Als Sanjan und Tarqetik den Soldaten die Erlaubnis erteilen, ins Wageninnere zu schauen, deutet der Anführer der kleinen Gruppe zweien seiner Männer an, dem nachzukommen. Die beiden kommen vor. Einer legt die Hand auf den Knauf seines Schwertes, während der andere den Vorhang des Wagenzelts zur Seite zieht.
Trübes Licht fällt durch den Spalt im Vorhang ins Innere; Bosol liegt weiterhin auf den Fellen. Der Verband an Schulter und Brust ist dank Sanjans Bemühungen frisch. Der Mann scheint eingenickt zu sein. Kirus neben ihm schaut zu den Soldaten auf. "
Alô", sagt der Junge - Sanjan erkennt den örtlichen Dialekt des Defohi-Stammes. Anscheinend ist der Junge so nervös, dass er unbewusst zu seiner Muttersprache gewechselt ist, anstelle seinen Gruß in der Handelssprache vorzubringen. Der Defohi-Dialekt ist nah am Sprech der Bahir, so dass der Schamane sich mit dem Jungen, wenn nötig, auch in der eigenen Zunge unterhalten könnte. Kurz keimt bei ihm die Frage auf, warum ein so starker und zahlenmäßig großer Stamm, der derzeit auch einige Spannungen mit der sesshaften gakelitischen Bevölkerung durchmacht, diesen Jungen nicht in seinen Schoß zurückholt, doch die aktuellen Ereignisse lassen keinen Raum, diesen Gedanken weiterzudenken.
Der Schamane sieht, dass Kirus Fingerknöchel und Kuppen weiß schimmern. Der Junge ist angespannt und versucht es so gut wie möglich zu verbergen. Zum Glück scheinen die Soldaten das nicht zu bemerken. "
Alles in Ordnung bei euch?, fragt der Mann, der die Zeltplane zur Seite gezogen hat.
Der Dejy schluckt einen Klos herunter und antwortet. "
Ja - alles in Ordnung. Bosol ist verletzt, wir wollen ihn in Dorwida verarzten lassen."
Der Soldat schaut noch einmal ins Zeltinnere und begutachtet den Rest der Einrichtung, ohne etwas verdächtiges zu erkennen. Dann sieht er fragend zu seinem Kameraden hinüber. Als auch dieser mit einem Kopfschütteln verneint, lässt er die Plane sinken.
In all dieser Zeit hat Barkas noch kein Wort gesprochen. Er sitzt schräg hinter Basilio und Sanjan auf seinem Ross. Anscheinend haben Tarqetiks imposante Erscheinung und der Wagen an sich die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich gezogen. Als dann noch der Koraker und Sanjan gesprochen haben, haben sich die Augen der Männer vollständig von Barkas und Elrynor abgewandt.
Als Basilio dann aber anfängt zu sprechen und auf Barkas hinweist, geht ein Rauhnen durch die Reihen. Stahl klirrt, als drei Schwerter aus den Scheiden gezogen werden, und verschreckt die Pferde, so dass sich Tarqetiks und Basilios reittiere sogar aufbäumen. Der Hauptmann - der Koraker erkennt den Rang des Mannes - ist einer von denen, die die Klinge gezogen haben.
"
Bei den Göttern!", ruft er. Zwei andere Männer legen Pfeile an die Sehnen und spannen die Bögen. Einen Augenblick lang scheint es, als würde der Trupp zum Angriff übergehen. Doch dann beweist der Hauptmann, dass man ihn wohl nicht umsonst zu einem solchen ernannt hat.
Nachdem der erste Schock überwunden ist, senkt er die Rechte mit der Klinge wieder ab und hebt die Linke beschwichtigend in Richtung seiner Männer hinter ihm. "
Was bei den Feuern von Tartaros hat das zu bedeuten? Sprecht schnell!"
Und der Kargi antwortet, bevor einer der anderen Gefährten etwas sagen kann. "
Ich bin Barkas, Sohn des Hulad - Hirogul der Ukhtark", ruft er mit fester und rauchiger Stimme - einer Stimme, die Menschen, die ihn als Feind einschätzen, vor Furcht die Nackenhaare aufstellen muss. Während er spricht, treibt er sein Pferd an und reitet zwischen Basilio und Sanjan hindurch mit erhobenem Kopf, aber ohne Eile in die erste Reihe, so als wolle er sich den Männern besser zeigen. Wenn das als beschwichtigende Geste gemeint war, so könnte sie durchaus auch als ungewollte Drohung enden, geht es da seinen Gefährten durch den Kopf. Die wulstigen Muskeln an breiter Brust und mächtigen Schultern schimmern in der Sonne, die Hauer blitzen im Schein auf wie weißes Gold. Und natürlich sind da die orangeroten Augen.
Basilio sieht das alles, doch entgegen aller Logik bleiben seine Gedanken für einen Augenblick an nur einem Wort hängen. Der Koraker erinnert sich an den Terminus aus seinem Sprachunterricht. Während
Serogul für "Kronprinz" in der Sprache der Kargi steht und die Bezeichnung stets dem ältesten Sohn des Guls zukommt, ist
Hirogul die Bezeichnung für alle anderen, jüngeren Söhne des Hauses. In gewisser Weise auch eine Bezeichnung für ihn selbst.
Seine Ausbilder hielten es für wichtig, dass die Kadetten diese Termini kennen. Immerhin waren Söhne des Guls stets lohnenswerte Ziele - es konnte nicht schaden, ihren Titel beim Lauschen feindlicher Rufe oder dem Lesen feindlicher Depeschen schnell zu erkennen.
Nun bot sich einer dieser Männer freiwillig den Menschen an. Mago hätte wahrscheinlich passendere Worte gefunden. Er hätte nicht so grimmig geblickt, wie sein jüngerer Bruder eben gerade. Vielleicht wäre er gleich vorgeritten, damit seine Entdeckung keinen Staub aufwirbelt. Und er wäre sich seiner einschüchternden Erscheinung bewusst gewesen. Aber Mago war nicht hier. Und Barkas gab sein Bestes. Er blieb wie versprochen ruhig und besonnen: "
Ich bin hier, um meinen Waffenbruder, den die Menschen von Dorwida gefangen halten, zurückzufordern. Und um euch auszurichten, dass die Ukhtark keinen Streit mit den Menschen dieses Landstrichs suchen. Wir haben euch nicht angegriffen. Lasst uns durch."
* * *
Manik beobachtet die Szene aus knapp hundert Fuß Entfernung. Es grenzt an ein Wunder, dass die Wachen ihn nicht bemerkt haben - für seine Verhältnisse war er nicht besonders leise gewesen. Aber gegen einen ehemaligen Gladiator in Drohlaune, einen Wagen samt Insassen und einen Kargi verblasst wohl jeder periphere Eindruck.
Gerade will der Fhokki ruhig durchatmen, als ihn eine sanfte Stimme über und leicht hinter ihm wie ein Blitz trifft. "
Hallo, guter Mann."
Überrascht reißt der Waldläufer den Kopf nach oben, um die Quelle auszumachen. Zunächst ist nichts zu sehen. Die Sonne scheint durch das Blätterwerk und kreiert ein unregelmäßiges Schwarzweißmuster, das in den Augen brennt - dann erkennt er eine Verdickung und hört ein Kichern. Eine Sekunde später landet eine kleine Gestalt neben einem der Baumstämme auf dem Laub.
"
Sachte, sachte", sagt das Mädchen - es scheint ein Kind zu sein. "
Ich will ja nicht, dass du mich in deiner Aufregung erschießt. Für einen Jäger machst du beim Herumschleichen ziemlich viel Lärm. Aber der alte Mann scheint wohl auf das richtige Pferd gesetzt zu haben, als er euch vor einer knappen Woche angeheuert hat. Ich muss gestehen, als ich euch in der Taverne aufgegabelt habe, hatte ich selbst wenig Hoffnung, aber ich konnte Jaresh die Bitte einfach nicht abschlagen."
Sie deutet mit dem Finger in Richtung Dorwida. "
Die Verhandlung über den Kargi beginnt wohl in ungefähr einer Stunde. Der Richter ist zwei Tage früher zurückgekehrt, deswegen wurde sie vorgezogen. Jaresh ist vor Ort - er hat mich gebeten, hier nach euch Ausschau zu halten und euch mit den Wachen zu helfen, falls ihr auftaucht - jede Minute könnte zählen."
Da fällt es Manik endlich wie Schuppen von den Augen. Vor ihm steht Jemma - der Halbling, der ihn, Ragnar und Tarqetik in der Taverne von Dorwida angeheuert hatte. Nur fünf oder sechs Tage sind vergangen, aber ihm kommt es so vor, als wäre es vor einer Ewigkeit gewesen - so viel ist in der Zwischenzeit passiert.
Jemma lächelt wieder ihr schelmisches Lächeln, an dass er sich noch gut erinnern kann. "
Wenn ich den großen, grünen Muskelprotz da betrachte, scheint ihr ja Erfolg gehabt zu haben. Nur den armen Hrajr und seine Männer packt ihr irgendwie falsch an. Erst Bedrohen, dann Anlügen und jetzt fordert auch noch ein Kargi unverblühmt Einlass in die Stadt. Warum habt ihr es nicht mit "Wir sind im Auftrag von Jaresh Dorglun unterwegs und haben wichtige Neuigkeiten für den Bürgermeister Hiram Sulu und die Offizierin Lihana Ejdarn" versucht? Ich meine, ich habe ja selbst ein gesundes Misstrauen gegenüber der Wahrheit, aber ab und an als Ausnahme kann man doch bei der bleiben."