21. Mai 2015, 11:00 Uhr vormittags.
Der Himmel war leicht bewölkt, doch ansonsten hätte das Wetter nicht besser sein können. Die meiste Zeit über schien die Sonne, nur gelegentlich war sie kurz verdeckt. Es waren rund zwanzig Grad Celcius, die durch eine leichte Brise aufgefrischt wurden. Der unendlich wirkende Ozean - egal wohin man sich wendete, er reichte bis zum Horizont - war ruhig, fast gemächlich.
Wenn Duncan die Augen schloss, erinnerte ihn außer dem salzigen Geruch in der Luft kaum etwas daran, dass er sich mitten im Pazifik befand, hunderte Kilometer entfernt vom nächstgelegenen Land - den Norfolkinseln, die ihrerseits fernab von allen größeren Landmassen lagen. Fast fühlte es sich an, als würde man auf einer Strandpromenade in irgendeiner schicken Touristenstadt entlang gehen. Zwei junge Frauen in Bikinis, Cocktails in der Hand, liefen fröhlich lachend an ihm vorbei, eine der beiden - die Blonde - zwinkerte ihm keck zu.
Der ganze Komplex, hatte er wenig interessiert in den Hochglanz-Flyern gelesen, war dem Aufbau einer riesigen tropischen Lilie nachempfunden. Die weißen Brücken, auf denen sich draußen das Leben abspielen sollte und die im Zentrum des Komplexes aufeinandertrafen und dort einen großen Platz bildeten, ähnelten den Strukturen innerhalb der Blütenblätter. Der Boden war aus einem Material, das scheinbar nie dreckig wurde: Obwohl bereits die meisten Gäste vor Ort waren, viele Leute herumliefen und auch mal - absichtlich oder versehentlich - etwas fallen ließen, blieb der Boden strahlend weiß. Und für größere Sauereien war das Putzpersonal jederzeit in der Nähe.
Er hatte sich, pflichtbewusst wie er war, genau im Komplex umgesehen. Es gab dezent in Zivil gekleidetes Sicherheitspersonal, an allen öffentlichen Orten gut versteckte Kameras, Lautsprecher für Notfälle, und die Apartments waren mit modernster Sicherheitstechnik versehen, um Einbrüche zu verhindern. Auch, wenn ein Einbrecher nicht einfach fliehen konnte: Auf dem Tantalum-Komplex war Platz für immerhin fast 50.000 Menschen, da machten solche Maßnahmen schon Sinn.
Ein Kamerateam - eine dunkelhaarige Reporterin in den Mittzwanzigern, ein junger Kerl mit Mikrofon und ein mit seiner Ausrüstung überforderter etwas älterer Typ mit einer großen, tragbaren Kamera - beeilte sich, an ihm vorbeizukommen. "Macht schon, schneller, ich bin mir sicher, das war die Jolie!" trieb die junge Frau ihre Kollegen an, ohne Duncan auch nur eines Blickes zu würdigen.
Es war ein seltsam gemischtes Publikum: Stars und Sternchen, die ins Rampenlicht wollten, sensationshungrige Reporter, reiche Touristen, und mitten in diesem Trubel zurückhaltende Wissenschaftler, die eigentlich nur in Ruhe ihre Arbeit machen wollten. Letztere traf man vor allem in den Innenbereichen des Komplexes an, nur wenige ließen sich längere Zeit draußen blicken. Sein Auftraggeber würde es vermutlich ähnlich handhaben.
"Duncan? Duncan Buchanan?"
Er wusste die Stimme hinter ihm nicht gleich einzuordnen. Ein Asiate, so viel hörte er heraus, aber trotzdem musste er spontan an Afrika denken... er drehte sich um, und dann erkannte er ihn. Baihu Zhang, ein ehemaliger Mitarbeiter von Hiisi Industries. Er war im Grunde fast ein Klischee-Asiate, sah man davon ab, dass er sich als Söldner hatte engagieren lassen: Klein (gute zwei Köpfe kleiner als Duncan), drahtig, und ein herausragender Kampfsportler. Duncan erinnerte sich, wie Baihu ihm bei einem Hinterhalt in Zentralafrika das Leben gerettet hatte, indem er in kaum mehr als fünf Sekunden mit gezielten Tritten vier bewaffnete Islamisten ausgeschaltet hatte.
Baihu hatte allerdings früher den Absprung geschafft als Duncan. Nach Afrika hatte er den Dienst quittiert. "Ich gehe zurück nach Hause. Das hier ist nichts für mich, nicht in dieser Form. Ich melde mich daheim beim Militär." Und seitdem hatte Duncan nichts mehr von ihm gehört.
Aber jetzt stand er dort, in einem schicken asiatischen Anzug, ganz in schwarz, das kurze schwarze Haar zu einem strengen Scheitel gekämmt. "Du bist es, oder? Was hat dich denn hierher verschlagen?"