Es war dunkel. Arjen dachte dabei nicht nur an die Dunkelheit der Nacht, nein, sondern an die in seinem Inneren. Er hätte inzwischen längst tot sein sollen. Hingerichtet dafür, dass er den Mörder seiner Familie hingerichtet hatte. Getötet. Befreit.
Stattdessen war, wenige Stunden, bevor es soweit sein sollte, irgendetwas passiert. Ein Angriff auf das Gefängnis, so dachte er zumindest zuerst. Die Wachen erzählten etwas von Nekromanten, schienen sich ihrer Sache aber auch nicht ganz sicher. Sie zogen sich aus ihren Bereichen zurück, bis in die Zellentrakte - so weit waren die Feinde schon fortgeschritten. Sie ließen die weniger gefährlichen Gefangenen frei - einfach so, sie legten ihnen nicht einmal Ketten an!
Drei Männer blieben in den Zellen. Ein Mann namens Viskrot, ein Frauenschänder, der mehr als zwei Dutzend junge Mädchen auf dem Gewissen hatte. Er sollte am gleichen Tag hingerichtet werden wie Arjen. Tungok, ein Bauernjunge, den man verdächtigte, einen Jungen aus seiner Bauernschaft getötet zu haben - der aber wohl aus Mangel an Beweisen freikommen würde. Und Arjen.
Der Wachmann vor ihm hatte ihn mit zweifelndem Blick angesehen. Rennock war sein Name. Er war einer der Wenigen, die Arjen gut behandelt hatten, hatte ihn sogar mitfühlend angesehen, wann immer er ihn gesehen hatte. Fast, als würde er ahnen, dass mit Arjens Fall etwas nicht stimmte. Er kam zur Zellentür, und sah Arjen fest in die Augen. "Da draußen sind wandelnde Tote, und zwar viele von denen. Zwei Dinge, Arjen. Ich will dich hier nicht verrecken lassen, und wir hier können so viel Unterstützung brauchen wie möglich. Wenn ich dich also rauslasse... gib mir dein Wort, dass du mit uns kämpfst, nicht gegen uns."
Arjen hatte einen Moment überlegt, und dann genickt. Nach dem, was Rennock erzählte, waren die Aussichten, zu sterben, ziemlich gut. Vielleicht ein besserer Tod als der durch einen Henker.
Viskrot trat an die Zellentür. "Hey, und was ist mit mir? Ich will hier drin auch nicht verrecken! Lass mich auch helfen."
Rennock sah ihn an. Er öffnete Arjens Tür, gab Arjen ein Schwert in die Hand und schritt dann zu Tungoks Tür. Er schloss sie auf, behielt aber Viskrot im Auge. "Komm raus, Junge. Du bist wahrscheinlich sowieso unschuldig. Lauf, versuch, aus der Stadt zu kommen!"
Der Junge zögerte keinen Moment. Er war verschwunden, noch bevor Rennock vor Viskrots Tür stand. Der Wachmann sah ihm tief in die Augen. "Wenn diese Monster hier hereinkommen, Viskrot... ich werde sie persönlich zu dir in die Zelle lassen. Und was auch immer sie mit dir tun, wird noch viel besser sein als alles, was du verdient hast."
Als sie dann wirklich kamen - und Rennock hatte nicht übertrieben, es waren Dutzende! - verteidigte der Wachmann seinen Gefangenen, so gut er konnte. Bei allem Hass konnte er wohl doch nicht aus seiner Haut. Bis zu dem Moment, an dem er von einer der Kreaturen in den Arm gebissen wurde. Sekunden später hatte er sich ebenfalls in einen Untoten verwandelt - und Viskrot, der gerade einer der wandelnden Leichen den Kopf gegen die Gitterstäbe geschlagen hatte, einfach in den Hals gebissen.
Der Moment, als er Viskrots Blut spritzen sah, war der Moment, in dem Arjen floh. Und seit dem tat er nichts anderes mehr.
Er hatte keine Ahnung, was eigentlich mit der Stadt passiert war. Sie war überrannt worden, aber wer dafür verantwortlich war, oder ob es noch weitere Überlebende gab... sicher, Arjen hatte noch andere Leute gesehen. Aber entweder hatte er sie nur in der Ferne flüchten sehen, oder er hatte ihren Tod mit ansehen müssen. So viele waren gestorben...
Arjen versteckte sich, eine Nacht und einen Tag lang. Er kämpfte nur, wenn er es musste. Er hatte genug gesehen, um zu begreifen, dass diese Monstren einen nicht auf die übliche Weise umbringen mussten, um einem das Leben zu nehmen. Ein Biss, so klein er auch sein mochte, reichte aus. Und so bereit Arjen auch für den Tod war, ganz bestimmt war er nicht dafür bereit, seine Existenz als geistloser wandelnder Toter in alle Ewigkeit fortzuführen.
Irgendwann hatte er sich auf die Suche gemacht. Er konnte nicht immer nur fliehen, von einem Ort zum nächsten. Er brauchte einen sicheren Unterschlupf, etwas, wo er etwas länger bleiben konnte. Und so zog er durch die Stadt, suchte nach in Frage kommenden Gebäuden, und erkundete die Umgebung. Am Ende fiel seine Wahl auf ein kleines Amphitheater. Er hatte zwar einmal seltsame Geräusche in der Nähe gehört, aber bei den Göttern: Wo hörte man das in der Stadt nicht im Moment? Und er war sich nicht einmal sicher, dass sie überhaupt aus dem Theater kamen.
Schließlich suchte er in den umliegenden Häusern nach einer Leiter, die hoch genug war, um die acht Meter hohe Mauer des Theaters zu erklimmen. Er stieg hoch, zog die Leiter wieder nach oben, und... ja, und dann hatte er ihn gesehen. Einen einzelnen Mann, auf der Flucht vor einer großen Horde Untoter. Es war knapp, aber er hatte es geschafft, ihn zu retten.
Das war gestern abend gewesen. Im Theater hatten sie zwei Betten entdeckt, ein Bühnenbild. So weich hatte Arjen schon lange nicht mehr geschlafen... oder jemals? Sie hatten noch zwei der Untoten erledigt, die es irgendwie in das Theater geschafft hatten (oder waren sie schon drin gewesen, und hatten sich dort verwandelt?). Danach hatten sie nur noch eine kurze Runde gemacht, um sicherzugehen, dass ihnen keine Gefahr drohte. Minuten später waren sie vor Erschöpfung eingeschlafen, alle beide.
Es war der nächste Morgen, und Arjen lag schon einige Minuten wach. Er spürte die Wärme der Sonne auf seiner Haut. Er lag dort, unter freiem Himmel in einem weichen Bett, anstatt am Strick zu baumeln. Doch Will, der Fremde, den er gerettet hatte, schrie plötzlich auf! Arjen sah zu ihm - nur ein Alptraum oder war irgendetwas passiert?