten Worten auf. Weitere Steine und verfaultes Obst fliegen auf die Bühne, doch nachdem in erster Linie die Soldaten getroffen, werden, die den Kargi halten, bringt der Bürgermeister die Menge abermals zur Ruhe.
Da meldet sich wieder Jaresh Dorguln zu Wort. "Und gibt es irgendwelche Beweise dafür, dass diese Kargi zum Stamm der Ukhtark gehören? Vielleicht ist das eine marodierende Gruppe."
Seine Worte gehen in Buhrufen unter. Ein jüngerer Mann in teurem Ledermantel und neuen Wildlederstiefeln schreit. "Nun hör aber auf, Onkel! Deine Versuche, diese Wilden zu verteidigen, werden immer peinlicher."
Diesmal beruhigt die Offizierin die Menge mit erhobenen Händen. "Leider gibt es auch dafür Beweise", sagt sie ruhig. Ein weiterer Soldat kommt hoch und schmeißt einige Sachen vor sich und für alle sichtbar auf das Podium. Es ist ein Schmuckstück, wahrscheinlich ein Halsanhänger, ein Breitschwert und ein hölzernen Rundschild mit der Sillhoutte eines weißen Habichts darauf. Anscheinend ist der weiße Habicht das Zeichen des Ukhtark-Stammes, denn während Jaresh die Zähne zusammenbeißt und einen Kloß herunterschluckt, johlt die Menge wieder auf.
Abermals beruhigt der Bürgermeister sie und sagt. "Damit haben wir Klarheit über unseren Feind. Lihana Ejdarn und die Soldaten des Heeres werden schon morgen damit beginnen, das Vorgehen gegen die Kargi zu planen. Ich habe bereits Herolde nach Rabuselido und in andere Städte geschickt, um Söldner zu uns zu bitten. Vielleicht sind einige schon hier", dabei bleibt der Blick des Bürgermeisters kurz auf Manik und Ragnar haften, die aufgrund ihrer Abstammung und der imposanten Statur aus der Menge herausragen. "Ich würde alle bitten, die Interesse haben, für gutes Geld uns zu helfen, uns von dieser Plage zu befreien, morgen früh hier an gleicher Stelle zu sein und sich bei mir und Offizier Ejdarn einzutragen."
"Was ist mit dem Kargi?", fragt Jaresh durch die Rufe der Menge, und alle verstummen plötzlich.
Der Bürgermeister sieht verwundert aus. "Was soll mit ihm sein? Er wird morgen hingerichtet."
Wieder will die Menge aufjohlen, doch sie wird von Jaresh unterbrochen. "Das geht nicht, Hiram, und das weißt du. Wir können hier niemanden hinrichten, ohne einen ordentlichen Prozess - das ist Gesetz. Du warst im Stadtrat, als wir es verabschiedet haben."
Die Menge murrt unwillig. Hiram verzieht das Gesicht. "Unser Richter wird erst in einer Woche zurückerwartet", sagt er trocken.
"Dann bleibt der Kargi eben eine Woche lang in der Zelle unseres Scheriffs, bis ihm der Prozess gemacht werden kann", antwortet Jaresh mit einem verschmitzten Lächeln. "Ich denke, Scheriff Gelspad hat nichts dagegen."
"Allerdings nicht", antwortet ein drahtiger Mann, der sich seitlich in der Menschenansammlung aufgehalten und bis dato ruhig verhalten hat, trocken. "Gesetz ist Gesetz - ich nehme den Gefangenen in Gewahrsam."
Die Menge ist unzufrieden, und der Bürgermeister allem Anschein nach auch - allerdings widersetzt sich niemand dem Scheriff, als dieser den Gefangenen mit Hilfe der Soldaten in sein Revier führt. Der Bürgermeister weist noch einmal darauf hin, dass am nächsten Morgen am gleichen Ort Söldner angeworben werden sollen. Danach beginnt sich die Menge langsam zu zerstreuen.