Kurz vor dem Aufsetzen der MaskeAls Nebulo zu ihrem alten Körper schritt – als sie kurz darauf ihre Maske von Linas Leichnam zog, hatte Hesper die Gewißheit, daß seine Vermutung richtig gewesen war –, fiel dem Kleriker ein winziger Gegenstand vor seinen Füßen auf, den er aufhob und wieder in eine seiner Gürteltaschen steckte.
Am übernächsten Morgen, Mitte Nachtal im Jahr des Aufstiegs des Elfenvolkes (1375 TZ)Hesper saß nachdenklich über einer Frühstückspfanne mit Rühreiern und Speck in der Taverne „Schild und Feste“ im Städtchen Hochburg im Hochtal.
[1] Er nahm einen guten Schluck aus einem Becher mit dampfender Milch und biß herzhaft in eine Scheibe Schmalzbrot. Sein Bärenhunger hielt immer noch an, seit er am vorigen Morgen im Schlafsaal eines götterverlassenen Dorfgasthauses in den südöstlichen Ausläufern der Donnergipfel einige Meilen westlich von Saerb aufgewacht war.
Der hauptsächliche Grund für seine Nachdenklichkeit war die Tatsache, daß er sich so gut wie gar nicht mehr an die letzten Monde erinnern konnte – der Kleriker war schockiert gewesen, als er gemerkt hatte, daß es Winter und nicht mehr Sommer war! Er hatte nämlich noch eine klare, schmerzhafte Erinnerung an seine Gefangennahme im Mond Eleint durch die Schergen der Umbravar nach seiner letzten, törichten Aktion als Teil des Untergrunds, aber über die Zeit seitdem schien sich ein Schatten gelegt zu haben. Hesper konnte es sich nur so erklären, daß er in der Gefangenschaft schwer mißhandelt worden war, vielleicht war sein Geist auch durch die Magie der Umbravar gefoltert und in Mitleidenschaft gezogen worden, er hatte von solchen Fällen schon im Untergrund gehört.
Offensichtlich war es ihm aber schließlich gelungen, zu fliehen, und war nun sogar bis an die Grenze Sembias gelangt. Daß er nicht nur alle seine vertrauten Besitztümer noch hatte – wenn auch zum Teil etwas arg abgenutzt –, sondern in seinem magischen Rucksack noch dazu einen prallen Beutel mit Gold- und Silbermünzen fand, erklärte er sich damit, daß er bei der Flucht Hilfe gehabt haben mußte. Nach einer langen Gebetsmeditation war er sich zudem zweier wichtiger Dinge bewußt geworden: Die egoistische Zeit der Verzweiflung, die ihn schließlich zu einem Gefangenen gemacht hatte, war vorbei – mit seinem verfrühten Tod konnte er Selûne nicht dienen –, und das einzige, das ihn nach seiner Flucht wirklich noch in Sembia hätte halten können, die Suche nach seinem verschollenen Freund Evendur, war vergebens – tief im Inneren spürte er, war er irgendwie überzeugt, daß der Deneirpriester nicht mehr lebte.
Davon betrübt, aber dennoch merkwürdig befreit hatte Hesper das Dorf und damit Sembia Richtung Westen verlassen, auf dem Donnerweg, der Straße nach Cormyr, die über den Hochtalpaß führte. Sein heiliges Symbol – die silberne Scheibe, in die das Symbol Selûnes eingraviert war – trug er nun offen; es gab keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Er hatte Glück, denn der Winter war noch mild, und erst nach einigen Stunden hatte er eine Höhe erreicht, auf der Schnee lag. Hier erwies sich die Magie, die er zuvor schon gewirkt hatte, um seine Schritte zu beschleunigen, als besonders hilfreich, und so konnte er, auch mit Hilfe eines Flugzaubers, gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit Hochburg erreichen, wo er im Gasthof „Adlerhorst“ (leider der einzigen Übernachtungsmöglichkeit zu dieser Jahreszeit, wie er im „Schild und Feste“ erfuhr, wo er sich wenigstens zwei Portionen Lammeintopf und das hervorragende selbstgebraute Ale schmecken ließ), ein Bett in einem kalten, schmutzigen Mehrbettzimmer fand. Das Frühstück ausschlagend wechselte er am Morgen sofort wieder in die Taverne, wo er jetzt saß, schlemmte und sich aufwärmte, was seine Stimmung nach und nach aufhellte.
Die Stimmung in Hochburg schien jedoch angespannt – seit Beginn des Bürgerkriegs und der Ankunft der Umbravar in Sembia hatte Cormyr seine Grenzen verstärkt, und laut den Gesprächen der Tavernengäste, die er von seiner gemütlichen, mit einem eigenen Kamin ausgestatteten Nische aus mitbekam, trieben sich in Hochtal, auf einem Paß zwischen den beiden Reichen gelegen, noch mehr Spione verschiedenster Mächte als früher herum – auch Hesper zog als Ortsfremder einige mißtrauische Blicke auf sich, wie er bald bemerkte.
So verging der Vormittag, und nachdem Hesper ein frühes Mittagessen verspeist hatte, gesellte sich der dicke Wirt zu ihm, mit dem er zuvor schon das eine oder andere Wort gewechselt hatte.
„Ihr seid sicher einer der Sanften, mein Lieber? Durch welche Teile Faerûns hat Euch Euer Pilgerweg geführt?“ fragte der Mann mit freundlicher Neugier. Schnell klärten sich seine rätselhaften Worte auf, da Hesper sich nun auch erinnerte, in welchem Zusammenhang er Hochtal kannte: Dort gab es ein abgelegenes kleines Tal, das bestimmten menschlichen und elfischen Gottheiten des Guten und der Natur geweiht war, und in dem sich eine heilige Stätte, Tanzplatz genannt, befand. Dorthin pilgernde Anhänger dieser Gottheiten, zu denen auch Selûne gehörte, wurden „die Sanften“ genannt. Hesper hatte noch zu seiner Novizenzeit einen Glaubensbruder getroffen, der den Ort besucht und sehr von seiner Schönheit und besonderen Aura geschwärmt hatte.
Beschwingt machte der Priester der Mondmaid sich dorthin auf – der Wirt konnte ihm den Weg zum Anfang des Pfades, der in das Tal führte, beschreiben –, und tatsächlich waren das Tal und der Tanzplatz selbst unvergleichliche Orte der natürlichen Schönheit und der Spiritualität. Von den Klerikern, die dort lebten, wurde er sehr freundlich empfangen, und er führte tagelang viele erfüllte Gespräche mit ihnen. Sie rieten ihm, eine Nacht im Freien auf dem Moos, das auf dem Tanzplatz, einer unbewaldeten Hügelkuppe, wuchs, zu verbringen, da dies die von den hier vertretenen Gottheiten gespendete Kraft hätte, Anhänger dieser nicht nur körperlich zu heilen, sondern sie auch von allen Verzauberungen zu befreien, die den Geist vernebeln. Vielleicht könne Hesper so sein Gedächtnis wiederherstellen? Nun, dies war am Morgen danach nicht der Fall, aber, wie es der zugehörige Brauch war, hatte Selûne ihrem Diener in einer nächtlichen Vision eine Aufgabe gestellt: Passend zu diesem Ort, der eine wichtige Rolle bei der Gründung der Harfner gespielt hatte, sollte er ausziehen, um diesem Bund beizutreten und auf diese Weise Selûnes Licht in der Welt zu verbreiten.
Zusammen mit einem jungen Priester des Deneir, der ebenfalls von seinem Gott mit einer Aufgabe betraut worden und dafür von seinem Zittern geheilt worden war, machte er sich Richtung Cormyr auf.
Als er bei der ersten Rast eine Nähnadel aus einer seiner Gürteltaschen holen wollte, um einen seiner Stiefel zu flicken, fand er dort zu seiner Überraschung einen ihm unbekannten Gegenstand: einen sechsseitigen Würfel. Wo der herkommen mochte? Hesper würde es bis kurz vor seinem Tod nie erfahren.