Zu Gast bei Familie ChangUnd zu Harry sagte die Polizistin:
"Shut up!" Was dieser auch tat. Sie nickte zufrieden.
"Chang Jiang-Li", sagte sie.
"Folgt mir."Und so führte die Polizistin mit den goldenen Augen Henry und Harry ein ganzes Stück von der Unfallstelle entfernt zu einer kleinen schwarzen Limousine, bei deren Anblick Harry die (bernsteinfarbenen) Augen übergingen, ganz zu schweigen von der Kinnlade, die ihm auf die Brust fiel, und den Beinen, die nicht mehr weiter wollten, weil seine Knie plötzlich butterweich waren...
[1]Henry begriff die Welt nicht mehr: sie hatten sich in eine Schlägerei zwischen Polizei und jugendlichen Aufrührern verwickeln lassen, waren von der Polizei folgerichtig—was, verhaftet?—worden, hatten einen Unfall gehabt, an dem Harry irgendwie schuld war, ein weiterer Mensch war vor ihren Augen verschwunden, sie selbst könnten auch jeden Augenblick in sonst eine fremde Dimension entrissen werden—und Harry starrte dieses seltsame Kutschengefährt an, als tanzten zehn nackte Weiber vor ihm.
(Woher dieser Vergleich kam, noch dazu in einem derart gehässigem Unterton, konnte Henry sich nicht erklären. Er verdrängte ihn schnell.)
Harry hatte derweil zwei Schritte auf das Auto zugetan. Und noch zwei. Und abermals. Dann war er heran.
"May I?" fragte er schüchtern, eine Hand in Richtung des vorderen Kotflügels erhoben.
"I'll be gentle..."Chang Jiang-Li zuckte mit den Achseln und schaute sich nach ihrem Partner um, der beim Unfallwagen zurückgeblieben war, um sich von den Streifenpolizisten noch kurz den Hergang schildern zu lassen.
Harry strich erst mit der einen Hand sanft über den Kotflügel, dann mit beiden, wobei er leise Laute der Wollust ausstieß. Viel zu schnell war Changs Kollege da und Harry wurde angeherrscht, doch endlich einzusteigen. Fast noch schwieriger allerdings, war Henry dazu zu überreden, noch einmal in ein solches Höllengefährt einzusteigen, bis Harry ihm schließlich versicherte:
"Du brauchst dir echt keine Sorgen zu machen. Das ist ein vintage car. Völlig ohne Elektronik! Baujahr, was, '55? '52?""'51", sagte die Jiang-Li, gab Henry noch einen leichten Schubs und schlug die Tür hinter ihnen zu.
Die AnkunftDas Anwesen der Familie Chang lag am äußersten Rand des Regierungsviertels. Es war von einem 5m hohen Zaun mit Stacheldrahtzinne und einem 100m breiten Rasenstreifen umgeben, auf welchem Wach- und Dobermänner patrouillierten. Ansonsten war es aber ein gewöhnliches, neunstöckiges Wohnhochhaus, das von außen sogar eher den Flair "gehobener Sozialbau" ausstrahlte. Von Innen wiederum sah die Sache völlig anders aus.
Die Eingangshalle, die Henry und Harry im Gefolge von Chang Jiang-Li betraten, war holzgetäfelt, ebenso der breite Flur, der geradewegs in die Mitte des Gebäudes führte, wo sich eine enorme Wendeltreppe in die Höhe wand. Als sie diese erreichten, stand beiden bereits der Mund vor Staunen offen. Die chinesischen Schriftzeichen, die als Intarsien im Treppenhaus wie in der Eingangshalle rundum und im Flur auf ganzer Länge und zu beiden Seiten in den Wanden eingelassen waren: konnte das alles echtes Gold sein? Die Drachenstatuen etwa auch, die jeden Torbogen flankierten? Und deren Augen: waren das echte Smaragde?
Jiang-Li führte die beiden die Wendeltreppe hoch und erklärte dabei, dass sich auf jedem Stock außer dem vierten und den beiden obersten jeweils fünf Wohnungen—alle bis auf drei zurzeit belegt von diversen Familienmitgliedern—und ebensoviele Gästezimmer befänden. Das Gebäude besaß offenbar einen pentagonförmigen Grundriss. Harry spürte sofort, dass die magischen Ströme hier besonders harmonisch flossen, man konnte schon sagen: in wohlgeordneten Bahnen verliefen. Auf dem vierten Stock legte Jiang-Li eine Pause ein, ihren schnaufenden Gästen zuliebe. Also gut: dem schnaufenden Harry zuliebe.
"Hier befindet sich die Bibliothek", erklärte Jiang-Li,
"sowie Klassenräume und ein kleines Kino mit abgeschirmtem Projektor, das täglich drei Vorstellungen zeigt. Wünsche bitte dort auf der Liste eintragen."Was immer ein 'Kino' und ein 'abgeschirmter Projektor' sind, dachte Henry, aber Harrys nächster Kommentar klärte dies auf.
"Da kannst du zum Beispiel Deine Lieblingsstücke von Shakespeare eintragen."Aha. Kino ist wohl die heutige Variante von Theater. Ich erinnere mich, dass Harry so etwas mal erwähnt hatte—vor drei Jahren."Vielleicht ebenfalls für Euch von Interesse", fuhr Jiang-Li fort, und zwar mit Blick auf Harry, der noch immer nicht ganz bei Atem war,
"wären die Gemeinschaftsräume im Keller. Dort finden sich ein Fitnessraum, Schwimmbad, sowie verschiedene Sport- und Kampfsportarenen, von Tischtennis über Volleyball bis hin zur Kegelbahn." Bei letzterem rümpfte sie ein wenig die Nase.
"Im Prinzip habt Ihr überall Zugang. Nur die beiden obersten Stockwerke sind für Euch Tabu, und zwar bei Todesstrafe." Das sagte sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Dann ging's weiter in den siebten Stock hinauf, wo Henry und Harry dankbar die beiden Zimmer, die Jiang-Li ihnen gleich bei der Treppe zuwies, in Beschlag nahmen. (Sie wagten es kaum, die Treppe hinaufzuschielen, die in das achte und somit schon verbotene Stockwerk führte.) Ihre Zimmer waren relativ groß, etwa fünf auf fünf Schritt. Ebenso dankbar nahmen sie auch Jiang-Lis Einladung an, ihnen das zentrale Badezimmer des Stockwerks zu zeigen, "falls Ihr Euch erst einmal frisch machen wollt."
In dem riesigen, türkis-gold-grün gekachelten Badezimmer waren rundum verschiedenste Düsen und Duschköpfe an der Wand angebracht, die Armaturen allesamt aus Gold, während in der Mitte verschieden große Becken wahlweise zum Schaumbad oder zum Schlammbad einluden. Jiang-Li versorgte die beiden noch mit Seife, Handtüchern und Bademänteln und empfahl ihnen, Rüstung und Kleidung einfach liegen zu lassen, es kümmere sich jemand um deren Reinigung. Dann zog sie sich zurück, ein späteres Gespräch in ihrem "Salon" in Aussicht stellend.
Henry und Harry sahen sich einen Augenblick lang sprachlos an, dann grinsten sie.
"Pass nur auf, es könnte alles ein wenig zu heiß für dich eingestellt sein", warnte Harry den Freund und zeigte ihm, wie er die Temperatur herunterregeln konnte.
Tatsächlich war Henry schon aufgefallen, dass es in diesem Gebäude allgemein eher unangenehm warm war, bestimmt ebenso warm wie draußen in der Sommerhitze, was man von einem großen Steingebäude wie diesem ja nicht erwarten würde. Harrys Tip erwies sich dann auch als goldrichtig; Henry musste den Hebel ordentlich in Richtung "Blau" verstellen, damit er die Wassertemperatur ertrug. Harry dagegen stellte sich einfach so unter den Strahl, obwohl das Wasser derart heiß war, dass es Harry trotz der hohen Zimmertemperatur in eine Nebelwolke hüllte.
Aber wenn Henry dachte, das alles wäre schon sehr merkwürdig, so sollte der eigentliche Schock erst noch kommen. Die beiden hatten soeben fertiggeduscht und waren dabei, sich abzutrocknen, da betrat eine Traube aus fünf jungen Mädchen den Raum, entledigten sich ihrer Bademäntel völlig ohne Scham—wohl aber mit neugierigen Blicken in Richtung der Gäste und auch einigem Kichern—und gingen dann ihren diversen Badevergnügen nach. Ob Harry dabei auch rot wurde, ließ sich nicht feststellen—durch das heiße Wasser war er am ganzen Körper krebsrot—jedenfalls warf er sich ebenso eilig in seinen Bademantel wie Henry und verließ das Zimmer nur einen Schritt hinter ihm.
Tee und PlätzchenJiang-Lis Salon strahlte, wie der Rest des Hauses, eine fernöstliche Atmosphäre aus: spärlich möbliert, niedrige Esstische mit Sitzkissen davor, mit Seidenstoffen bespannte Raumteiler, Zimmerbambus und Bonsaibäumchen, große Fenster, und überall standen Figürchen aus bemaltem Porzellan und Statuetten aus Gold oder Jade herum, die manchmal Menschen, manchmal Drachen, manchmal etwas dazwischen darstellten.
Das Gespräch mit der Gastgeberin verlief relativ angenehm—fand Henry. Außer ihr war nur noch ein weiterer Bruder, den sie als Guan-Yin vorstellte, und ihr Vater Chang Yan-Tao anwesend. Anders als die sehr authentisch chinesische Inneneinrichtung waren die drei Changs, sowohl in ihren Gesichtszügen als auch der Wahl ihrer Kleidung, von eher gemischtem Aussehen: halb europäisch, halb asiatisch. Guan-Yin war sogar blond, auch wenn er eine blau-gelbe Seidenrobe trug, deren Ärmel bis zum Boden reichten, und dazu, als einziges Zugeständnis an den westlichen Dresscode, eine weiße Krawatte (mit diamantbesetzter Krawattennadel).
Man plauderte zunächst über dies und das, bis Henry sich immer mehr entspannte und auch Harry, dessen erste Reaktion, als er sich plötzlich mit drei Changs in einem Zimmer konfrontiert sah, ein erneuter "Katzenbuckel" war, konnte dazu überredet werden, mit einer Pobacke auf dem vordersten Ende des Sessels gleich neben der Tür Platz zu nehmen.
Es gab Ingwerplätzchen zu Jasmintee. Harry nippte nur am Tee und biss einmal in ein Plätzchen. Henry langte zumindest bei dem Backwerk ordentlich zu und lobte es vielmals, was mit viel Lächeln aufgenommen wurde und den bescheidensten Beteuerungen, dies sei leider noch gar nichts im Vergleich zu den Plätzchen von Urgroßmutter Wei-wei.
Dann kam das Gespräch auf das Wie, Woher und Warum. Woher kamen sie? Was wollten Harry und Henry in Berlin? Wie lange würden sie bleiben? Wie waren sie hierhergekommen? Auf all diese Fragen antwortete Harry erstaunlich freimütig und direkt, worauf Henry, sich auf Harrys Instinkt verlassend, ebenso freimütig von seiner Zeit auf Sankturio erzählte. Die drei Changs waren exzellente Zuhörer, wussten aber leider auch keine neuen Erkenntnisse beizusteuern, was da wohl mit den beiden geschah.
"Da müsstet Ihr Euch an Sima Qian wenden", sagte Vater Chang Yan-Tao.
"Wenn einer etwas darüber wissen könnte, dann er. Er spricht allerdings nicht mit jedem. Aber vielleicht habt Ihr Glück und er interessiert sich für Euch und Eure Geschichte. Ich werde ihn, wenn Ihr erlaubt, bei nächster Gelegenheit darauf ansprechen."Zum Schluss bot er ihnen noch die Gastfreundschaft der gesamten Familie auf, so schien es, unbegrenzte Zeit an.
"Ihr dürft so lange bei uns als verehrte Gäste wohnen, wie Eure Geschäfte Euch in Berlin halten. Fühlt Euch bei uns ganz wie zuhause."Jiang-Li übersetzte, was ihr Vater wirklich damit meinte:
"Entweder, Ihr logiert hier bei uns, wo wir ihn im Auge behalten können", mit einem Kopfnicken bedeutete sie Harry,
"oder Ihr verschwindet aus unserer Stadt."Henry, dem Harrys seltsames Gebaren seit der Szene am Fluss allmählich zu viel wurde, fragte leicht gereizt:
"Würde endlich mal einer die Güte besitzen, mir zu erklären, was hier eigentlich los ist?""Wir mögen keine Roten", sagte Guan-Yin.
Harry entblößte nur die Zähne.
Ein Tag in der Vergangenheit"Lass mich sehen, ob ich das richtig verstehe", eröffnete Henry am nächsten Morgen das Frühstücksgespräch in der Gästeküche.
"Es geht hier um rivalisierende Zaubererclans. Die Changs nennen sich die 'goldenen Drachen' und deine Familie, die Marcones, nennen sich die 'roten Drachen' und aus irgendeinem Grund, der so weit zurückliegt, dass sich kein Lebender mehr daran erinnert, seid ihr Erzfeinde?""Hm, ja, so ungefähr", sagte Harry zwischen zwei Löffelvoll von etwas, das er "fruit loops" nannte, das aber keinerlei Früchte enthielt.
"Wobei 'Erzfeinde' jetzt übertrieben wäre. Wir können uns einfach nicht riechen. Deshalb haben wir die Welt unter uns aufgeteilt, und so lange wir Roten in Amerika bleiben und die Goldenen in China, ist alles OK. Obwohl Europa zu meiner Zeit auch noch 'zu uns' gehörte. Ich wüsste wirklich zu gern, was da passiert ist."Dass Harry damit mehr als nur die uralte, halb vergessene Fehde zwischen goldenen und roten "Drachen" meinte, sondern vielmehr an das dachte, was er in der Seele des jugendlichen Aufrührers am Fluss gesehen hatte, erkannte Henry (der im Bilde war) an Harrys entsetzt-besorgter Miene.
"Dann lass uns die Bibliothek hier im Haus ausprobieren und es herausfinden", sagte Henry entschlossen.
"Ich habe ja auch noch an die 430 Jahre irische Geschichte aufzuholen.""Und all die Shakespeare Werke, die dieser nach Deinem Sphärensprung geschrieben hat!" sagte Harry, dankbar dafür, dass der Freund das Offensichtliche vorschlug, was er selbst womöglich noch Tage hinausgezögert hätte—aus Angst vor der Wahrheit. Er beeilte sich mit seinen fruit loops.
Die Bibliothek im vierten Stock war gewaltig. Sie nahm fast das halbe Stockwerk ein, war dabei aber ein einziger Raum, von Marmorsäulen gestützt, mit deckenhohen Bücherregalen gefüllt. Dazwischen gab es immer wieder kleine Sitzgruppen mit Pulten, an denen aber zurzeit niemand saß. Ihre Schritte wurden von dicken Teppichen gedämpft, während ihre Blicke von den kristallenen Kronleuchtern angezogen wurden, die einer Staatsoper oder eines Königspalastes würdig gewesen wären und die ohne Strom (den gab es im ganzen Haus nicht) und ohne Kerzen strahlten. Natürlich standen auch wieder goldene Drachenstatuen herum, viele kleine und eine gewaltige in der Mitte des Raumes, letztere mit Rubinaugen und Diamantzähnen und diversen anderen Edelsteinen am Leib.
Und es gab bestimmte eine Millionen Bücher. Aber keinen Index und keinen Bibliothekar. Die Gänge und Regale waren nur numeriert (in chinesisch noch dazu), und trugen keinerlei Hinweise auf die Themen. Nachdem die beiden eine Weile ratlos umhergeirrt waren, wandte Harry sich einfach an den einzigen Anwesenden, der sich außer ihnen hier befand: die riesige Drachenstatue.
"Ehrwürdiger Meister", sagte er auf Drakonisch.
"Wir suchen Werke zur irischen Geschichte der letzten vierhundert Jahre und zur amerikanischen der letzten 30 Jahre, und nicht zu vergessen: ein Gesamtwerk von Shakespeare."Die Drachenaugen leuchteten auf, der Mund mit den Diamantzähnen bewegte sich und auch sonst sah die Statue auf einmal verstörend lebendig aus, als sie den beiden in einer tiefen, sonoren Stimme und auf Englisch, wenn auch mit chinesischem Akzent, die Gänge und Regalfächer benannte, in denen sie fündig würden.
"I thank you most humbly, revered master", sagte Harry.
"Your Resplendence", korrigierte der Drache.
"I beg your forgiveness, your Resplendence", sagte Harry.
Worauf Henry ihn ein wenig verzweifelt ansah. Dass er in einem Haus mit Zauberern wohnte, das war ihm klar und damit kam er klar, wenn er möglichst wenig daran dachte. Aber Drachen?
"Sag, ihr seid nicht wirklich Drachen, oder?" fragte er.
"Ihr nennt euch nur so?""Genau, wir nennen uns nur so", bestätigte Harry.
"Alles andere wäre zu lang oder zu kitschig."Und so stöberten sie den Rest des Tages in der Geschichte ihrer jeweiligen Heimatländer. Nach kürzester Zeit war Henry sprachlos vor Entsetzen. So viel Krieg und Gewalt, und Armut und Hungersnot noch dazu! Und Bomben gegen Zivilisten! In der komprimierten Zusammenfassung musste dies alles natürlich noch drastischer, noch erschreckender wirken, das war ihm klar, aber dennoch... Die Probleme, mit denen man sich in Irland schon zu seiner Zeit herumgeschlagen hatte, die waren offenbar in 415 Jahren nicht gelöst und vor ungefähr zehn Jahren dann auch bloß quasi unter den Teppich gekehrt worden. Neben sich hörte er Harry verzweifelt murmeln:
"Civil war, seriously? You'd think they'd figured out the first time around what a bad idea that was!"Abends waren sie blass und erschöpft und zu kaum einem klaren Gedanken fähig. Beide schworen sich jedoch, egal wie lange sie hier in Berlin bleiben würden, nicht weiter in der Vergangenheit zu stöbern.
Sima Qian[2]Harry und Henry blieben also im Haus der Familie Chang und ließen es sich, so weit möglich, gut gehen. Die Zeit verging, erst Tage, bald schon Wochen. Die beiden mieden die geschichtliche Abteilung der Bibliothek und machten auch nur wenige Ausflüge in die Stadt außerhalb des hohen Zaunes. Henry hätte eigentlich ganz darauf verzichten können, aber Harry drängte darauf, dass er hin und wieder "hier raus" musste, um seinen "Adrenalinspiegel wieder etwas runterzukriegen."
Ausnahmsweise bedurfte Henry keinerlei Erklärung, was das sei. In der Stadt schien der Freund regelrecht aufzuatmen, ging aufrecht, mit beschwingtem Schritt, während er im Hause Chang die ganze Zeit mit eingezogenem Kopf durch die Gänge schlich. Bei dem kleinsten Geräusch und bei jeder aus dem Augenwinkel wahrgenommenen Bewegung zuckte er zusammen, und mehr als ein männlicher Chang sollte ihm besser nicht auf einmal begegnen. Bei Frauen dagegen schien die Schmerzgrenze deutlich höher: erst vier oder fünf machten ihn nervös.
Und so lernten die beiden nach und nach die gesamte (sehr weitläufige) Familie kennen: zunächst in Dreiergruppen, dann paarweise, später traten auch Einzelpersonen an sie heran und suchten das Gespräch oder den sportlichen Wettbewerb. Offenbar wurde Harry nach und nach als immer "harmloser" eingestuft, bis man schließlich sogar den Kindern erlaubte, mit den Gästen zu spielen. Und die Kinder, die schienen für Harry nun gar kein Problem zu sein. Da konnten zehn oder mehr auf einmal auf ihn einstürmen und er lachte nur und balgte sich mit den Jungs (erstaunlich ruppig, aber ihnen gefiel es!) und packte die Mädchen an den Fußknöcheln und wirbelte sie im Kreis herum, bis sie jauchzten.
Henry wurde auch eingespannt und lernte binnen kürzester Zeit die wichtigsten Kommandos auf Deutsch, Chinesisch und auch in dieser etwas fauchig klingenden Sprache, in der Harry und die Kinder sich zu unterhalten schienen: "Schneller, schneller! und "Nochmal! Nochmal! oder auch: "Höher!" Und wenn die Mütter riefen, dann konnte das folgende Gebrabbel eigentlich nur heißen: "Aber Mama, ich hab doch noch gar keinen Hunger, ich muss noch gar nicht zum Mittagessen kommen!"
Überhaupt wurde es Henry und Harry in den ersten Wochen nicht langweilig. Henry war erst einmal froh, sich von den auf Sankturio erlittenen Strapazen erholen zu können. Das Kino probierte er gern und häufig aus, obwohl die ganzen Shakespeare "Filme" für seinen Geschmack äußerst befremdlich inszeniert waren. Aber die Texte waren wenigstens original. Er litt auch, Harry zuliebe, durch alle drei Star Wars Filme (welche dieser: "the original trilogy" nannte) und durch zwei Spider-Man Filme. Und als er nach anderthalb Wochen eine Rastlosigkeit in seinen Gliedern verspürte, nahm Henry das Kampftraining im Keller des Hauses auf, wozu er unter den Changs zu nahezu jeder Tages- und Nachtzeit willige Partner fand. Und weil Harry von sich aus keinerlei Anstalten machte, sich körperlich zu betätigen, stellte Henry entschlossen auch für ihn ein Trainingsprogramm zusammen und unterwies ihn eigenhändig in den Grundlagen des Stockkampfes.
"Wenn du schon so etwas mit dir herumträgst", wischte er Harrys Protest beiseite,
"solltest du auch wissen, wie man es richtig benutzt."In ihrer Tagesgestaltung waren die beiden also völlig frei, an den Abenden aber wurden sie im ganzen Haus herumgereicht, und zwar ordentlich der Reihe nach, vom 7. Stock Wohnung für Wohnung bis in den 1. Stock hinab, und nach 27 Abenden fing es wieder oben an. Es wurde reichlich aufgetischt: Speisen, die Henry noch nie gesehen hatte, von einer Vielfältigkeit, die er ebenfalls nicht kannte, und man durfte nicht mit den Fingern essen, sondern musste so komische Holzstäbchen benutzen. Die Kinder lachten, weil Henry und Harry sich damit so ungeschickt anstellten, und zeigten ihnen, wie es richtig ging. Nach dem Essen wurde geplaudert, meist bei Karten- oder Brettspielen, die so seltsame Namen trugen wie: Xiangqu, Mahjong, Weiqi oder aber Dou di zhu, Da Lao Er, Zheng Fen, Zheng Shangyou und Guan Dan.
Während der ersten 27 Tage hofften die beiden jeden Abend erneut, nun endlich diesem "Sima Qian" vorgestellt zu werden, doch dann waren sie einmal durch alle Wohnungen durch und hatten ihn noch nicht zu Gesicht bekommen.
Das mochte erklären, warum Harry allmählich unruhig wurde, denn anders als Henry erhoffte er sich tatsächlich noch Antworten auf das "Wie" und "Warum" ihrer Situation. Das konnte es aber nicht sein, was Henry
in der Seele rastlos machte. Zunächst lenkte er bei ihren Stadtgängen ihre Schritte immer häufiger in eine der protestantischen Kirchen, wo er das stille Gebet oder auch gelegentlich das Gespräch mit einem Pastor suchte—obwohl weder deren Englisch noch deren Latein flüssig genug war, um ein wirklich tiefgehendes Gespräch über den Glauben zu führen; im Ernst: da konnte man mit Harry besser reden, sowohl über den Glauben als auch auf Latein. Das taten sie dann auch öfters: letzteres zum Spaß, ersteres, weil es Henry ein echtes Bedürfnis war. Dabei stellte sich heraus, dass Harry nur die gröbste Vorstellung davon besaß, wofür der christliche Glaube überhaupt stand, und dass er nicht einmal das Neue Testament "ganz durchbekommen" hat, während er beim Alten Testament gar schon "im ersten Drittel stecken geblieben" war.
"Das letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass Pharaoh einen Traum hatte von sieben hübschen, fetten Kühen, die aus dem Nil auftauchten und Gras fraßen. Dann tauchten sieben hässliche, magere Kühe auf und fraßen die hübschen, fetten. Dann wachte Pharaoh auf.""Genesis 41", sagte Henry und verdrehte die Augen.
"Das heißt bei dir: das erste Drittel?""Ich stecke noch im ersten Drittel, habe ich ja nur behauptet", verteidigte Harry sich ohne Anzeichen von Reue.
Also ordnete Henry eine allmorgendliche Bibellesung an. Die Begierigkeit, mit der Harry zustimmte und auch Henrys Erläuterungen lauschte und danach von sich aus das Gespräch suchte, versöhnte diesen wieder mit dem Unwissen und heidnischen Vorstellungen des Freundes—offenbar war bei ihm Hopfen und Malz noch nicht gänzlich verloren. Zudem linderten diese Gespräche auch die Rastlosigkeit, die Henry ergriffen hatte, obwohl es sie nicht heilte. Besonders abends, wenn er schon im Bett lag und auf den Schlaf wartete, spürte er, dass ihn etwas weiterzog, dass er es hier nicht mehr lange würde aushalten können...
Henry war dabei nicht der einzige, der sich um Harrys Seelenheil Gedanken machte. Auch verschiedene Mitglieder der Familie Chang verwickelten letzteren immer wieder in Gespräche über den richtigen Einsatz von Magie zum Wohle der Gesellschaft und zum Schutz von Recht und Ordnung. (Eigentlich waren es mehr Predigten denn Gespräche.) Wenn sich diese zu lange hinzogen, konnte Harry ungehalten, bissig oder gar richtig laut werden.
"Ich brauch echt von euch keine Nachhilfe in Sachen Moral. Dankeschön, aber soviel krieg ich ganz allein hin, egal wie rot mein Blut ist!"Die Changs ließen sich keinesfalls beirren, und als sie Harry fragten, wie es denn mit "Nachhilfe in Sachen Magie" stünde, lehnte er nicht ab.
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Und so blieb Henry am nächsten Vormittag nach der Bibellesung, und so ganz ohne abschließendes Gespräch, allein in der Bibliothek zurück und wusste nicht so recht, was mit sich anfangen. Er las noch ein wenig weiter, aber fand keine Ruhe. Da kam ihm die Idee, dass er sich doch einmal über Zauberer, "Drachen" und diese ganzen magischen Belange ein wenig schlau machen könnte. Ja, eigentlich schuldete er es Harry inzwischen sogar, allein schon um zu verstehen, weshalb dieser glaubte, sein Familienerbe allein nähme ihn vom christlichen Heilsversprechen aus. Henry trat also an die riesige Drachenstatue in der Mitte der Bibliothek heran und fragte, unter der Verwendung der Anrede:
"Your Resplendence", wo er Abhandlungen für den Anfänger fände, die über gute und schlechte Magie aufklärten, sowie über die beiden Drachenfamilien und deren Fehde.
[3]Henry wartete eine ganze Weile auf Antwort, doch die Statue regte sich nicht und sagte auch nichts, obwohl er das Gefühl hatte, auch wenn die Rubinaugen nicht aufleuchteten, dass sie ihn
ansahen.
"Was ist?" fragte er herausfordernd.
"Habt Ihr etwas zu verbergen? Oder warum darf ein Nichtzauberer wie ich Eure geheimen Bücher nicht lesen?"Die Drachenstatue blieb stumm.
Enttäuscht wandte Henry sich zum Ausgang. Er hatte die Türklinke schon in der Hand, da hielt ihn eine aufgeregte Greisenstimme auf.
"Verzeiht, ich kam nicht umhin", krächzte der Alte atemlos; offenbar war er Henry ein ganzes Stück nachgeeilt,
"mitanzuhören, dass Ihr Fragen über Magie und über uns Drachen habt. Nun, die wenigsten Bücher in unserer Bibliothek zu dem Thema sind auf Englisch—bei Latein könnten wir etwas mehr Glück haben, aber das wären dann doch sehr veraltete, teils auch sehr fehlgeleitete Werke. Südeuropa und Teile von Nordafrika standen bis vor wenigen Jahren unter dem Einfluss der Roten, und niemand kann die Wahrheit so herrlich verdrehen wie diese Burschen! Die einzig verlässlichen Werke sind entweder auf Chinesisch oder Drakonisch, deshalb konnten wir Euch nicht weiterhelfen. Aber ich antworte gern direkt auf Eure Fragen."Der alte Mann schien von allen Bewohnern dieses Hauses, soweit Henry das beurteilen konnte, der einzige echte Chinese zu sein. Klein und drahtig, in bodenlangen, mit Schriftzeichen bestickten Seidenroben und runder Kappe auf dem Kopf, mit dünnen weißem Schnurrbart und weißem Zopf, mit Schlitzaugen, Lächeln, und höflich-bescheidener Körperhaltung.
"Wollen wir uns setzen?" fragte der alte Chinese und zeigte einladend auf die nächstgelegene Pultgruppe.
Als sich der alte Mann drei Stunden später erhob und mit Bedauern verabschiedete, hätte Henry nicht sagen können, über was sie alles gesprochen hatten. Das heißt, er selbst hatte zunäch nur sprachlos zugehört. Was der alte Mann alles zu erzählen hatte! Aus China hatte er berichtet, nicht dem modernen, sondern dem alten China, noch vor christlicher Zeitrechnung. Er hatte so lebendig davon erzählt, dass Henry sich fast dorthin versetzt gefühlt hatte, obwohl er doch so gar nichts darüber wusste. Dann hatten sie über Recht und Ordnung, Gerechtigkeit und Strafe, über Sünde und Versuchung, Reue und Vergebung, über Tugend und Ehre, und, und, und... gesprochen. Und obwohl Henry sich in diesem Gespräch tapfer schlug, fiel ihm manchmal die Kinnlade herunter oder seine Augen weiteten sich vor Entzücken. In seinem ganzen Leben war ihm noch kein so gelehrter und dabei so
weiser Mann begegnet. Für jede halbe Stunde ihres Gespräches würde Henry nun eine ganze nachdenken müssen, um auch nur halbwegs die Bedeutung und Tragweite von dessen Aussagen zu erfassen.
Am nächsten Vormittag, kaum dass Harry sich in seine "Nachhilfe" verabschiedet hatte, setzte sich der alte Chinese wieder zu Henry. Diesmal sprachen sie über die verschiedenen Arten von Magie.
"Zu meiner Zeit galt Magie entweder als schwarz oder als weiß", sagte er.
"Weiß, wenn sie heilsam, beschützend oder stärkend war; schwarz, wenn sie schädigte, verseuchte oder versklavte. Heutzutage schreckt man ja vor solch klaren Unterscheidungen zurück, redet gerne von 'Grautönen.' Papperlapapp! sag ich. Wenn man einmal damit anfängt! Dann wird aus grau schnell dunkelgrau, und aus dunkelgrau ist noch schneller schwarz geworden! Euer Freund ist auch so jemand, der sich auf der sicheren Seite fühlt, solange er nur hin und wieder mal einen grauen Zauber wirkt, für einen guten Zweck, wo's doch nicht anders geht! Aber Magie hat ihren eigenen Kopf. Magie ist wie ein lebendiges Wesen und, wie alle Lebewesen, gierig. Wenn es an einer Sache Geschmack findet, will es immer mehr davon. Zuviel Grau verdichet sich zu schwarz. Er soll sich nur vorsehen, Euer Freund!"Am dritten Tag sprachen sie dann über Geschichtsschreibung und die doppelte Verantwortung eines Historikers und welche davon größer sei: die gegenüber seinen Zeitgenossen oder die gegenüber der Nachwelt. Am vierten Tag, als Henry schon allmählich den Verdacht gewann, der alte Mann ginge dem Thema aus dem Weg, sprachen sie endlich über Drachen.
Doch wenn Henry sich neue Erkenntnisse oder Einsichten erhofft hatte, so enttäuschte der alte Chinese ihn zum ersten Mal—vielleicht verständlicherweise. Er war schließlich kein neutraler Beobachter, sondern selbst ein goldener "Drache". Da durfte es nicht verwundern, dass er die Schuld an ihrer jahrtausendalten Fehde eindeutig auf Seite der Roten sah. Mehr noch: er beschuldigte die Roten, sich seit eh und je jeglicher Mittel zu bedienen, um zu Macht und Reichtum zu gelangen, von allen nur denkbaren Arten des Verbrechens bis hin zu schwarzer Magie.
An dieser Stelle musste Henry an seine Begegnung mit Harrys "Auntie Trish" denken und was dieser über sie gesagt hat: größenwahnsinnig vielleicht...
"Ich habe doch keine Lust mehr, über Drachen zu reden", sagte Henry.
"Und überhaupt seid Ihr mir bei all dem viel zu schnell dabei, Harrys Seite zu verteufeln und die Eure in den Himmel zu loben. Ich habe ihn noch nichts Böses tun sehen, und Euch noch nichts Gutes."Vielleicht wegen dieser Worte kamen sie am fünften Tag auf das Christentum zu sprechen. Der alte Chinese kannte sich auch hiermit erstaunlich gut aus.
"Als ich mich in meinen besten Jahren befand—heute sagt man 'midlife crisis' dazu—packte mich die Reiselust. Ich verließ China und bereiste die ganze Welt, darunter Rom, Griechenland, Kleinasien und das, was später das heilige Land genannt werden sollte." Und er berichtete auf dieselbe lebendige Art wie zuvor von China von seinen Reisen am Mittelmeer.
"Eine ganze Zeit lang bin ich einem Wanderprediger und dessen Anhängern gefolgt", näherte er sich schließlich dem Ende seiner Erzählung.
"Nicht wegen der Predigten, zumindest nicht vordringlich, sondern weil es mich fasziniert hat, wie er seine Mitmenschen mit einfachen Worten so begeistern konnte, wie er es tat—als trüge er das Licht des Göttlichen in seinem Herzen. Und egal, wie sehr er mancherorts verspottet, bedroht, eingesperrt, sogar ausgepeitscht wurde, er ließ nicht ab von seinem Tun, nein, dies alles bestärkte ihn nur darin. Er fühlte sich geheiligt durch sein Leid, dem Heiland näher. Manchmal gewann ich den Eindruck, dass es zwischen den Predigern in dieser Hinsicht eine Art Wettbewerb gab; er jedenfalls führte ganz genau Buch. Es war aber auch irgendwie beeindruckend. Seine Zuhörer hat es ganz sicher beeindruckt: das muss ja eine wichtige Botschaft sein, wenn ein Mann so viel Schmerz und Unbill auf sich nimmt, um sie zu verbreiten!"Es folgten ein halbes Dutzend Episoden von dieser Reise im Gefolge des Prediger—spannend, ja!—doch Henry musste sich immer öfter wundern, warum zum Beispiel die Römer immer wieder auftauchten und überhaupt alles so... altertümlich klang, sogar mit der Zeit daheim in Irland verglichen. Dass tatsächlich etwas gänzlich faul an der Sache war, bemerkte er mit Gewissheit aber erst nach einer Stunde, als der Alte nämlich fortfuhr:
"Ja, und dann wollte der Prediger unbedingt in Jerusalem in den Tempel, obwohl er wusste, dass er den Leuten dort längst als Ungläubiger galt und das Betreten des Tempels einem solchen bei Todesstrafe verboten war... Ja, was soll man dazu sagen. Den Mund fusselig hab ich mir geredet, um ihn davon abzubringen. Natürlich kam es, wie es komme musste. Flucht vor der aufgebrachten Menge, Gefangenschaft, zwei Jahre später Überstellung an ein Gericht in Rom, auf eigenen Wunsch... Na ja, ich habe das ganze Trauerspiel nicht so genau weiterverfolgt. Zu der Zeit wusste ich noch nicht, was es eigentlich war, das ich da bezeugte. Die Tragweite! Wer hätte ahnen können, dass vor meinen Augen eine Kirche geboren wurde, die zweitausend Jahre später noch bestehen würde! Keine schlechte Leistung, für euch Menschen..."Henry starrte den alten Chinesen entsetzt an.
Will der mich auf den Arm nehmen oder ist er senil?"Weder noch", erwiderte der Chinese lächelnd.
"Ich sagte doch, dass ich die Reise meiner midlife crisis schuldete, und inzwischen geht es doch allmählich auf mein Ende zu. Aber verzeiht die Unterbrechung, man wünscht mich zu sprechen."Offenbar schon seit längerer Zeit wartete ein junger Mann aus der Famile Chang in höflichem Abstand darauf, dass sie ihr Gespräch unterbrachen. Henry erkannte den Polizisten, der beim Kampf am Fluss verletzt worden war: Wen-Hao, Jiang-Lis kleinen Bruder. Als der Alte sich ihm zuwandte, sagte Wen-Hao etwas auf Chinesisch.
"Wie unhöflich!" schalt ihn der Alte.
"In einer Sprache zu reden, die der Gast nicht versteht!""Verzeiht", sagte Wen-Hao mit einer Verbeugung in Richtung Henry, dann wandte er sich wieder an den Alten.
"Sima Qian, ich wurde geschickt Euch zu sagen, dass oben alles vorbereitet ist. Der Rote ist auch schon da. Alle warten gespannt darauf, dass Ihr ihn Euch vorknöpft.""Dass ich ihm eine Audienz gewähre", korrigierte Sima Qian.
"Er hat darum gebeten." Auch er verneigte sich vor Henry.
"Ich muss unser Gespräch heute leider etwas früher beenden. Ich hoffe, Ihr verzeiht." Dann erhob er sich und folgte Wen-Hao aus der Bibliothek hinaus.
Auf halbem Weg zur Tür hielt er noch einmal inne und drehte sich zu Henry um, welcher ihm besorgt gefolgt war.
"Fürchtet nicht um Euren Freund. Er wird meine Gemächer unversehrt und im schlimmsten Fall ein wenig klüger und einsichtiger wieder verlassen." Sima Qian lächelte. Er hatte noch alle Zähne im Mund, fiel Henry auf. Erstaunlich für einen Mann, der aussah, als habe er die Hundert überschritten.
Selbst bereits an der Tür, musste Henry noch einmal umkehren, um seine Bibel zu holen, die er auf dem Pult vergessen hatte. Als er sich dann wieder zum Gehen wandte, fiel ihm auf, dass die Drachenstatue, die am Morgen noch ganz normal auf ihrem Platz in der Mitte der Bibliothek gestanden war, jetzt plötzlich fehlte.
Harrys Audienz dauerte den ganzen Tag und die ganze Nacht. Harry machte kaum ein Auge zu. Das lag nur zum Teil an seiner Sorge um Harry, zum anderen Teil an den fürchterlichen Geräuschen im Stockwerk über ihm. Da schabte ständig etwas über den Boden, wie gewaltige Krallen über Stein; dann ertönte immer wieder ein fürchterliches Brüllen, einem wilden Tier ähnlich; dann tat es einen gewaltigen Rumps; dann klatschte etwas so laut wie hundert Peitschen, die gleichzeitig ihr Ziel fanden. Dann war es plötzlich still, und diese Stille war noch unerträglicher, weil Henry nicht aufhören konnte, das nächste Geräusch zu erwarten... Schließlich nahm er seine Decke und ein Kissen und legte sich drei Stockwerke tiefer in die Bibliothek, wo es mehrere Sofas gab.
Dort fand Harry ihn dann am nächsten Morgen, pünktlich zu ihrer nächsten Lesung. Er sah müde aus und war noch etwas schreckhafter als in den letzten Wochen, aber durchaus vergnügt.
"Nicht, dass Sima Qian hätte sagen können, was mit uns los ist", fiel er gleich mit der Tür ins Haus.
"Er ist sich nur sicher, dass zu seinen Lebzeiten und auf den sieben oder acht Welten, die er bereist hat, so etwas noch nicht vorgekommen ist.""Warum bist du dann so fröhlich?" fragte Henry, obwohl fröhlich es nicht ganz traf. Der Freund konnte kaum still sitzen, weil das Erlebte ihn so erregt hatte, so beeindruckt offenbar.
"Du hättest ihn sehen müssen!" sprudelte Harry da auch schon heraus.
"Your Resplendence ist nicht übertrieben, glaub mir! I was scared shitless the whole time but what a sight! Außerdem wissen wir jetzt immerhin, dass so etwas in den letzten viertausend Jahren hier und in der 'näheren Umgebung' nicht vorgekommen ist, das ist doch schon einmal ein Ansatzpunkt, wenn auch kein sehr beruhigender. Übrigens, er hat mir gesagt, ich müsse mich bei dir bedanken, dass ich die Audienz überhaupt bekommen habe, und vor allem dafür, dass er mich nicht zum Frühstück verspeist hat. Ich verstehe nicht ganz, was er meint... hast du schon mit ihm gesprochen? Warum hast du mir das nicht gesagt? Na, sei's drum. Ich soll dir noch was sagen. Moment, ich war zu aufgeregt, um mir's zu merken, deshalb hab ich's aufgeschrieben..."Ein Griff in seine Hosentasche förderte ein zerknittertes Papier zutage. Er drückte es auf seinen Bauch und versuchte es ein wenig zu glätten, bevor er es Henry überreichte. Dieser las darauf, in krakeliger Handschrift:
"So when I could not see for the glory of that light, I was led by the hand of them that were with me."[4]Henry erkannte sofort, dass dies ein Zitat aus der Apostelgeschichte war, genauer der Augenblick gleich nach Paulus' Berufung zum 13. Apostel,
[5] aber was wollte Sima Qian ihm damit bedeuten? Er blickte Harry entgeistert an.
"Ja, genau so habe ich ihn auch angeschaut. Aber warte, das zweite, was ich dir sagen sollte, hat er mich nicht aufschreiben lassen, weil du es unbedingt aus meinem Mund hören müsstest. Also, er habe weder das Licht gesehen noch die Stimme gehört, aber zwei der Hände seien die seinen gewesen. Um dich aber mache er sich gar keine Sorgen, denn du hättest das Licht gesehen und die Stimme gehört, und solltest du je vor lauter Erkenntnis geblendet oder umgekehrt in den schwärzesten Abgründen der Verzweiflung verloren sein, so würden die Hände, die du dir für deine Seite auserwählt hättest, dich ebenso treu führen wie er ihn geführt habe. Davon sei er nunmehr überzeugt."Harry versuchte nachdenklich dreinzublicken, was ihm nicht gelang, und so zuckte er mit den Achseln.
"Beeindruckend ist der Alte ja, aber ein wenig wirr. Wer wäre das nicht im Alter von viertausend! Oder hast du etwa eine Ahnung, was er mit all dem meint?"Das hatte Henry in der Tat. Nachdem Sima Qian zuvor doch so sehr davon überzeugt gewesen war, dass 'rote Drachen' im allgemeinen und Harry im besonderen der Dunkelheit näher stünden als dem Licht, dem Verbrechen und der schwarzen Magie näher als allem, was gut und richtig ist, schien der alte Chinese Henry nun zuzugestehen, dass er sich seinen Freund und Weggefährten doch richtig ausgesucht habe, dass Harry offenbar doch jemand sei, auf den man sich in der Not verlassen könne.
Wenn man da von 'auserwählen' sprechen kann! dachte Henry schmunzelnd.
Mir käme ja ein ganz anderes Zitat in den Sinn, um bei Paulus zu bleiben: 'And lest I should be exalted out of measure through the aboundance of revelations, there was given unto me a pricke in the flesh, the messenger of Satan to buffet mee, because I should not be exalted out of measure.'[6] Wenn Harry nur seine Magie aufgeben könnte! Aber in der Hinsicht verspürt er ja nicht die geringste Reue. Sein Herz hat er ja auf dem rechten Fleck, aber um die Wahrheit zu sehen, ist er zu eigensinnig. Und doch, so wie wir uns getroffen haben, möchte man von Vorhersehung sprechen."Auch keine, huh?" sagte Harry.
"Das dacht' ich mir. Wenn die Goldenen eins mögen, dann sind es Wortspiele und Rätsel, die niemand außer ihnen versteht."Henry lächelte nur und schlug Harry kameradschaftlich auf die Schulter. Den Zettel aber steckte er ein.
Die kürzeste Verbindung zwischen zwei PunktenAm nächsten Morgen war Harry derjenige, der in der Bibliothek aufwachte, nur dass er nicht bequem auf einem Sofa lag, sondern an einem der Pulte eingeschlafen war. Komisch. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, gestern abend noch die Bibliothek aufgesucht zu haben. Im Gegenteil, er und Henry hatten ein wenig gepichelt und waren dann bleischwer in die Federn gefallen.
Vor sich ausgebreitet fand Harry drei aufgeschlagene Wälzer und einen Haufen Papierzettel, die mit unverständlichen Berechnungen vollgekritzelt waren. Die Zettel mussten aus einem der Bücher gefallen sein, denn Harrys Handschrift war das nicht, geschweige denn, dass er eine einzige Zeile davon kapierte. Auch die Bücher waren in ihm unverständlichen Sprachen verfasst. Chinesisch und was war das, Russisch? Das hier jedenfalls war Altgriechisch, da konnte Harry wenigstens die Schrift lesen und verstand auch ein paar Brocken. Großvater Mortimer hatte immer wieder versucht, Harry dazu zu bewegen, diese Sprache zu lernen, von wegen seiner Wurzeln und der Familientradition. Vielleicht hätte der gute Mann sich noch durchgesetzt, wenn er nicht so früh gestorben wäre.
Harry blätterte ein wenig in den Büchern, ob es dort Bilder gab, die auf ein Thema deuten würden, aber nur in dem altgriechischen Text fand er einige Zeichnungen. Diese bestanden aus einer Unzahl überlappender Kreise und Kringel und waren genauso unverständlich wie alles andere. Unter einer von ihnen entzifferte Harry die Worte "planetare Konstellation"—oder hieß das "planare Konstellation"? Unter der nächsten Zeichnung stand dann der Text:"Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten berechnet man, indem..."
Schnaubend klappte Harry das Buch zu. Ein mathematisches Lehrwerk für Anfänger! Er gähnte. Dann fiel sein Blick auf die Armbanduhr. Was, es war erst 5 Uhr 57? Verflucht, das kommt davon, wenn man in der Bibliothek einschläft, in der Nähe der großen Fenster, hinter denen sommerfrüh die Sonne aufgeht. Harry ließ kurzerhand alles liegen und stehen und schlurfte zurück in sein Zimmer und sein Bett.
Als er das nächste Mal aufwachte, lag er aber nicht in seinem Bett. Er war auch nicht wieder über einem Pult zusammengesunken. Er lag auf dem staubigem Boden einer ungepflasterten Landstraße—komplett angezogen, obwohl er hätte schwören können, dass er sich noch ausgezogen hatte—und neben ihm regte Henry sich, ebenso verdutzt und zudem in voller Rüstung, die wenigen Habseligkeiten zu einem Bündel verschnürt als Stütze unter dem Kopf.