Als Freydis einen der Schreiber anspricht und auf Farbfehler seines Manuskriptes aufmerksam macht, hält dieser inne. Und nicht nur er, bemerkt Freydis hellhörig: alle sechs Federn im Raum hören abrupt auf, über Pergament zu kratzen. Gerade noch ist Freydis, ist die ganze Gruppe, außerordentlich beeindruckt von der Disziplin und dem Diensteifer der Schreiber gewesen, welche sich nicht einmal durch die lautstarke Auseinandersetzung wenige Schritt neben ihnen hatten irritieren lassen, jetzt lassen alle sechs sich durch die einfache Ansprache eines von ihnen ablenken; jetzt lauschen alle sechs mit geneigtem Kopf Freydis' Worten. Der Angesprochene schaut auf seine Arbeit, die anderen fünf zu den beiden herüber, dabei alle sechs mit der gleichen, ausdruckslosen Miene. Irgendwie hat Freydis nicht das Gefühl, dass der Mann neben ihr überhaupft versteht, was sie meint. Antworten tut er nicht.
Talahan versucht es derweil noch einmal mit Vernunft.
"Nun kommt schon! Wir sind jetzt unter uns. Ob Ihr's glaubt oder nicht, der junge Mann, der sich da schüchtern im Hintergrund hält, zitiert den Propheten so inbrünstig und wortgetreu, dass es uns beiden die Schamesröte ins Gesicht triebe, wollten wir versuchen, uns mit ihm darin zu messen. Also sagt endlich: was ist hier los? Wir sind gekommen, um zu helfen.""Uns helfen wollt ihr?" fragt Bruder Edgar. Wer ein bisschen Einbildungskraft besitzt, könnte meinen, er klingt überrascht, dabei ist's wohl nur die hochgezogene Augenbraue, die einen auf diese Idee bringt. (Ein Schauspieler, denkt Freydis abermals, doch seine nächsten Worte lassen sie schaudern. Ganz leise spricht er sie.)
"Uns helfen könnt ihr ganz leicht. Ob ihr es wollt ist eine andere Frage."Nach diesen Worte bückt er sich und öffnet eine Lade an seinem Schreibpult.
Während Aeryn in umgekehrter Richtung durch den Klostergarten huscht, fällt ihr zum ersten Mal auf, dass an einem der schmalen Fenster im zweiten Stock tatsächlich ein Späher lauert, der, kaum treffen sich ihre Blicke, mit einem raschen Schritt in die Obskurität zurückweicht. Im Skriptorium angelangt, drängen sich ihr drei Beobachtungen gleichzeitig auf: dass von den ihren nur noch Talahan, Tristan und Freydis anwesend sind; dass Freydis gerade—verbotenerweise!—einen der Schreiber über die Schulter weg anspricht; dass der Pilzgeruch wenige Augenblicke später (oder hat sie bloß nicht eher darauf geachtet) plötzlich an ihr hochbrandet, dass ihr fast übel davon wird. Ein einziger Schreckmoment ist ihr gegönnt, dann krachen Schemel, Manuskripte, Tintenfäßchen zu Boden, als die sechs Schreiber sich synchron erheben und ihre Pulte öffnen und hineingreifen.
Freydis, deren Augen an die Lichtverhältnisse im Skriptorium besser angepasst sind als Aeryns, erkennt noch vor der Elbin, was die Schreiber da aus ihren Pulten ziehen: Knüppel.
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Immer weiter in die Tiefe windet sich die Treppe, die Bruder Jarus Abdo und Lîf—und ohne sein Wissen auch Hjálmarr—hinunterführt und danach weiter, einen Gang entlang. Die Sinne der Gefährten sind aufs Äußerste angespannt. Das einzige Licht hält Bruder Jarus, der das letzte Öllicht am Fuße der Treppe aus der Halterung genommen hat; Hjálmarr kommt nur tastend und lauschend voran.
Sie alle hören: mehr Schritte, als sie Personen um sich wissen. Mindestens drei Paar schleichende Schritte wähnen der Ya'Keheter und die junge drudkvinde hinter sich; Hjálmarr dagegen so ein oder zwei Paar vor sich. (Genau drei, denkt sich Abdo, doch zwei davon schleichen derart im Takt miteinander, dass es fast wie eine Person klingt. Der dritte Schleichter dagegen tut sich schwer: sein Rhythmus ist unregelmäßig, mal hält er zögernd inne, mal eilt er voran, um aufzuholen, mal stolpert er. Die anderen zwei stolpern nicht und zögern nicht.) Kurz nachdem (bzw. bevor) man einen Seitengang passiert hat, haben diese zwei sich zu den eigenen Schritten dazugesellt und begleiten sie nun getreu, trotz etlicher Türen und zwei weiteren Abzweige, bis der Gang schließlich immer abschüssiger und unebener wird. Längst besteht der Boden nicht mehr aus Steinfliesen, sondern aus nacktem Fels. Die Luft wird immer schwerer, immer feuchter; feucht sind auch die Wände. Gemauert, ja, noch sind sie es—doch wie lange noch? Die Decke ist es nicht mehr: Fels oder Erdreich, von massigen hölzernen Querstreben gestützt.
Weit vor ihnen ertönt ein Glucksen und Plätschern.