03. Zima - 49tes Jahr des Neubeginns - Yevgeni-und-Marija-Popowkowitsch-Park - Arbamanka - 19:37 Uhr
Der Mann in Weiß und Schwarz blickte Djirris lächelnd hinterher, als dieser dem Blick auswich und in der Menge zu verschwinden versuchte. Der aufmerksame Beobachter der Szene erkannte, wie sich zwei Elfen und zwei Ratlinge kurz in der Menge zusammenrotteten. Ihre Gemeinsamkeit lag in einer roten Schnur um das linke Handgelenk, die nur für einen Moment wahrlich erkennbar war. In jenem, in dem sie sich ihre jeweilige Zugehörigkeit zusicherten, ehe die Hände wieder in tiefen, stofflichen Taschen verschwanden
[1]. Für die Masse - jedoch nicht für Djirris - unauffällig setzten sie sich in Bewegung, als ein tiefes, merkwürdig langgezogenes Bellen der blinden Dogge die Männer innehalten ließ. Dschaba machte eine verneinende Handbewegung und blickte die Männer an, die sich in ihrer Gruppe auflösten und wieder in die Menge eintauchten. Dschaba blickte kurz in die immergrünen Bewuchs, in welchen der Ratling samt seines Stubentigers abgetaucht war, und lächelte aufmunternd.
Für die Unbeteiligten wirkte die Geste anders, auch aufgrund seiner folgenden Worte.
"Nur einer?"Den verachtungsvollen Blick konnte Dschaba nicht verbergen. Die Verachtung wich einer Form angeekelter Empörung, die ihn sein Weinglas abstellen ließ. Er blickte auffordernd in die Versammlung von Bürgern, Ausgebeuteten und sicher auch Flüchtlingen. Wie sie dort alle standen, gekleidet in ihren zerrissenen Kleidern, den ausgelatschten Galoschen, den entflochtenen Schals, in klirrender Kälte, bar jeder wirklicher Hoffnung, in ihrem verzweifelten Ansinnen, dass jemand ihnen, wenn schon kein besseres Leben, doch zumindest wieder dieses Gefühl von Hoffnung schenkte.
"Nur einer?", wiederholte Dschaba jetzt sanfter, versöhnlicher und rieb sich mit der rechten Hand über die Stirn und die Augen, vergrub sein Gesicht in denkender Pose für einige Sekunden in seiner Hand, und es blieb Sawelij alleine, der nach vorne trat und sich als Straßenköter bekannte.
Wieder ein langgezogenes, tiefes Bellen der Dogge, mit aufgestellten Ohren, als würde sie etwas bemerken, was niemand anderes bemerkte. Dschaba kraulte dem Tier die Ohren und blickte Sawelij an. Die Abscheu verließ seinen Blick und er wurde weich. Mit einem Nicken zeigte er seine Zustimmung.
"Wohl gesprochen, mein Freund. Dann seid ihr der eine." Er nickte dem Mann in Weste zu, der jetzt zum Ostzugang zum Park ging. Währenddessen war zu beobachten, dass die Dubina den Park verließen. Auffällig unauffällig versuchten sie ihre Posten zu verlassen, fast schon etwas zu ostentativ in ihrer bemühten (Un-)Auffälligkeit. Schwere Bewegungen, welche neue Stiefel mit schweren Sohlen erwarten ließen, und doch mit gesenktem Haupt und so langsamen Schrittes, als hätten sie nie gelernt, in schweren Stiefel die Füße abzurollen.
"Es gibt auch keinen Grund, sich nicht mit Kötern zu umgeben. Wir handeln nicht immer richtig, manchmal übernehmen Instinkt und Trieb unsere Handlung - wie es bei Tieren so der Fall ist - auch wenn die Engelsfreunde diese Worte nicht hören mögen. Aber Köter sind immer loyal. Und dein Mut, mein Freund, für alle hier sprechen zu wollen, will belohnt sein."Dschaba lachte leise.
"Dein Mut hat allen Besuchern unserer kleinen politischen Serenade eine Mahlzeit verschafft."Während Genosse Dschaba sich eine neue Zigarette anzündete, lenkte er seinen Blick in Richtung des Osttores, wieder dieses langgezogene Bellen der riesigen Dogge. Als erstes kam der Mann in der Weste in den Blick, dann war auf dem roten Pflasterstein das Rollen hölzerner, eisenbeschlagener Räder zu hören und etwas Rumpelndes. In den trüben Schein der Gaslaternen trat eine rumpelnde Gestalt hervor, sie zog einen mit Kisten beladenen Karren hinein. Verborgen unter einem großen, braunen Umhang, konnte dieser kaum verheimlichen, dass aufgeschichtete Pflastersteine, die grob eine humanoide, zwergengroße Gestalt darstellten, unter dem Umhang rumpelten und grollten. Das Wesen, sein Kopf wurde von einem breiten, gusseisernen, angerosteten Gullideckel gebildet
[2], schob den Wagen durch das Licht auf den Platz, und grollte in fremder, gutturaler Stimme, welche wie das Brechen und Schaben von Schiefer klang, gleichwohl in der Sprache der Herzlande, Inolisch.
"Brecht das Brot mit den Armen, und dann brecht den Reichen die Arme."Erschrockene Blicke aus den Reihen der Bewohner, doch auch vereinzelt ängstliche oder tatsächlich erheiterte Lacher. Dann begann das Wesen Kisten von dem Karren zu nehmen. Die erste Kiste brach es auf, im Lichtschein zum Vorschein kamen gerupfte und gewaschene, eng gepackte Hühnchen. Vielleicht mochten 100 Stück davon in der Kiste liegen.
Dschaba übernahm wieder das Wort.
"Unser neuen Straßenköter macht euch dieses Geschenk. Denn er übernimmt Verantwortung für euch, damit ihr eines Tages wieder Verantwortung für euch übernehmen könnt."Die Leute stürzten mit gierigen Blicken, die Worte Dschabas wahrnehmend und doch nicht ganz hörend, nach vorne, und geduldig nahm das Wesen aus Pflasterstein und Erde mit grober Faust einen Stapel Leinensäcke und befahl den Leuten, sich einzupacken. Er nahm von dem etwas windschiefen, beschädigten Karren
[3] weitere Kisten. Und binnen kurzer Zeit gesellte sich der Mann mit der Weste und dem Schnauzer dazu, verteilte die Säcke und gemeinsam mit dem unheimlichen Wesen, in dessen magischen Adern Mörtel und Unrat floss, verteilte er erst an jeden zwei Hühnchen, ein Viertel Käserad eines leicht überreifen Weißkäses, eine Kanne voll Milch und dann einen harten Laib Schwarzbrot.
Dies dauerte nur wenige Minuten, in denen Dschaba genüsslich seine Zigarette rauchte, nicht ohne auch Sawelij eine anzubieten. Die große, schwarze Dogge stand derweil auf und roch, schnüffelte, tastete an dem Elfen herum, jedoch ohne irgendwelche Anstalten von Unbehagen zu machen. Dann legte sie sich vor dem Elfen nieder. Dschaba beobachtete genüsslich das Schauspiel bis die Kisten schließlich leer waren. Das gefrorene Gras brach unter den Schritten der Hungrigen.
Dschaba nickte gefällig und deutete dem Mann mit dem Schnauzer und der Weste etwas mit dem Ringfinger und kleinen Finger. Dann erhob er wieder die Stimme.
"Keine großen Reden am heutigen Abend, aber volle Bäuche. Geht und ruht euch aus. Eure Kinder, eure Männer, eure Frauen, sie brauchen euch noch. Doch euer Straßenköter hier, er wird bleiben und mit mir reden. Und gemeinsam werden wir überlegen, wie wir euch so helfen können, dass ihr wieder Kraft dafür findet.
Wisst, dass ich verstehe, wie es ist. All der Kampf um zu überleben, und wie sollt ihr dann noch Kämpfen für mehr? Was ist, wenn die Fabrikanten euch erwischen und euch die Anstellung streichen? Wie sollen eure Kinder über den Winter kommen. Bei den Engeln. Es wird Winter und manche von uns werden sowieso verhungern. Soll ich meine Familie opfern, für die nur so kleine Aussicht auf Besserung? Soll ich sie im Stich lassen, obwohl so wenig Hoffnung ist? Und selbst wenn ich die Kraft besitze, wer kümmert sich, wenn ich im Kampf für die Freiheit und Gleichheit sterbe?" Seine Stimme klang bitter und selbst ermattet von dem Kampf. Zustimmendes Gemurmel folgte. Zurufe. Ja, wie sollten sie das alle tun?
"Es sind noch zwei Kisten auf dem Wagen. Fjodor wird sie euch abladen. Für jeden von euch werden Kohlen sein, damit ihr es zumindest heute Nacht warm habt. Schenkt euren Kindern, euren Frauen, euren Männern Wärme. Und betet für diesen Elfen. Merkt euch sein Gesicht, sein Antlitz, seine Wärme, seinen Mut. Er hat euch - auch wenn er es abstreiten wird - diesen Abend geschenkt. Er wird dort kämpfen, wo ihr es nicht könnt. Noch nicht könnt. Aber merkt euch den Tag, merkt euch, was euch geschah. Vielleicht kommt der Tag, an dem ihr zurückgeben könnt. Denkt an Yevgeni und Marija, doch denkt bei diesem Park fortan auch an Sawelij!" Und dann gingen die ersten, unsicheren Schrittes, beladen mit Kohlen und Nahrung, während das merkwürdige Ungetüm aus Schotter und Kies den Wagen aus dem Park schob. Als das Rumpeln verklungen war, waren schon einige Besucher eilig geflohen, in Sorge ihre Geschenke an Gauner und Hungrige zu verlieren. Doch viel mehr gingen auf Sawelij zu. Manche nahmen seine Hand in ihre durchfrorenen Hände, manche Frau küsste seine Hand, den Saum seiner Jacke, eine gar seinen Stiefel. Kerle schlugen ihm auf die Schulter. In den Augen eines dürren, humpelnden Tengus sah er verräterische Tränen, die er zu unterdrücken versuchte und der dann doch eine Umarmung der Dankbarkeit andeutete. Genosse Dschaba erlebte dasselbe. Duzende fanden keine Worte für ihr Glück oder ihre Dankbarkeit, drückten diese dann durch Handdrücken und ungewohnte, überfordernde, doch kurze und ehrliche Nähe aus. Ein älterer Mann jedoch, er war ein Mensch im Alter von mehr als sechzig Jahren, ausgezerrt mit struppigen Bart. Seine Haare waren auf dem Kopf zum Teil ausgefallen, nur kreisförmig standen sie um die Deckplatte des Schadels, langgewachsen und grau. Sein Blick war tränenreich und erschöpft. Seine ausgemergelte Gestalt in braunen, ausgetragenen Loden
[4] wankte auf Sawelij zu und hielt ihm am Arm und sprach glücklich.
"Du tust Großes, mein Genosse Sawelij. Wahrhaft Großes. Ich sehe an deinem Blick, du wirst nicht wissen, worauf du dich einlässt. Aber du tust Großes. Wir danken dir dafür." Dann humpelte der Mann dem Karren hinterher.
Der Platz war wenige Minuten später verlassen. Der Wein im Dekanter hatte durch seine Wärme das Glas des Dekanters erst beschlagen, bald würde es auch frieren. Dschaba rieb sich die Hände und stand auf, was ihm die große Dogge nachtat. Jetzt waren nur noch Sawelij, Dschaba und im Immergrün Djirris dort.
"Ich hoffe, Sawelij, du verzeihst mir, was ich gerade getan habe.", begann er und versuchte dem Elfen die Hand um die Schulter zu legen, um mit ihm in kumpelhafter Art ein paar Schritte durch den Park zu gehen, in Richtung der Statue.
"Du bist ein tapferer Mann. Ich sehe, in einem Wolfsrudel wärest du ein Alphatier. Ich sehe es an deinem Blick. Die meisten in dieser Stadt, sie überleben nur. Sie sind höchsten Deltatiere, diese unselige Stadt hat viele zu Omegatiere gemacht, die von den Fabrikanten, selbst bestenfalls Betatiere, schikaniert werden. Aber ich sehe in deinem Blick, du weißt bereits wie man überlebt. Du kannst darüber hinaussehen. Solche Leute braucht die Stadt. Leute, die etwas ändern können, weil sie nicht nur mit sich selbst beschäftigt sind. Und du hast jetzt etwa fünfzig Demjanowkern Hoffnung in deine Person gegeben. Und ich weiß, du wirst sie nicht enttäuschen. Und ich habe - vielleicht - einen Weg, wie wir das Ganze zusammen erreichen können. Mehr erreichen können als nur ein paar Bürger durch eine kalte Nacht zu bringen. Ich rede von Errettung. Einem messianischen Gedanken!"Dschaba nahm den Arm von der Schulter des Elfen, bewusst laut genug sprechend, dass Djirris jedes Wort mithören konnte, selbst wenn er im Rücken der beiden die Position änderte. Aus den Fenstern blickten immer noch einige Gestalten, auch aus den Schatten, in den Park und auf die Kommunizierenden.
Dschaba berührte die Statue mit der rechten Hand und Sawelij sah, wie kleine Fäden in weißer und roter Faden, kompliziert verwoben zu einem Sawelij unbekannten Muster in die Statue floß, welche langsam zu dampfen begann. Die gefrorene Wasser an ihr platzte oder lief herab, während es Dschaba kaum Anstrengung zu kosten schien. Fünf Sekunden dauerte dieses Schauspiel, und Dschaba lächelte
[5].
"Der Statue der Schwüre. Ein interessantes - das wohl interessanteste - Denkmal der Stadt, nicht wahr? Doch bevor wir dazu kommen, möchte ich mehr wissen.
Ich weiß, ich werde eine große Frage stellen. Eine vielleicht zu schwierige Frage. Aber ich möchte hören, zumindest ein, zwei Sätzen. Und dann reden wir drüber, okay?
Doch sag: was ist deine Vision für diese Stadt? Was ist Sawelijs Vision für ein besseres Leben?"Dschaba blickte interessiert zum Elfen und lächelte ein weißes, aufmunterndes Lächeln.